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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

"durchaus sinnlich gebundene" Phantasie der
Droste, die "sich nicht zum symbolischen
steigert." Nicht in die letzten Tiefen scheint
nur der Verfasser bei Keller und Meyer vor¬
gedrungen zu sein; gerade in ihrer Lyrik
zittert soviel gebändigte, verhaltene Kraft, die
sich eben -- namentlich bei Meyer -- nicht
nur aus den äußeren Schicksalen erklären und
erkennen läßt. Fontane und Storm hingegen
sind Wohl restlos erschöpft, trotz der Kürze
der Darstellung, die mir namentlich bei Storm
aufgefallen ist. In die Gegenwart werden
wir mit Liliencron und Nietzsche eingeführt.
Ich war einigermaßen erstaunt, auch Nietzsche
zu finden, dessen spezifische Lyrik mich für
eine selbständige Darstellung nicht gewichtig
genug dünkt, so tief mir auch manche seiner
Verse im Herzen eingeschrieben sind. Doch
hätten Dehniel, Rilke, George wenigstens
gestreift werden müssen, ähnlich wie Schwab,
Chamisso oder Strachwitz doch erwähnt und
kurz gewürdigt worden sind.

Sicherlich bedeuten diese beiden schönen
Bände eine wertvolle, reiche Arbeit. Sie
beweisen, daß man endlich mit der lang-
Weiligen, nebensächlichen Aufzählung äußer¬
licher Daten ein Ende machen will, daß man
erkannt hat, wie mannigfach ein Kunstwerk
zu deuten ist, daß es aber bei jedem berufenen,
wahren Dichter aus dem innersten Lebens¬
quell entströmt. Wenn auch manchmal der
Literaturhistoriker in Witkop noch zu kräftig
vorherrscht, so sei doch dankbar anerkannt,
daß in ihm auch das zarte, nachfühlende
Verstehen lebendig ist und mitunter den Leser
ganz zu fesseln und mitzureißen weiß. Be¬
sonders den Lehrern möchte ich dieses Werk
empfehlen; es weise ihnen die Richtung und
den Weg, auf dem sie die Schüler gewinnen
und zu denkenden, empfindenden Menschen
erziehen können, nicht nur zu lebenden Ma¬
gazinen aufgespeicherter Buchstabenklauberei.

Lrnst Ludwig Schellenberg
Tagesfragen

Strindberg und Ostwalds Monistenklöster.
Ostwald hat jüngst die Idee seiner "Monisten¬
klöster" entwickelt, eine Idee, die sich vom
bloßen räumlichen Beieinander von Geistern,
die in weitest auseinander gelegenen Pro¬

[Spaltenumbruch]

vinzen zu Hause und womöglich antipodisch
gerichtet sind, wissenschaftliche Förderungen
verspricht, und die das ruhige Gartenglück
weltabgeschiedener Einsamkeit, dies letzte nach
Lebensfluten und Tatensturm, im Wege der
Energierersparnis herstellen zu können meint.
Oh weh! des rosenroten Optimismus, des
Kinderglaubens an das Heil der Zahl und
der allzu rationalistischen Lebensgestaltungs¬
kunst -- sagt hier der Skeptiker, dem in
Fragen, die die ewig verborgenen letzten
Dinge betreffen, übereinstimmende Meinungen
nicht herstellbar scheinen, dem auch das Ringen
um Erkenntnis und das Festhalten des Er¬
kannten eine Manifestation des Willens zur
Macht ist, und der im übrigen auch das stille
Glück des Alters nicht für ein Rechenexempel
ansteht, daS man auf eine ökonomische und
verstandessichere Weise auskalkulieren kann.
Das Ostwaldsche Monistenkloster wird Wohl
eine Utopie bleiben, nicht daß es nicht äußer¬
lich in die Erscheinung treten könnte, -- zur
äußeren Verwirklichung des Gedankens ist ja
schon alles Nötige in die Wege geleitet
worden -- nein, Utopie in dem Sinne, daß
es freie und starke geistige Individualitäten
nicht dauernd zu einträchtigen Miteinander¬
schaffen, zu gemeinsamer Erforschung der
"Wahrheit", die jeder nur für sich allein ge¬
winnen kann als sein Persönlichstes Besitztum,
wird vereinigen können.

Aber ist es nun nicht seltsam, daß dieser
moderne Klostergedanke lange vor Ostwald
einen Vertreter haben konnte, der von dein
großen Errechner des Lebensglücks so ver¬
schieden wie nur möglich ist, einen Vertreter,
den wir alle als den Pessimisten aus Tempe¬
rament und Schicksal, als den grausamst
leidenden und leiden machenden Seelen-
entschleierer, als den heftigsten Individualisten
und Eigenbrötler unter uns wandeln sahen?
Ich lese eins der letzten Bekenntnisse dieses
in die purpurnsten Tiefen tauchenden nordi¬
schen Stoßvogels, lese Strindbergs jüngst bei
Georg Müller in München neuverlegte Selbst¬
biographie "Entzweit-Einsam" und finde
darin folgende Stelle:

"Da sehnte er (Strindberg spricht von sich
in der dritten Person) sich fort, weit fort,
nach Licht und Reinheit, nach Friede, Liebe
und Versöhnung. Er träumte seinen alten

