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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Uninui-gevUche-

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dar. Diesen tiefsten Kern, diesen ewigen
Grund im Künstler aufzusuchen, das ist die
schwierigste, schöpferische Aufgabe des Kunst¬
historikers . . . Dann erst beginnt seine Dar¬
stellung, dann zeigt er, wie sich aus diesem
letzten Lebensgefühl seines Künstlers dessen
Leben und Werk notwendig entwickelten und
durchdrangen. Er beschreibt nicht von außen,
wie er lebte, wie er schuf, er zeigt, warum
er aus tiefster innerer Einheit heraus gerade
dieses Leben leben, gerade diese Werke schaffen
mußte." Und an einer anderen Stelle sagt
der Verfasser: "Einer Darstellung der Lyrik
steht zur Aufgabe, die innere Form der
lyrischen Persönlichkeit darzustellen: eben sie
ist die Form ihrer Lyrik. Alle äußeren Formen
sind nur ihr Ausdruck . . . Dem Leser, der
den Weg von der inneren zur äußeren Form
geführt ist, der beide in ihrer Notwendigkeit
begriffen hat, wird es ein leichtes sein, Einzel¬
heiten der äußeren Form in einer Poetik oder
Metrik weiter zu verfolgen." Witkop ver¬
sucht also im Grunde dasselbe, was Wilhelm
Dilthey in seinem schönen Buche "Das Er¬
lebnis und die Dichtung" an Lessing, Goethe,
Novalis und Hölderlin gezeigt hat; nur will
er diese Synthese an unseren bedeutendsten
Lyrikern dartun, ihr Werk aus ihren mannig¬
fachen Lebensumständen erklären. Vielleicht
wäre darum als Titel besser "Die neueren
deutschen Lyriker" gewählt worden.

Nach einer kurzen theoretischen Einleitung,
"welche die Probleme nicht erschöpfen, ja nicht
einmal herausführen, sondern nur vorbereiten
will," und einem Überblick über die Zeit vom
älteren Volksliede bis zur Gelehrtenpoesie
des Humanismus, setzt das Werk bei den
Mystikern ein, bei Friedrich von SPee und
Angelus Silesius, dem ersten deutschen
Lyriker, "der sich bewußt aus der Enge seiner
Erziehung löste und zu einer persönlichen
Weltanschauung durchzudringen suchte " Mit
Günther beginnt dann recht eigentlich die aus¬
gesprochen selbständige Lyrik. In freundlichem
Behagen wird der sinnenheitere Brockes ge¬
zeichnet. "Die Geschöpfe sind es, worauf es
ihm ankommt, die Geschöpfe als Gegenstand
seiner Sinne. Und der Schöpfer kommt für
ihn nur soweit in Betracht, als etwa dem
Feinschmecker bei einer guten Tafel auch der
Koch in den Sinn kommt: ein wohlwollender

[Spaltenumbruch]

Dank für den Koch und die beruhigende Ge¬
wißheit, daß der Koch fest engagiert ist und
immer neu für gleiche Genüsse sorgen wird."
Ein trefflicher Exkurs über das Wesen des
Gelehrten und des Künstlers findet sich bet
Hallers Charakteristik; Hagedorn wird ver¬
ständnisvoll gewürdigt, die Anakreontiter
zeigen sich dann in all ihrer leeren Tändelei.
Sehr klar und wahr istKloPstocks unehrliche,
aufgebauschte Odenfabrikation dargestellt;
Schubart, Claudius, Bürger scheinen mir
gleichfalls in ihrem innersten Wesen erfaßt zu
sein. Besonders rührend ist der zarte, tod¬
geweihte Hölty geschildert; hier hat Witkop
das Gleichmaß zwischen Biographie und Dar¬
stellung der aus den Lebensumständen ge¬
formten Lyrik glücklich gefunden, während
mir manchmal die äußeren Daten zu aus¬
führlich wiedergegeben sind. Dies ist, glaube
ich, gerade bei dem Kapitel über Goethe der
Fall; erst dort, wo der greise Dichter in seiner
Vollendung vor uns hintritt, fühlen wir die
Macht der Persönlichkeit, das Unbeschreibliche
seiner Harmonie und letzten Reife. Auf
Schillers ReflexionSPoesiefolgtdannHölderlins
trunkene, musikdurchzitterte Odendichtung, für
welche Witkop besondere Hinneigung beweist;
hier findet er reiche, sehnsüchtige Worte der
Bewunderung.

