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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Reisebriefe

rungen. jeder mit anderem Hassen und Lieben. Aber diese Stadt ist indifferent
gegen alles, was wie eine Reminiszenz nationaler und persönlicher Eigenart
aussieht: die erste Generation der Einwanderer mag noch ein Fünkchen von dem
bewahren, was sie an diesen Dingen herüberbrachte. Die zweite aber hat sicher
alles vergessen, spricht, denkt und sieht aus, wie alles hier: amerikanisch.

Ohne Zweifel, Stil hat auch dieses Leben. Denselben imponierender, sach¬
lichen Stil, wie die Architektur der aus Notwendigkeit und Proportionensinn
geschaffenen Turmhäuser, die freilich mehr Wohnmaschinen als Wohnungen sind.
Dieser Stil ist das bewußte feindliche Verharren des Individuellen nicht nur,
sondern auch des Dekorativen. Und eben diesen Stil sieht man in dieser un¬
förmigen Menschenmasse wieder, wie man ihn am amerikanischen Geisteshimmel
wiederfindet. Das Leben des Tages gehört der Tatsache. Und das seelische
Verlangen stillt die Masse im sensationellen, Exotischen oder . . . Sentimentalen.
Nehmt eine dieser Tageszeitungen zur Hand, die die kleinen Menschen vor mir
noch immer ausschreien: zwei Seiten Depeschen über den Balkankrieg, über die
Börsenstimmung in Europa, zwei weitere Seiten amerikanische Intern", der
Handelsteil und die Lokalnotizen. Für die Ergötzung des Geistes bleibt nur
die übliche Geschichte von dem "Iiorriblo murcier" oder die welterschütternde
Tatsache, daß Fräulein Gould im Januar statt im Februar heiraten wird. Die
Stelle, wo wir in unseren Weltblüttern den Essai, die Kritik suchen, wo wir
den Pulsschlag unseres Geisteslebens ein wenig fühlen, diese Stelle fehlt.
Manchmal freilich, wenn ein monströser Star aus Europa herkommt, wenn
Caruso singt oder Strauß dirigiert, dann schreibt man eine Kritik. Als neulich
Male Beethovens Violinkonzert spielte, las ich solch ein Opus. Wenigstens den
Anfang. Der lautete wörtlich: "Male hat von allen europäischen Geigern bei
uns das beste Remo." Bei dem Worte Remo ließ ich das Blatt still und re¬
signiert sinken.

Und doch, und doch! Wer mit offenen Augen durch diese Stadt geht (und
was für New Dort gilt, gilt für die ganze östliche Union), wer ein wenig tiefer
blickt, wird eine alte (freilich wenig gekannte) Weisheit bestätigt finden, daß
Phantasie und Gemüt, Geistes- und Kunstleben in ihren ererbten und neu¬
geschaffenen Formen nicht Luxusdinge sind, die sich aus dem Menschenleben
einfach ausschalten lassen. Sie sind am Ende physiologische Bestandteile
unseier Welt, Dinge, ohne die wir nicht auskommen. Amerika hat sie
ein und ein halbes Jahrhundert verbannt, ist wirtschaftlich und zivilisatorisch
ohne Skrupel, ohne sentimentale Erinnerungen an Alt-Europas Kultur
seinen geraden Weg gegangen und streckt heute, wo es das ist, was es
ist, verlangend die Hände aus nach den einst verschmähten Göttern. Dieses
Pilgern nach Baireuth und München, nach Venedig und Rom, das Anlaufen
von Kunstwerken ist nicht nur die Protzengebärde von Herrn und Frau Snob.
Es steckt am Ende darin eine ehrliche Sehnsucht, Geist und Gemüt und Phan¬
tasie zu ätzen, die man so lange hat darben lassen, wie es der Dollar befahl.


Reisebriefe

rungen. jeder mit anderem Hassen und Lieben. Aber diese Stadt ist indifferent
gegen alles, was wie eine Reminiszenz nationaler und persönlicher Eigenart
aussieht: die erste Generation der Einwanderer mag noch ein Fünkchen von dem
bewahren, was sie an diesen Dingen herüberbrachte. Die zweite aber hat sicher
alles vergessen, spricht, denkt und sieht aus, wie alles hier: amerikanisch.

Ohne Zweifel, Stil hat auch dieses Leben. Denselben imponierender, sach¬
lichen Stil, wie die Architektur der aus Notwendigkeit und Proportionensinn
geschaffenen Turmhäuser, die freilich mehr Wohnmaschinen als Wohnungen sind.
Dieser Stil ist das bewußte feindliche Verharren des Individuellen nicht nur,
sondern auch des Dekorativen. Und eben diesen Stil sieht man in dieser un¬
förmigen Menschenmasse wieder, wie man ihn am amerikanischen Geisteshimmel
wiederfindet. Das Leben des Tages gehört der Tatsache. Und das seelische
Verlangen stillt die Masse im sensationellen, Exotischen oder . . . Sentimentalen.
Nehmt eine dieser Tageszeitungen zur Hand, die die kleinen Menschen vor mir
noch immer ausschreien: zwei Seiten Depeschen über den Balkankrieg, über die
Börsenstimmung in Europa, zwei weitere Seiten amerikanische Intern«, der
Handelsteil und die Lokalnotizen. Für die Ergötzung des Geistes bleibt nur
die übliche Geschichte von dem „Iiorriblo murcier" oder die welterschütternde
Tatsache, daß Fräulein Gould im Januar statt im Februar heiraten wird. Die
Stelle, wo wir in unseren Weltblüttern den Essai, die Kritik suchen, wo wir
den Pulsschlag unseres Geisteslebens ein wenig fühlen, diese Stelle fehlt.
Manchmal freilich, wenn ein monströser Star aus Europa herkommt, wenn
Caruso singt oder Strauß dirigiert, dann schreibt man eine Kritik. Als neulich
Male Beethovens Violinkonzert spielte, las ich solch ein Opus. Wenigstens den
Anfang. Der lautete wörtlich: „Male hat von allen europäischen Geigern bei
uns das beste Remo." Bei dem Worte Remo ließ ich das Blatt still und re¬
signiert sinken.

