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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

bemerken, daß der Westen ihren Idealen bereits ein gutes Stück vorangegangen
ist. und daß auch die Deutschen ihre nationalen Kräfte für andere Aufgaben
einsetzen, als wie die Russen sie ihnen stellen. Deutschland und das Deutschtum
sind in den Jahrzehnten zur Achtung eines Staatsbegriffs herangereift, der sich
an die ethnographischen Grenzen nicht zu klammern braucht. Das Staats¬
bürgertum in den einzelnen Rechtsstaaten hat soviel neue Möglichkeiten sür die
Entfaltung neuer Verbindungen zwischen gleichgearteten Staaten geschaffen, daß
wir uns allen Völkern der Krone Habsburgs nähern können, ohne den Hinter¬
gedanken der Loslösung eines derselben. Parallel zu den Arbeiten der Diplo¬
maten läuft die Arbeit der schaffenden Stände, die herüber und hinüber durch
das Machtmittel gemeinsamer Wirtschaftsinteressen, gemeinsam Schranken
nationaler und staatsrechtlicher Art niederreißen, ohne die staatlichen, monarchi¬
schen und kulturellen Interessen eines der Kontrahenten zu gefährden. Im
Sommer dieses Jahres sind reichsdeutsche und österreichische Gewerbetreibende,
die unseren vertreten durch den Vizepräsidenten des Reichstags, Geheimrat
Paasche, in Wien zusammengetreten, um an dem Plan eines Mitteleuropäischen
Wirtschaftsverbandes praktisch weiter zu bauen. Nachdem aber solche Wege
einmal betreten sind, liegt die Gefahr einer Entwicklung, wie zahlreiche Russen
sie erhoffen, in weiterer Ferne, als nach dem großen Einigungskriege. Ein
Krieg, zu dem Rußland oder Frankreich die Dreibundmächte zwänge, würde
solche Entwicklung nur beschleunigen. Ob aber sich dann nennenswerte slawische
Bäche ins russische Meer ergossen? Gute Russen bezweifeln es, denn sie
beobachten richtig, daß die kleinen slawischen Brüder schon längst der erobernden
Kultnrmacht des Westens verfallen sind, also von Nußland, dem in Asien noch
so bedeutsame Aufgaben gestellt sind, nicht mehr viel gewinnen können. Die
Entwicklung der Orientfrage feit vierzig Jahren hat nur die Überlegenheit des
europäischen Westens über das Moskowitertum erwiesen.

Ähnliche Erfahrungen dürften die Russen auch mit den Polen machen:
auch dieser slawische Bach wird sich dem Hauptstrom anschließen, der ihm
kulturelle Selbständigkeit gewährleistet, wollte er nicht anders sich im russischen
M G. Llemow eer ersäufen.


Die Lage auf der Balkanhalbinsel

Vor einem Jahre waren die politischen Wetterpropheten ganz besonders
geschäftig. Es war gerade die Zeit, als die Bulgaren in ungestümem Anprall
die nicht genügend kriegsbereiten, an allerhand Mängeln der Organisation und
an den Folgen politischer ZersetzungSerscheimmgen leidenden türkischen Truppen
über den Haufen geworfen hatten, als den Bulgaren beinahe schon der Weg
nach Konstantinopel offen zu stehen schien, als zugleich vor den siegreich vor¬
dringenden Griechen und Serben im Westen und im Innern der Balkanhalb¬
insel ein Stück der türkischen Herrschaft nach dem andern zusammenbrach.
Damals waren es ganz bestimmte, aus den landläufigen Vorstellungen von den


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bemerken, daß der Westen ihren Idealen bereits ein gutes Stück vorangegangen
ist. und daß auch die Deutschen ihre nationalen Kräfte für andere Aufgaben
einsetzen, als wie die Russen sie ihnen stellen. Deutschland und das Deutschtum
sind in den Jahrzehnten zur Achtung eines Staatsbegriffs herangereift, der sich
an die ethnographischen Grenzen nicht zu klammern braucht. Das Staats¬
bürgertum in den einzelnen Rechtsstaaten hat soviel neue Möglichkeiten sür die
Entfaltung neuer Verbindungen zwischen gleichgearteten Staaten geschaffen, daß
wir uns allen Völkern der Krone Habsburgs nähern können, ohne den Hinter¬
gedanken der Loslösung eines derselben. Parallel zu den Arbeiten der Diplo¬
maten läuft die Arbeit der schaffenden Stände, die herüber und hinüber durch
das Machtmittel gemeinsamer Wirtschaftsinteressen, gemeinsam Schranken
nationaler und staatsrechtlicher Art niederreißen, ohne die staatlichen, monarchi¬
schen und kulturellen Interessen eines der Kontrahenten zu gefährden. Im
Sommer dieses Jahres sind reichsdeutsche und österreichische Gewerbetreibende,
die unseren vertreten durch den Vizepräsidenten des Reichstags, Geheimrat
Paasche, in Wien zusammengetreten, um an dem Plan eines Mitteleuropäischen
Wirtschaftsverbandes praktisch weiter zu bauen. Nachdem aber solche Wege
einmal betreten sind, liegt die Gefahr einer Entwicklung, wie zahlreiche Russen
sie erhoffen, in weiterer Ferne, als nach dem großen Einigungskriege. Ein
Krieg, zu dem Rußland oder Frankreich die Dreibundmächte zwänge, würde
solche Entwicklung nur beschleunigen. Ob aber sich dann nennenswerte slawische
Bäche ins russische Meer ergossen? Gute Russen bezweifeln es, denn sie
beobachten richtig, daß die kleinen slawischen Brüder schon längst der erobernden
Kultnrmacht des Westens verfallen sind, also von Nußland, dem in Asien noch
so bedeutsame Aufgaben gestellt sind, nicht mehr viel gewinnen können. Die
Entwicklung der Orientfrage feit vierzig Jahren hat nur die Überlegenheit des
europäischen Westens über das Moskowitertum erwiesen.

Ähnliche Erfahrungen dürften die Russen auch mit den Polen machen:
auch dieser slawische Bach wird sich dem Hauptstrom anschließen, der ihm
kulturelle Selbständigkeit gewährleistet, wollte er nicht anders sich im russischen
M G. Llemow eer ersäufen.


Die Lage auf der Balkanhalbinsel

Vor einem Jahre waren die politischen Wetterpropheten ganz besonders
geschäftig. Es war gerade die Zeit, als die Bulgaren in ungestümem Anprall
die nicht genügend kriegsbereiten, an allerhand Mängeln der Organisation und
an den Folgen politischer ZersetzungSerscheimmgen leidenden türkischen Truppen
über den Haufen geworfen hatten, als den Bulgaren beinahe schon der Weg
nach Konstantinopel offen zu stehen schien, als zugleich vor den siegreich vor¬
dringenden Griechen und Serben im Westen und im Innern der Balkanhalb¬
insel ein Stück der türkischen Herrschaft nach dem andern zusammenbrach.
Damals waren es ganz bestimmte, aus den landläufigen Vorstellungen von den


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/636>, abgerufen am 28.04.2024.