Der zweite Band beginnt bei den Ro¬
mantikern, bei dem dunkeltönigen, ahnungs¬
reicher Novalis. Tieck ist nur kurz berührt,
als der musikalische Brentano charakterisiert
wird. Es folgen dann der Waldquellfrische
Eichendorff, der bieder-deutsche Uhland, von
dem Witkop treffend sagt: "Es war kein Chaos
in ihm, aus den: er sich durch die formende
lyrische Gewalt zu sich selber hätte zurück¬
zwingen müssen," und der liebe, zärtliche
Mörike. Etwas hart dünkt mich das Urteil
über Lenau, daß seine Dichtungen "einzeln
und für sich meist unvollkommen und wenig
selbständig seien", wogegen ich Platens Be¬
deutung nicht in gleichem Maße wie der Ver¬
fasser zu würdigen imstande bin. Mit Ruhe
und ohne unnötige Ausfälle wird die innere
Unwahrheit der Lyrik Heinrich Heines dar¬
gestellt; ich selbst vermag nicht einmal völlig
an seine späteren Leidensdichtungen zu glauben.
Ausgezeichnet hat Witkop Hebbels epigram¬
matische, herbe, grübelnde Art erkannt und die

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Maßgebliches und Uninui-gevUche-

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dar. Diesen tiefsten Kern, diesen ewigen
Grund im Künstler aufzusuchen, das ist die
schwierigste, schöpferische Aufgabe des Kunst¬
historikers . . . Dann erst beginnt seine Dar¬
stellung, dann zeigt er, wie sich aus diesem
letzten Lebensgefühl seines Künstlers dessen
Leben und Werk notwendig entwickelten und
durchdrangen. Er beschreibt nicht von außen,
wie er lebte, wie er schuf, er zeigt, warum
er aus tiefster innerer Einheit heraus gerade
dieses Leben leben, gerade diese Werke schaffen
mußte." Und an einer anderen Stelle sagt
der Verfasser: „Einer Darstellung der Lyrik
steht zur Aufgabe, die innere Form der
lyrischen Persönlichkeit darzustellen: eben sie
ist die Form ihrer Lyrik. Alle äußeren Formen
sind nur ihr Ausdruck . . . Dem Leser, der
den Weg von der inneren zur äußeren Form
geführt ist, der beide in ihrer Notwendigkeit
begriffen hat, wird es ein leichtes sein, Einzel¬
heiten der äußeren Form in einer Poetik oder
Metrik weiter zu verfolgen." Witkop ver¬
sucht also im Grunde dasselbe, was Wilhelm
Dilthey in seinem schönen Buche „Das Er¬
lebnis und die Dichtung" an Lessing, Goethe,
Novalis und Hölderlin gezeigt hat; nur will
er diese Synthese an unseren bedeutendsten
Lyrikern dartun, ihr Werk aus ihren mannig¬
fachen Lebensumständen erklären. Vielleicht
wäre darum als Titel besser „Die neueren
deutschen Lyriker" gewählt worden.

Nach einer kurzen theoretischen Einleitung,
„welche die Probleme nicht erschöpfen, ja nicht
einmal herausführen, sondern nur vorbereiten
will," und einem Überblick über die Zeit vom
älteren Volksliede bis zur Gelehrtenpoesie
des Humanismus, setzt das Werk bei den
Mystikern ein, bei Friedrich von SPee und
Angelus Silesius, dem ersten deutschen
Lyriker, „der sich bewußt aus der Enge seiner
Erziehung löste und zu einer persönlichen
Weltanschauung durchzudringen suchte " Mit
Günther beginnt dann recht eigentlich die aus¬
gesprochen selbständige Lyrik. In freundlichem
Behagen wird der sinnenheitere Brockes ge¬
zeichnet. „Die Geschöpfe sind es, worauf es
ihm ankommt, die Geschöpfe als Gegenstand
seiner Sinne. Und der Schöpfer kommt für
ihn nur soweit in Betracht, als etwa dem
Feinschmecker bei einer guten Tafel auch der
Koch in den Sinn kommt: ein wohlwollender