Und doch, und doch! Wer mit offenen Augen durch diese Stadt geht (und
was für New Dort gilt, gilt für die ganze östliche Union), wer ein wenig tiefer
blickt, wird eine alte (freilich wenig gekannte) Weisheit bestätigt finden, daß
Phantasie und Gemüt, Geistes- und Kunstleben in ihren ererbten und neu¬
geschaffenen Formen nicht Luxusdinge sind, die sich aus dem Menschenleben
einfach ausschalten lassen. Sie sind am Ende physiologische Bestandteile
unseier Welt, Dinge, ohne die wir nicht auskommen. Amerika hat sie
ein und ein halbes Jahrhundert verbannt, ist wirtschaftlich und zivilisatorisch
ohne Skrupel, ohne sentimentale Erinnerungen an Alt-Europas Kultur
seinen geraden Weg gegangen und streckt heute, wo es das ist, was es
ist, verlangend die Hände aus nach den einst verschmähten Göttern. Dieses
Pilgern nach Baireuth und München, nach Venedig und Rom, das Anlaufen
von Kunstwerken ist nicht nur die Protzengebärde von Herrn und Frau Snob.
Es steckt am Ende darin eine ehrliche Sehnsucht, Geist und Gemüt und Phan¬
tasie zu ätzen, die man so lange hat darben lassen, wie es der Dollar befahl.


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[0143] Reisebriefe rungen. jeder mit anderem Hassen und Lieben. Aber diese Stadt ist indifferent gegen alles, was wie eine Reminiszenz nationaler und persönlicher Eigenart aussieht: die erste Generation der Einwanderer mag noch ein Fünkchen von dem bewahren, was sie an diesen Dingen herüberbrachte. Die zweite aber hat sicher alles vergessen, spricht, denkt und sieht aus, wie alles hier: amerikanisch. Ohne Zweifel, Stil hat auch dieses Leben. Denselben imponierender, sach¬ lichen Stil, wie die Architektur der aus Notwendigkeit und Proportionensinn geschaffenen Turmhäuser, die freilich mehr Wohnmaschinen als Wohnungen sind. Dieser Stil ist das bewußte feindliche Verharren des Individuellen nicht nur, sondern auch des Dekorativen. Und eben diesen Stil sieht man in dieser un¬ förmigen Menschenmasse wieder, wie man ihn am amerikanischen Geisteshimmel wiederfindet. Das Leben des Tages gehört der Tatsache. Und das seelische Verlangen stillt die Masse im sensationellen, Exotischen oder . . . Sentimentalen. Nehmt eine dieser Tageszeitungen zur Hand, die die kleinen Menschen vor mir noch immer ausschreien: zwei Seiten Depeschen über den Balkankrieg, über die Börsenstimmung in Europa, zwei weitere Seiten amerikanische Intern«, der Handelsteil und die Lokalnotizen. Für die Ergötzung des Geistes bleibt nur die übliche Geschichte von dem „Iiorriblo murcier" oder die welterschütternde Tatsache, daß Fräulein Gould im Januar statt im Februar heiraten wird. Die Stelle, wo wir in unseren Weltblüttern den Essai, die Kritik suchen, wo wir den Pulsschlag unseres Geisteslebens ein wenig fühlen, diese Stelle fehlt. Manchmal freilich, wenn ein monströser Star aus Europa herkommt, wenn Caruso singt oder Strauß dirigiert, dann schreibt man eine Kritik. Als neulich Male Beethovens Violinkonzert spielte, las ich solch ein Opus. Wenigstens den Anfang. Der lautete wörtlich: „Male hat von allen europäischen Geigern bei uns das beste Remo." Bei dem Worte Remo ließ ich das Blatt still und re¬ signiert sinken. Und doch, und doch! Wer mit offenen Augen durch diese Stadt geht (und was für New Dort gilt, gilt für die ganze östliche Union), wer ein wenig tiefer blickt, wird eine alte (freilich wenig gekannte) Weisheit bestätigt finden, daß Phantasie und Gemüt, Geistes- und Kunstleben in ihren ererbten und neu¬ geschaffenen Formen nicht Luxusdinge sind, die sich aus dem Menschenleben einfach ausschalten lassen. Sie sind am Ende physiologische Bestandteile unseier Welt, Dinge, ohne die wir nicht auskommen. Amerika hat sie ein und ein halbes Jahrhundert verbannt, ist wirtschaftlich und zivilisatorisch ohne Skrupel, ohne sentimentale Erinnerungen an Alt-Europas Kultur seinen geraden Weg gegangen und streckt heute, wo es das ist, was es ist, verlangend die Hände aus nach den einst verschmähten Göttern. Dieses Pilgern nach Baireuth und München, nach Venedig und Rom, das Anlaufen von Kunstwerken ist nicht nur die Protzengebärde von Herrn und Frau Snob. Es steckt am Ende darin eine ehrliche Sehnsucht, Geist und Gemüt und Phan¬ tasie zu ätzen, die man so lange hat darben lassen, wie es der Dollar befahl.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/143>, abgerufen am 12.05.2024.