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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„durchaus sinnlich gebundene" Phantasie der
Droste, die „sich nicht zum symbolischen
steigert." Nicht in die letzten Tiefen scheint
nur der Verfasser bei Keller und Meyer vor¬
gedrungen zu sein; gerade in ihrer Lyrik
zittert soviel gebändigte, verhaltene Kraft, die
sich eben — namentlich bei Meyer — nicht
nur aus den äußeren Schicksalen erklären und
erkennen läßt. Fontane und Storm hingegen
sind Wohl restlos erschöpft, trotz der Kürze
der Darstellung, die mir namentlich bei Storm
aufgefallen ist. In die Gegenwart werden
wir mit Liliencron und Nietzsche eingeführt.
Ich war einigermaßen erstaunt, auch Nietzsche
zu finden, dessen spezifische Lyrik mich für
eine selbständige Darstellung nicht gewichtig
genug dünkt, so tief mir auch manche seiner
Verse im Herzen eingeschrieben sind. Doch
hätten Dehniel, Rilke, George wenigstens
gestreift werden müssen, ähnlich wie Schwab,
Chamisso oder Strachwitz doch erwähnt und
kurz gewürdigt worden sind.

Sicherlich bedeuten diese beiden schönen
Bände eine wertvolle, reiche Arbeit. Sie
beweisen, daß man endlich mit der lang-
Weiligen, nebensächlichen Aufzählung äußer¬
licher Daten ein Ende machen will, daß man
erkannt hat, wie mannigfach ein Kunstwerk
zu deuten ist, daß es aber bei jedem berufenen,
wahren Dichter aus dem innersten Lebens¬
quell entströmt. Wenn auch manchmal der
Literaturhistoriker in Witkop noch zu kräftig
vorherrscht, so sei doch dankbar anerkannt,
daß in ihm auch das zarte, nachfühlende
Verstehen lebendig ist und mitunter den Leser
ganz zu fesseln und mitzureißen weiß. Be¬
sonders den Lehrern möchte ich dieses Werk
empfehlen; es weise ihnen die Richtung und
den Weg, auf dem sie die Schüler gewinnen
und zu denkenden, empfindenden Menschen
erziehen können, nicht nur zu lebenden Ma¬
gazinen aufgespeicherter Buchstabenklauberei.

Lrnst Ludwig Schellenberg
Tagesfragen

Strindberg und Ostwalds Monistenklöster.
Ostwald hat jüngst die Idee seiner „Monisten¬
klöster" entwickelt, eine Idee, die sich vom
bloßen räumlichen Beieinander von Geistern,
die in weitest auseinander gelegenen Pro¬

[Spaltenumbruch]

vinzen zu Hause und womöglich antipodisch
gerichtet sind, wissenschaftliche Förderungen
verspricht, und die das ruhige Gartenglück
weltabgeschiedener Einsamkeit, dies letzte nach
Lebensfluten und Tatensturm, im Wege der
Energierersparnis herstellen zu können meint.
Oh weh! des rosenroten Optimismus, des
Kinderglaubens an das Heil der Zahl und
der allzu rationalistischen Lebensgestaltungs¬
kunst — sagt hier der Skeptiker, dem in
Fragen, die die ewig verborgenen letzten
Dinge betreffen, übereinstimmende Meinungen
nicht herstellbar scheinen, dem auch das Ringen
um Erkenntnis und das Festhalten des Er¬
kannten eine Manifestation des Willens zur
Macht ist, und der im übrigen auch das stille
Glück des Alters nicht für ein Rechenexempel
ansteht, daS man auf eine ökonomische und
verstandessichere Weise auskalkulieren kann.
Das Ostwaldsche Monistenkloster wird Wohl
eine Utopie bleiben, nicht daß es nicht äußer¬
lich in die Erscheinung treten könnte, — zur
äußeren Verwirklichung des Gedankens ist ja
schon alles Nötige in die Wege geleitet
worden — nein, Utopie in dem Sinne, daß
es freie und starke geistige Individualitäten
nicht dauernd zu einträchtigen Miteinander¬
schaffen, zu gemeinsamer Erforschung der
„Wahrheit", die jeder nur für sich allein ge¬
winnen kann als sein Persönlichstes Besitztum,
wird vereinigen können.

Aber ist es nun nicht seltsam, daß dieser
moderne Klostergedanke lange vor Ostwald
einen Vertreter haben konnte, der von dein
großen Errechner des Lebensglücks so ver¬
schieden wie nur möglich ist, einen Vertreter,
den wir alle als den Pessimisten aus Tempe¬
rament und Schicksal, als den grausamst
leidenden und leiden machenden Seelen-
entschleierer, als den heftigsten Individualisten
und Eigenbrötler unter uns wandeln sahen?
Ich lese eins der letzten Bekenntnisse dieses
in die purpurnsten Tiefen tauchenden nordi¬
schen Stoßvogels, lese Strindbergs jüngst bei
Georg Müller in München neuverlegte Selbst¬
biographie „Entzweit-Einsam" und finde
darin folgende Stelle:

„Da sehnte er (Strindberg spricht von sich
in der dritten Person) sich fort, weit fort,
nach Licht und Reinheit, nach Friede, Liebe
und Versöhnung. Er träumte seinen alten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/250>, abgerufen am 28.04.2024.