[Spaltenumbruch]

Dank für den Koch und die beruhigende Ge¬
wißheit, daß der Koch fest engagiert ist und
immer neu für gleiche Genüsse sorgen wird."
Ein trefflicher Exkurs über das Wesen des
Gelehrten und des Künstlers findet sich bet
Hallers Charakteristik; Hagedorn wird ver¬
ständnisvoll gewürdigt, die Anakreontiter
zeigen sich dann in all ihrer leeren Tändelei.
Sehr klar und wahr istKloPstocks unehrliche,
aufgebauschte Odenfabrikation dargestellt;
Schubart, Claudius, Bürger scheinen mir
gleichfalls in ihrem innersten Wesen erfaßt zu
sein. Besonders rührend ist der zarte, tod¬
geweihte Hölty geschildert; hier hat Witkop
das Gleichmaß zwischen Biographie und Dar¬
stellung der aus den Lebensumständen ge¬
formten Lyrik glücklich gefunden, während
mir manchmal die äußeren Daten zu aus¬
führlich wiedergegeben sind. Dies ist, glaube
ich, gerade bei dem Kapitel über Goethe der
Fall; erst dort, wo der greise Dichter in seiner
Vollendung vor uns hintritt, fühlen wir die
Macht der Persönlichkeit, das Unbeschreibliche
seiner Harmonie und letzten Reife. Auf
Schillers ReflexionSPoesiefolgtdannHölderlins
trunkene, musikdurchzitterte Odendichtung, für
welche Witkop besondere Hinneigung beweist;
hier findet er reiche, sehnsüchtige Worte der
Bewunderung.

Der zweite Band beginnt bei den Ro¬
mantikern, bei dem dunkeltönigen, ahnungs¬
reicher Novalis. Tieck ist nur kurz berührt,
als der musikalische Brentano charakterisiert
wird. Es folgen dann der Waldquellfrische
Eichendorff, der bieder-deutsche Uhland, von
dem Witkop treffend sagt: „Es war kein Chaos
in ihm, aus den: er sich durch die formende
lyrische Gewalt zu sich selber hätte zurück¬
zwingen müssen," und der liebe, zärtliche
Mörike. Etwas hart dünkt mich das Urteil
über Lenau, daß seine Dichtungen „einzeln
und für sich meist unvollkommen und wenig
selbständig seien", wogegen ich Platens Be¬
deutung nicht in gleichem Maße wie der Ver¬
fasser zu würdigen imstande bin. Mit Ruhe
und ohne unnötige Ausfälle wird die innere
Unwahrheit der Lyrik Heinrich Heines dar¬
gestellt; ich selbst vermag nicht einmal völlig
an seine späteren Leidensdichtungen zu glauben.
Ausgezeichnet hat Witkop Hebbels epigram¬
matische, herbe, grübelnde Art erkannt und die

