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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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von dauerndem Wert zu hinterlassen. Nun
tritt ein Umschwung ein: eine gründliche Ge¬
schichtsforschung hat die Ansichten so weit ge¬
klärt, daß eine objektivere Stellungnahme
zur Revolution möglich ist, die zeitliche
Distanz erlaubt eine vorurteilslosere Dar¬
stellung.

Es sind fast ausschließlich österreichische
Dichter, die in dieser jüngsten Epoche das
Stoffgebiet der großen Revolution behandeln.
Der Grund liegt vielleicht in den politischen
Verhältnissen Österreichs, die in ihrer Un-
gelöstheit und Spannung eine bessere Grund¬
lage für revolutionäre Dichtungen als das
konsolidierte Deutsche Reich abgeben. Neben
dem Jugendwerk Marie von Ebner-Eschen-
bachs "Marie Roland" steht das auf um¬
fangreichen historischen Vorstudien beruhende
Werk des Spätromantikers Hamerlings "Dan¬
ton und Robespierre". Hamerling will
die beiden Prinzipien der französischen Re¬
volution, ja aller Revolutionen überhaupt,
in Danton dem Voltaireaner und Robespierre
dem Rousseauschüler einander gegenüberstellen,
aber durch diese Absicht hat er die historische
Überlieferung vergewaltigt, ohne ein drama¬
tisch-wirksames Bild der großen Zeit geben
zu können. Am höchsten von allen Nevolu-
tionsdichtungen stellt der Verfasser Marie
Eugenie delle Grazie Epos "Robespierre",
das bei allem schroffen sozial-tendenziösen
Realismus in den Grundgedanken stark von
Hamerling beeinflußt ist. Arthur Schnitzlers
"Grüner Kakadu" steht zwischen Spiel und
Wirklichkeit: den dekadenten Vertretern des
ancien rögime treten in der dunklen Ver¬
brecherkneipe die sittlich verworfenen Prole¬
tarier gegenüber, die Erstürmung der Bastille
wirft den Flammenschein der kommenden
Revolution in dies düstere Milieu; aber keine
Hoffnung auf eine reinere, glücklichere Zu¬
kunft scheint aus dem Chaos zu führen.
Dies von einheitlicher Stimmung erfüllte,
psychologisch vertiefte Momentbild der Neu¬
romantik hat sehr viele dramatische und
novellistische Nachahmungen gefunden. Es
scheint, als ob die Lösung der zukünftigen
Revolutionsdichtungen, die aus den sozialen
und kulturellen Kämpfen unserer Tage immer
neue Gesichtspunkte gewinnen werden, mehr
diesen Vorbildern als den gescheiterten Ver¬

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suchen der Jungrealisten (Bleibtreu "Weltge¬
richt", "Schicksal") folgen werden. Jedenfalls
werden die kommenden Dichter, die sich mit
dem gewaltigen, künstlerisch so schwer zu
meisternden Stoffe beschäftigen werden, genau
so ein Spiegelbild der eigenen Zeit geben,
wie die in dieser umfassenden und gründlichen
Arbeit behandelten Autoren.

Das Jahr 1848 im deutschen Drama
und Epos von Walter Dohm. Stuttgart,
I. B. Metzlersche Buchhandlung. M. 7.-.

Der Einfluß der deutschen Revolution auf
unsere Literatur ist ein wesentlich anderer als
der der großen französischen Revolution. Hier
stehen mächtige führende Persönlichkeiten im
Mittelpunkt, während 1843 kein einzelner die
Bewegung auch nur kurze Zeit leitete oder
entscheidend beeinflußte. Aber wie bei der
Behandlung der großen Revolution gewann
man erst spät die objektive Betrachtungs¬
möglichkeit, während zuerst die Dichter dem
Ereignis entweder als unbedingte Anhänger
oder als Feinde gegenüberstanden.

