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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

und Strafkammern von Berlin seit zwei Jahren
mit energischen Strafen vorgehen, wegen Be¬
truges und Verleitung geschäftsunerfahrener
Leute zum Börsenspiel mit anderthalb Jahren
Gefängnis bestraft worden. Auf diese Strafe
find ihm noch zehn Monate Untersuchungshaft
angerechnet worden. Der Verurteilte hat
Revision eingelegt; vom gleichen Tage ab
aber hatte er die Aufnahme jeder festen Nah¬
rung verweigert --, wie die Zeitungen
schreiben, weil er das Urteil nicht als richtig
anerkennen könne. Ich kenne den Verur¬
teilten besser und glaube nicht an dieses
Motiv. Dieser Bankier ist -- abgesehen von
dem geschäftlichen Gebiete, auf dem er nach
meiner Überzeugung schwer gefehlt hat, --
ein Mann von Ehre, welcher die entehrende
Gefängnisstrafe nicht glaubt ertragen zu
können. Nach meiner Überzeugung wollte er
sich durch einen stolzen und schweren Tod in
den Augen seiner Freunde rehabilitieren.
So hatte er beschlossen, sich zu Tode zu hungern,
und hatte den Entschluß eine lange Reihe von
Tagen mit seltener Energie durchgeführt.

Damit hatte er die Strafbehörde und Ge-
fängnißdircktion vor das schwierige Problem
gestellt, ob sie ein Recht habe, auch einen
Untersuchungsgefangenen zwangsweise zu er¬
nähren.

Von der einen Seite wird argumentiert,
daß nach unserem geltenden Prozeßrecht der
Untersuchungsgefangene in seiner persönlichen
Freiheit nur soweit beschränkt werden dürfe,
als es der Zweck der Untersuchungshaft er¬
heischt, daß ihm aber darüber hinaus seine
Willensfreiheit gelassen werden müsse. Weiter
habe der Gefangene Wohl einen Anspruch auf
rechtzeitige Lieferung ausreichender Nahrung
durch die Gefängnisverwaltung; aber letztere
habe keinen Anspruch darauf, daß der Ge¬
fangene diese Nahrung auch zu sich nehme.

Bei diesem Punkte glaube ich, kann man
mit einem erfolgreichen Widerspruche gegen
diese Auffassung einsetzen. Der Untersuchungs¬
gefangene ist nicht bloß Gegenstand eines
Strafverfahrens, sondern, indem er in das
Gefängnis aufgenommen worden ist, auch
Mitglied einer staatlich organisierten Gemein¬
schaft und zwar einer solchen, die nur durch
eine ganz straffe Disziplin in Ordnung ge¬
halten werden kann.

[Spaltenumbruch]

Nach den Disziplinarbestimmungen der
Gefängnisordnung muß jeder Gefangene,
auch der Untersuchungsgefangene, seine Zelle
selbst aufräumen, muß allmorgentlich zu
einem Spaziergange antreten, muß sich
wöchentlich einmal baden, alles Betätigungen,
die er vielleicht in der Freiheit nicht macht,
und welche deshalb, wenn sie ihm aufgenötigt
werden, Eingriffe in seine Willensfreiheit be¬
deuten, die doch mit dem Sicherungszwecke
der Untersuchungshaft nicht das geringste zu
tun haben. Weiter kann ein in Freiheit be¬
findlicher Mensch seinen Mitmenschen soviel
Briefe schreiben, als er Lust hat, das Zu¬
stecken eines Kassibers unter Gefangenen je¬
doch wird disziplinarisch mit Entziehung der
warmen Kost oder dos Bettlagcrs geahndet,
auch wenn der Kassiber ganz harmlose Mit¬
teilungen enthält. Wir sehen also, die
Willensfreiheit der Untersuchungsgefangenen
wird auch überall da beschränkt, wo es die
Aufrechterhaltung der Ordnung, Ruhe, Ge¬
sundheit, Sauberkeit usw. im Gefängnis er¬
heischt. Alsdann wird man aber auch be¬
denkenlos folgern dürfen: die Weigerung,
die gebotene Nahrung zu nehmen, verstößt
genau so gut gegen den ordnungsmäßigen
Betrieb im Gefängnis, wie die Weigerung,
die Zelle aufzuräumen oder zu baden. Da
man einen freiwillig Hungernden nicht durch
Entziehung der Nahrung strafen kann, so
bleibt kein anderes Mittel, seinen disziplin¬
widrigen Willen zu brechen, als die Zwangs¬
ernährung.