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[0249] Maßgebliches und Uninui-gevUche- dar. Diesen tiefsten Kern, diesen ewigen Grund im Künstler aufzusuchen, das ist die schwierigste, schöpferische Aufgabe des Kunst¬ historikers . . . Dann erst beginnt seine Dar¬ stellung, dann zeigt er, wie sich aus diesem letzten Lebensgefühl seines Künstlers dessen Leben und Werk notwendig entwickelten und durchdrangen. Er beschreibt nicht von außen, wie er lebte, wie er schuf, er zeigt, warum er aus tiefster innerer Einheit heraus gerade dieses Leben leben, gerade diese Werke schaffen mußte." Und an einer anderen Stelle sagt der Verfasser: „Einer Darstellung der Lyrik steht zur Aufgabe, die innere Form der lyrischen Persönlichkeit darzustellen: eben sie ist die Form ihrer Lyrik. Alle äußeren Formen sind nur ihr Ausdruck . . . Dem Leser, der den Weg von der inneren zur äußeren Form geführt ist, der beide in ihrer Notwendigkeit begriffen hat, wird es ein leichtes sein, Einzel¬ heiten der äußeren Form in einer Poetik oder Metrik weiter zu verfolgen." Witkop ver¬ sucht also im Grunde dasselbe, was Wilhelm Dilthey in seinem schönen Buche „Das Er¬ lebnis und die Dichtung" an Lessing, Goethe, Novalis und Hölderlin gezeigt hat; nur will er diese Synthese an unseren bedeutendsten Lyrikern dartun, ihr Werk aus ihren mannig¬ fachen Lebensumständen erklären. Vielleicht wäre darum als Titel besser „Die neueren deutschen Lyriker" gewählt worden. Nach einer kurzen theoretischen Einleitung, „welche die Probleme nicht erschöpfen, ja nicht einmal herausführen, sondern nur vorbereiten will," und einem Überblick über die Zeit vom älteren Volksliede bis zur Gelehrtenpoesie des Humanismus, setzt das Werk bei den Mystikern ein, bei Friedrich von SPee und Angelus Silesius, dem ersten deutschen Lyriker, „der sich bewußt aus der Enge seiner Erziehung löste und zu einer persönlichen Weltanschauung durchzudringen suchte " Mit Günther beginnt dann recht eigentlich die aus¬ gesprochen selbständige Lyrik. In freundlichem Behagen wird der sinnenheitere Brockes ge¬ zeichnet. „Die Geschöpfe sind es, worauf es ihm ankommt, die Geschöpfe als Gegenstand seiner Sinne. Und der Schöpfer kommt für ihn nur soweit in Betracht, als etwa dem Feinschmecker bei einer guten Tafel auch der Koch in den Sinn kommt: ein wohlwollender Dank für den Koch und die beruhigende Ge¬ wißheit, daß der Koch fest engagiert ist und immer neu für gleiche Genüsse sorgen wird." Ein trefflicher Exkurs über das Wesen des Gelehrten und des Künstlers findet sich bet Hallers Charakteristik; Hagedorn wird ver¬ ständnisvoll gewürdigt, die Anakreontiter zeigen sich dann in all ihrer leeren Tändelei. Sehr klar und wahr istKloPstocks unehrliche, aufgebauschte Odenfabrikation dargestellt; Schubart, Claudius, Bürger scheinen mir gleichfalls in ihrem innersten Wesen erfaßt zu sein. Besonders rührend ist der zarte, tod¬ geweihte Hölty geschildert; hier hat Witkop das Gleichmaß zwischen Biographie und Dar¬ stellung der aus den Lebensumständen ge¬ formten Lyrik glücklich gefunden, während mir manchmal die äußeren Daten zu aus¬ führlich wiedergegeben sind. Dies ist, glaube ich, gerade bei dem Kapitel über Goethe der Fall; erst dort, wo der greise Dichter in seiner Vollendung vor uns hintritt, fühlen wir die Macht der Persönlichkeit, das Unbeschreibliche seiner Harmonie und letzten Reife. Auf Schillers ReflexionSPoesiefolgtdannHölderlins trunkene, musikdurchzitterte Odendichtung, für welche Witkop besondere Hinneigung beweist; hier findet er reiche, sehnsüchtige Worte der Bewunderung. Der zweite Band beginnt bei den Ro¬ mantikern, bei dem dunkeltönigen, ahnungs¬ reicher Novalis. Tieck ist nur kurz berührt, als der musikalische Brentano charakterisiert wird. Es folgen dann der Waldquellfrische Eichendorff, der bieder-deutsche Uhland, von dem Witkop treffend sagt: „Es war kein Chaos in ihm, aus den: er sich durch die formende lyrische Gewalt zu sich selber hätte zurück¬ zwingen müssen," und der liebe, zärtliche Mörike. Etwas hart dünkt mich das Urteil über Lenau, daß seine Dichtungen „einzeln und für sich meist unvollkommen und wenig selbständig seien", wogegen ich Platens Be¬ deutung nicht in gleichem Maße wie der Ver¬ fasser zu würdigen imstande bin. Mit Ruhe und ohne unnötige Ausfälle wird die innere Unwahrheit der Lyrik Heinrich Heines dar¬ gestellt; ich selbst vermag nicht einmal völlig an seine späteren Leidensdichtungen zu glauben. Ausgezeichnet hat Witkop Hebbels epigram¬ matische, herbe, grübelnde Art erkannt und die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/249>, abgerufen am 13.05.2024.