So ist die künstlerische Ausbeute aus dem
ungeheuer umfangreichen Stoff, den die vor¬
liegende Untersuchung behandelt, zunächst sehr
gering. Die beiden größten Dramatiker der
Zeit erlebten die Stürme der Revolution
zwar als Augenzeugen der blutigen Kämpfe
in Wien, aber ohne ihre Erlebnisse in einem
großen Werk künstlerisch zu verarbeiten. Grill-
Parzer, der zuerst die Umwälzung mit
Begeisterung begrüßte, war doch schon zu
skeptisch, zu verbittert, um in der herein¬
brechenden Reaktionszeit noch an den Sieg
der neuen Ideen zu glauben. Hebbel er¬
kannte von vornherein die Bedeutung der
Revolution; er beteiligte sich aktiv an der
Tagespolitik, reiste als Abgesandter des Schrift¬
stellervereins mit einer Petition um Rückkehr
zu dem nach Innsbruck geflüchteten Kaiser
und schrieb Berichte an die Augsburger All¬
gemeine Zeitung über die Vorgänge in Wien,
die uns eine überraschend klare und selb¬
ständige Auffassung der Lage zeigen. Inter¬
essant sind seine Ansichten über die Bedeutung
der Revolution für sich selber, als Mensch
und als Künstler: "Ich habe es von jeher
für richtig gehalten, daß der Mensch alles'
was an ihm ist, entwickele," schrieb er in

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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von dauerndem Wert zu hinterlassen. Nun
tritt ein Umschwung ein: eine gründliche Ge¬
schichtsforschung hat die Ansichten so weit ge¬
klärt, daß eine objektivere Stellungnahme
zur Revolution möglich ist, die zeitliche
Distanz erlaubt eine vorurteilslosere Dar¬
stellung.

Es sind fast ausschließlich österreichische
Dichter, die in dieser jüngsten Epoche das
Stoffgebiet der großen Revolution behandeln.
Der Grund liegt vielleicht in den politischen
Verhältnissen Österreichs, die in ihrer Un-
gelöstheit und Spannung eine bessere Grund¬
lage für revolutionäre Dichtungen als das
konsolidierte Deutsche Reich abgeben. Neben
dem Jugendwerk Marie von Ebner-Eschen-
bachs „Marie Roland" steht das auf um¬
fangreichen historischen Vorstudien beruhende
Werk des Spätromantikers Hamerlings „Dan¬
ton und Robespierre". Hamerling will
die beiden Prinzipien der französischen Re¬
volution, ja aller Revolutionen überhaupt,
in Danton dem Voltaireaner und Robespierre
dem Rousseauschüler einander gegenüberstellen,
aber durch diese Absicht hat er die historische
Überlieferung vergewaltigt, ohne ein drama¬
tisch-wirksames Bild der großen Zeit geben
zu können. Am höchsten von allen Nevolu-
tionsdichtungen stellt der Verfasser Marie
Eugenie delle Grazie Epos „Robespierre",
das bei allem schroffen sozial-tendenziösen
Realismus in den Grundgedanken stark von
Hamerling beeinflußt ist. Arthur Schnitzlers
„Grüner Kakadu" steht zwischen Spiel und
Wirklichkeit: den dekadenten Vertretern des
ancien rögime treten in der dunklen Ver¬
brecherkneipe die sittlich verworfenen Prole¬
tarier gegenüber, die Erstürmung der Bastille
wirft den Flammenschein der kommenden
Revolution in dies düstere Milieu; aber keine
Hoffnung auf eine reinere, glücklichere Zu¬
kunft scheint aus dem Chaos zu führen.
Dies von einheitlicher Stimmung erfüllte,
psychologisch vertiefte Momentbild der Neu¬
romantik hat sehr viele dramatische und
novellistische Nachahmungen gefunden. Es
scheint, als ob die Lösung der zukünftigen
Revolutionsdichtungen, die aus den sozialen
und kulturellen Kämpfen unserer Tage immer
neue Gesichtspunkte gewinnen werden, mehr
diesen Vorbildern als den gescheiterten Ver¬

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suchen der Jungrealisten (Bleibtreu „Weltge¬
richt", „Schicksal") folgen werden. Jedenfalls
werden die kommenden Dichter, die sich mit
dem gewaltigen, künstlerisch so schwer zu
meisternden Stoffe beschäftigen werden, genau
so ein Spiegelbild der eigenen Zeit geben,
wie die in dieser umfassenden und gründlichen
Arbeit behandelten Autoren.