Solange wir nicht einem Verurteilten,
der seine Verurteilung nicht zu überleben
wünscht, einen Revolver in die Hand drücken
dürfen, wie jene österreichischen Offiziere dem
Obersten Redi, solange entspricht es unseren
Anschauungen von Humanität immer noch
mehr, jemanden zwangsweise zu ernähren,
als zuzusehen, wie er sich langsam zu Tode
hungert.

Lcmdgcrichtsrat Dr. Sontag
Aunst

Der illustrierte Jörn Abt. Es ist eine
auffällige Merkwürdigkeit, daß viele Biblio¬
philen illustrierte Bücher nur mit Borsicht in
die Hand nehmen oder erwerben. Die Ur-

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

und Strafkammern von Berlin seit zwei Jahren
mit energischen Strafen vorgehen, wegen Be¬
truges und Verleitung geschäftsunerfahrener
Leute zum Börsenspiel mit anderthalb Jahren
Gefängnis bestraft worden. Auf diese Strafe
find ihm noch zehn Monate Untersuchungshaft
angerechnet worden. Der Verurteilte hat
Revision eingelegt; vom gleichen Tage ab
aber hatte er die Aufnahme jeder festen Nah¬
rung verweigert —, wie die Zeitungen
schreiben, weil er das Urteil nicht als richtig
anerkennen könne. Ich kenne den Verur¬
teilten besser und glaube nicht an dieses
Motiv. Dieser Bankier ist — abgesehen von
dem geschäftlichen Gebiete, auf dem er nach
meiner Überzeugung schwer gefehlt hat, —
ein Mann von Ehre, welcher die entehrende
Gefängnisstrafe nicht glaubt ertragen zu
können. Nach meiner Überzeugung wollte er
sich durch einen stolzen und schweren Tod in
den Augen seiner Freunde rehabilitieren.
So hatte er beschlossen, sich zu Tode zu hungern,
und hatte den Entschluß eine lange Reihe von
Tagen mit seltener Energie durchgeführt.

Damit hatte er die Strafbehörde und Ge-
fängnißdircktion vor das schwierige Problem
gestellt, ob sie ein Recht habe, auch einen
Untersuchungsgefangenen zwangsweise zu er¬
nähren.

Von der einen Seite wird argumentiert,
daß nach unserem geltenden Prozeßrecht der
Untersuchungsgefangene in seiner persönlichen
Freiheit nur soweit beschränkt werden dürfe,
als es der Zweck der Untersuchungshaft er¬
heischt, daß ihm aber darüber hinaus seine
Willensfreiheit gelassen werden müsse. Weiter
habe der Gefangene Wohl einen Anspruch auf
rechtzeitige Lieferung ausreichender Nahrung
durch die Gefängnisverwaltung; aber letztere
habe keinen Anspruch darauf, daß der Ge¬
fangene diese Nahrung auch zu sich nehme.

Bei diesem Punkte glaube ich, kann man
mit einem erfolgreichen Widerspruche gegen
diese Auffassung einsetzen. Der Untersuchungs¬
gefangene ist nicht bloß Gegenstand eines
Strafverfahrens, sondern, indem er in das
Gefängnis aufgenommen worden ist, auch
Mitglied einer staatlich organisierten Gemein¬
schaft und zwar einer solchen, die nur durch
eine ganz straffe Disziplin in Ordnung ge¬
halten werden kann.

[Spaltenumbruch]

Nach den Disziplinarbestimmungen der
Gefängnisordnung muß jeder Gefangene,
auch der Untersuchungsgefangene, seine Zelle
selbst aufräumen, muß allmorgentlich zu
einem Spaziergange antreten, muß sich
wöchentlich einmal baden, alles Betätigungen,
die er vielleicht in der Freiheit nicht macht,
und welche deshalb, wenn sie ihm aufgenötigt
werden, Eingriffe in seine Willensfreiheit be¬
deuten, die doch mit dem Sicherungszwecke
der Untersuchungshaft nicht das geringste zu
tun haben. Weiter kann ein in Freiheit be¬
findlicher Mensch seinen Mitmenschen soviel
Briefe schreiben, als er Lust hat, das Zu¬
stecken eines Kassibers unter Gefangenen je¬
doch wird disziplinarisch mit Entziehung der
warmen Kost oder dos Bettlagcrs geahndet,
auch wenn der Kassiber ganz harmlose Mit¬
teilungen enthält. Wir sehen also, die
Willensfreiheit der Untersuchungsgefangenen
wird auch überall da beschränkt, wo es die
Aufrechterhaltung der Ordnung, Ruhe, Ge¬
sundheit, Sauberkeit usw. im Gefängnis er¬
heischt. Alsdann wird man aber auch be¬
denkenlos folgern dürfen: die Weigerung,
die gebotene Nahrung zu nehmen, verstößt
genau so gut gegen den ordnungsmäßigen
Betrieb im Gefängnis, wie die Weigerung,
die Zelle aufzuräumen oder zu baden. Da
man einen freiwillig Hungernden nicht durch
Entziehung der Nahrung strafen kann, so
bleibt kein anderes Mittel, seinen disziplin¬
widrigen Willen zu brechen, als die Zwangs¬
ernährung.

Solange wir nicht einem Verurteilten,
der seine Verurteilung nicht zu überleben
wünscht, einen Revolver in die Hand drücken
dürfen, wie jene österreichischen Offiziere dem
Obersten Redi, solange entspricht es unseren
Anschauungen von Humanität immer noch
mehr, jemanden zwangsweise zu ernähren,
als zuzusehen, wie er sich langsam zu Tode
hungert.

Lcmdgcrichtsrat Dr. Sontag
Aunst

Der illustrierte Jörn Abt. Es ist eine
auffällige Merkwürdigkeit, daß viele Biblio¬
philen illustrierte Bücher nur mit Borsicht in
die Hand nehmen oder erwerben. Die Ur-