Das Jahr 1848 im deutschen Drama
und Epos von Walter Dohm. Stuttgart,
I. B. Metzlersche Buchhandlung. M. 7.-.

Der Einfluß der deutschen Revolution auf
unsere Literatur ist ein wesentlich anderer als
der der großen französischen Revolution. Hier
stehen mächtige führende Persönlichkeiten im
Mittelpunkt, während 1843 kein einzelner die
Bewegung auch nur kurze Zeit leitete oder
entscheidend beeinflußte. Aber wie bei der
Behandlung der großen Revolution gewann
man erst spät die objektive Betrachtungs¬
möglichkeit, während zuerst die Dichter dem
Ereignis entweder als unbedingte Anhänger
oder als Feinde gegenüberstanden.

So ist die künstlerische Ausbeute aus dem
ungeheuer umfangreichen Stoff, den die vor¬
liegende Untersuchung behandelt, zunächst sehr
gering. Die beiden größten Dramatiker der
Zeit erlebten die Stürme der Revolution
zwar als Augenzeugen der blutigen Kämpfe
in Wien, aber ohne ihre Erlebnisse in einem
großen Werk künstlerisch zu verarbeiten. Grill-
Parzer, der zuerst die Umwälzung mit
Begeisterung begrüßte, war doch schon zu
skeptisch, zu verbittert, um in der herein¬
brechenden Reaktionszeit noch an den Sieg
der neuen Ideen zu glauben. Hebbel er¬
kannte von vornherein die Bedeutung der
Revolution; er beteiligte sich aktiv an der
Tagespolitik, reiste als Abgesandter des Schrift¬
stellervereins mit einer Petition um Rückkehr
zu dem nach Innsbruck geflüchteten Kaiser
und schrieb Berichte an die Augsburger All¬
gemeine Zeitung über die Vorgänge in Wien,
die uns eine überraschend klare und selb¬
ständige Auffassung der Lage zeigen. Inter¬
essant sind seine Ansichten über die Bedeutung
der Revolution für sich selber, als Mensch
und als Künstler: „Ich habe es von jeher
für richtig gehalten, daß der Mensch alles'
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[0058] Maßgebliches und Unmaßgebliches von dauerndem Wert zu hinterlassen. Nun tritt ein Umschwung ein: eine gründliche Ge¬ schichtsforschung hat die Ansichten so weit ge¬ klärt, daß eine objektivere Stellungnahme zur Revolution möglich ist, die zeitliche Distanz erlaubt eine vorurteilslosere Dar¬ stellung. Es sind fast ausschließlich österreichische Dichter, die in dieser jüngsten Epoche das Stoffgebiet der großen Revolution behandeln. Der Grund liegt vielleicht in den politischen Verhältnissen Österreichs, die in ihrer Un- gelöstheit und Spannung eine bessere Grund¬ lage für revolutionäre Dichtungen als das konsolidierte Deutsche Reich abgeben. Neben dem Jugendwerk Marie von Ebner-Eschen- bachs „Marie Roland" steht das auf um¬ fangreichen historischen Vorstudien beruhende Werk des Spätromantikers Hamerlings „Dan¬ ton und Robespierre". Hamerling will die beiden Prinzipien der französischen Re¬ volution, ja aller Revolutionen überhaupt, in Danton dem Voltaireaner und Robespierre dem Rousseauschüler einander gegenüberstellen, aber durch diese Absicht hat er die historische Überlieferung vergewaltigt, ohne ein drama¬ tisch-wirksames Bild der großen Zeit geben zu können. Am höchsten von allen Nevolu- tionsdichtungen stellt der Verfasser Marie Eugenie delle Grazie Epos „Robespierre", das bei allem schroffen sozial-tendenziösen Realismus in den Grundgedanken stark von Hamerling beeinflußt ist. Arthur Schnitzlers „Grüner Kakadu" steht zwischen Spiel und Wirklichkeit: den dekadenten Vertretern des ancien rögime treten in der dunklen Ver¬ brecherkneipe die sittlich verworfenen Prole¬ tarier gegenüber, die Erstürmung der Bastille wirft den Flammenschein der kommenden Revolution in dies düstere Milieu; aber keine Hoffnung auf eine reinere, glücklichere Zu¬ kunft scheint aus dem Chaos zu führen. Dies von einheitlicher Stimmung erfüllte, psychologisch vertiefte Momentbild der Neu¬ romantik hat sehr viele dramatische und novellistische Nachahmungen gefunden. Es scheint, als ob die Lösung der zukünftigen Revolutionsdichtungen, die aus den sozialen und kulturellen Kämpfen unserer Tage immer neue Gesichtspunkte gewinnen werden, mehr diesen Vorbildern als den gescheiterten Ver¬ suchen der Jungrealisten (Bleibtreu „Weltge¬ richt", „Schicksal") folgen werden. Jedenfalls werden die kommenden Dichter, die sich mit dem gewaltigen, künstlerisch so schwer zu meisternden Stoffe beschäftigen werden, genau so ein Spiegelbild der eigenen Zeit geben, wie die in dieser umfassenden und gründlichen Arbeit behandelten Autoren. Das Jahr 1848 im deutschen Drama und Epos von Walter Dohm. Stuttgart, I. B. Metzlersche Buchhandlung. M. 7.-. Der Einfluß der deutschen Revolution auf unsere Literatur ist ein wesentlich anderer als der der großen französischen Revolution. Hier stehen mächtige führende Persönlichkeiten im Mittelpunkt, während 1843 kein einzelner die Bewegung auch nur kurze Zeit leitete oder entscheidend beeinflußte. Aber wie bei der Behandlung der großen Revolution gewann man erst spät die objektive Betrachtungs¬ möglichkeit, während zuerst die Dichter dem Ereignis entweder als unbedingte Anhänger oder als Feinde gegenüberstanden. So ist die künstlerische Ausbeute aus dem ungeheuer umfangreichen Stoff, den die vor¬ liegende Untersuchung behandelt, zunächst sehr gering. Die beiden größten Dramatiker der Zeit erlebten die Stürme der Revolution zwar als Augenzeugen der blutigen Kämpfe in Wien, aber ohne ihre Erlebnisse in einem großen Werk künstlerisch zu verarbeiten. Grill- Parzer, der zuerst die Umwälzung mit Begeisterung begrüßte, war doch schon zu skeptisch, zu verbittert, um in der herein¬ brechenden Reaktionszeit noch an den Sieg der neuen Ideen zu glauben. Hebbel er¬ kannte von vornherein die Bedeutung der Revolution; er beteiligte sich aktiv an der Tagespolitik, reiste als Abgesandter des Schrift¬ stellervereins mit einer Petition um Rückkehr zu dem nach Innsbruck geflüchteten Kaiser und schrieb Berichte an die Augsburger All¬ gemeine Zeitung über die Vorgänge in Wien, die uns eine überraschend klare und selb¬ ständige Auffassung der Lage zeigen. Inter¬ essant sind seine Ansichten über die Bedeutung der Revolution für sich selber, als Mensch und als Künstler: „Ich habe es von jeher für richtig gehalten, daß der Mensch alles' was an ihm ist, entwickele," schrieb er in

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/58>, abgerufen am 28.04.2024.