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[0592] Maßgebliches und Unmaßgebliches und Strafkammern von Berlin seit zwei Jahren mit energischen Strafen vorgehen, wegen Be¬ truges und Verleitung geschäftsunerfahrener Leute zum Börsenspiel mit anderthalb Jahren Gefängnis bestraft worden. Auf diese Strafe find ihm noch zehn Monate Untersuchungshaft angerechnet worden. Der Verurteilte hat Revision eingelegt; vom gleichen Tage ab aber hatte er die Aufnahme jeder festen Nah¬ rung verweigert —, wie die Zeitungen schreiben, weil er das Urteil nicht als richtig anerkennen könne. Ich kenne den Verur¬ teilten besser und glaube nicht an dieses Motiv. Dieser Bankier ist — abgesehen von dem geschäftlichen Gebiete, auf dem er nach meiner Überzeugung schwer gefehlt hat, — ein Mann von Ehre, welcher die entehrende Gefängnisstrafe nicht glaubt ertragen zu können. Nach meiner Überzeugung wollte er sich durch einen stolzen und schweren Tod in den Augen seiner Freunde rehabilitieren. So hatte er beschlossen, sich zu Tode zu hungern, und hatte den Entschluß eine lange Reihe von Tagen mit seltener Energie durchgeführt. Damit hatte er die Strafbehörde und Ge- fängnißdircktion vor das schwierige Problem gestellt, ob sie ein Recht habe, auch einen Untersuchungsgefangenen zwangsweise zu er¬ nähren. Von der einen Seite wird argumentiert, daß nach unserem geltenden Prozeßrecht der Untersuchungsgefangene in seiner persönlichen Freiheit nur soweit beschränkt werden dürfe, als es der Zweck der Untersuchungshaft er¬ heischt, daß ihm aber darüber hinaus seine Willensfreiheit gelassen werden müsse. Weiter habe der Gefangene Wohl einen Anspruch auf rechtzeitige Lieferung ausreichender Nahrung durch die Gefängnisverwaltung; aber letztere habe keinen Anspruch darauf, daß der Ge¬ fangene diese Nahrung auch zu sich nehme. Bei diesem Punkte glaube ich, kann man mit einem erfolgreichen Widerspruche gegen diese Auffassung einsetzen. Der Untersuchungs¬ gefangene ist nicht bloß Gegenstand eines Strafverfahrens, sondern, indem er in das Gefängnis aufgenommen worden ist, auch Mitglied einer staatlich organisierten Gemein¬ schaft und zwar einer solchen, die nur durch eine ganz straffe Disziplin in Ordnung ge¬ halten werden kann. Nach den Disziplinarbestimmungen der Gefängnisordnung muß jeder Gefangene, auch der Untersuchungsgefangene, seine Zelle selbst aufräumen, muß allmorgentlich zu einem Spaziergange antreten, muß sich wöchentlich einmal baden, alles Betätigungen, die er vielleicht in der Freiheit nicht macht, und welche deshalb, wenn sie ihm aufgenötigt werden, Eingriffe in seine Willensfreiheit be¬ deuten, die doch mit dem Sicherungszwecke der Untersuchungshaft nicht das geringste zu tun haben. Weiter kann ein in Freiheit be¬ findlicher Mensch seinen Mitmenschen soviel Briefe schreiben, als er Lust hat, das Zu¬ stecken eines Kassibers unter Gefangenen je¬ doch wird disziplinarisch mit Entziehung der warmen Kost oder dos Bettlagcrs geahndet, auch wenn der Kassiber ganz harmlose Mit¬ teilungen enthält. Wir sehen also, die Willensfreiheit der Untersuchungsgefangenen wird auch überall da beschränkt, wo es die Aufrechterhaltung der Ordnung, Ruhe, Ge¬ sundheit, Sauberkeit usw. im Gefängnis er¬ heischt. Alsdann wird man aber auch be¬ denkenlos folgern dürfen: die Weigerung, die gebotene Nahrung zu nehmen, verstößt genau so gut gegen den ordnungsmäßigen Betrieb im Gefängnis, wie die Weigerung, die Zelle aufzuräumen oder zu baden. Da man einen freiwillig Hungernden nicht durch Entziehung der Nahrung strafen kann, so bleibt kein anderes Mittel, seinen disziplin¬ widrigen Willen zu brechen, als die Zwangs¬ ernährung. Solange wir nicht einem Verurteilten, der seine Verurteilung nicht zu überleben wünscht, einen Revolver in die Hand drücken dürfen, wie jene österreichischen Offiziere dem Obersten Redi, solange entspricht es unseren Anschauungen von Humanität immer noch mehr, jemanden zwangsweise zu ernähren, als zuzusehen, wie er sich langsam zu Tode hungert. Lcmdgcrichtsrat Dr. Sontag Aunst Der illustrierte Jörn Abt. Es ist eine auffällige Merkwürdigkeit, daß viele Biblio¬ philen illustrierte Bücher nur mit Borsicht in die Hand nehmen oder erwerben. Die Ur-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/592>, abgerufen am 27.04.2024.