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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Roichsspiegel

Balkanverhältnissen stammende Gedanken, die das allgemeine Urteil vorzugsweise
beherrschten. Man sah in dem Balkanbund die Grundlage einer großen
Organisation slawiischer Macht, die unter russischer Führung ein gewaltiges
Übergewicht des Slawentums im nahen Orient herstellen werde. Daran knüpfte
sich weiter die Vorstellung von dem nahe bevorstehenden gänzlichen Zusammen¬
bruch der europäischen Türkei mit allen möglichen unberechenbaren Folgen für
das europäische Wirtschaftsleben und die damit in Zusammenhang stehenden
Interessen der einzelnen Großmächte. Deshalb war man auch nicht sicher, ob
nicht aus diesen Orientwirren der große Weltbrand entstehen würde, dessen
Möglichkeit aus kaum einer politischen Berechnung ausgeschaltet werden konnte
und dessen Eintritt vielen sogar so sicher schien, daß sie nicht mehr daran zu
zweifeln wagten. Nicht ganz logisch freilich war es, daß gerade diejenigen,
die am meisten von der Gefahr eines europäischen Krieges überzeugt
waren, sich am lautesten darüber lustig machten, daß die Großmächte um die
Erhaltung des sogenannten status quo noch zu einer Zeit bemüht schienen,
als die Ereignisse auf der Balkanhalbinsel bereits eine ganz andere Lage ge¬
schaffen hatten.

Ich meine: es war nicht ganz logisch, die Sache so aufzufassen, als ob
der Grundsatz der Erhaltung des 8tatu8 quo der kindliche Ausdruck einer
vollendeten Hilflosigkeit der europäischen Diplomatie gewesen wäre, und daraus
nun den Schluß zu ziehen, es sei nur noch eine Frage einer kurzen Zeit, daß
das europäische Konzert vollständig in die Brüche gehe. Im Gegenteil: der
Ausbruch der Balkanwirren kam allen Großmächten mehr oder weniger unge¬
legen, und alle waren sich darüber einig, daß man dieser Entwicklung unter
keinen Umständen gestatten dürfe, die im eigenen Interesse vorgezeichnete Politik
aus der Bahn zu werfen. Deshalb entschlossen sich die Großmächte, unter
allen Umständen in den Orientfragen eine gemeinsame Verständigung zu suchen
und bis zur Entscheidung der Dinge auf der Balkanhalbinsel auf jede besondere
Orientpolitik zu verzichten. Dieser Absicht diente die Formel vom 8wtus quo;
sie war nichts weniger als der Ausdruck lächerlicher Hilflosigkeit, sondern der
einzig mögliche und den Eingeweihten als solcher vollkommen verständliche, ge¬
meinsame Ausgangspunkt gemeinsamen Handelns, worin zugleich der Verzicht
auf gesonderte Ziele der einzelnen Großmächte ausgedrückt lag.

Wenn man nun freilich diese weise Selbstbeschränkung der Mächte als ein
Zeichen für das siegreiche Fortschreiten pazifistischer Neigungen ansehen wollte,
würde man sich arg täuschen. Der Grund der allgemeinen Friedfertigkeit war
sehr nüchterner Natur und entbehrte jeder Sentimentalität. Die besonderen
Interessen der europäischen Staaten haben unter den Großmächten die Gruppie¬
rung geschaffen, die sich in der Sonderung von Dreibund und Dreiverband
zeigt. Alle Interessen sind darauf eingestellt, und man kann heute einen großen
europäischen Krieg nicht improvisieren, wenn man nicht einigermaßen übersieht,
auf welche Bundesgenossen und Gegner man zählen kann. Daraus folgt, daß


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Balkanverhältnissen stammende Gedanken, die das allgemeine Urteil vorzugsweise
beherrschten. Man sah in dem Balkanbund die Grundlage einer großen
Organisation slawiischer Macht, die unter russischer Führung ein gewaltiges
Übergewicht des Slawentums im nahen Orient herstellen werde. Daran knüpfte
sich weiter die Vorstellung von dem nahe bevorstehenden gänzlichen Zusammen¬
bruch der europäischen Türkei mit allen möglichen unberechenbaren Folgen für
das europäische Wirtschaftsleben und die damit in Zusammenhang stehenden
Interessen der einzelnen Großmächte. Deshalb war man auch nicht sicher, ob
nicht aus diesen Orientwirren der große Weltbrand entstehen würde, dessen
Möglichkeit aus kaum einer politischen Berechnung ausgeschaltet werden konnte
und dessen Eintritt vielen sogar so sicher schien, daß sie nicht mehr daran zu
zweifeln wagten. Nicht ganz logisch freilich war es, daß gerade diejenigen,
die am meisten von der Gefahr eines europäischen Krieges überzeugt
waren, sich am lautesten darüber lustig machten, daß die Großmächte um die
Erhaltung des sogenannten status quo noch zu einer Zeit bemüht schienen,
als die Ereignisse auf der Balkanhalbinsel bereits eine ganz andere Lage ge¬
schaffen hatten.

Ich meine: es war nicht ganz logisch, die Sache so aufzufassen, als ob
der Grundsatz der Erhaltung des 8tatu8 quo der kindliche Ausdruck einer
vollendeten Hilflosigkeit der europäischen Diplomatie gewesen wäre, und daraus
nun den Schluß zu ziehen, es sei nur noch eine Frage einer kurzen Zeit, daß
das europäische Konzert vollständig in die Brüche gehe. Im Gegenteil: der
Ausbruch der Balkanwirren kam allen Großmächten mehr oder weniger unge¬
legen, und alle waren sich darüber einig, daß man dieser Entwicklung unter
keinen Umständen gestatten dürfe, die im eigenen Interesse vorgezeichnete Politik
aus der Bahn zu werfen. Deshalb entschlossen sich die Großmächte, unter
allen Umständen in den Orientfragen eine gemeinsame Verständigung zu suchen
und bis zur Entscheidung der Dinge auf der Balkanhalbinsel auf jede besondere
Orientpolitik zu verzichten. Dieser Absicht diente die Formel vom 8wtus quo;
sie war nichts weniger als der Ausdruck lächerlicher Hilflosigkeit, sondern der
einzig mögliche und den Eingeweihten als solcher vollkommen verständliche, ge¬
meinsame Ausgangspunkt gemeinsamen Handelns, worin zugleich der Verzicht
auf gesonderte Ziele der einzelnen Großmächte ausgedrückt lag.

Wenn man nun freilich diese weise Selbstbeschränkung der Mächte als ein
Zeichen für das siegreiche Fortschreiten pazifistischer Neigungen ansehen wollte,
würde man sich arg täuschen. Der Grund der allgemeinen Friedfertigkeit war
sehr nüchterner Natur und entbehrte jeder Sentimentalität. Die besonderen
Interessen der europäischen Staaten haben unter den Großmächten die Gruppie¬
rung geschaffen, die sich in der Sonderung von Dreibund und Dreiverband
zeigt. Alle Interessen sind darauf eingestellt, und man kann heute einen großen
europäischen Krieg nicht improvisieren, wenn man nicht einigermaßen übersieht,
auf welche Bundesgenossen und Gegner man zählen kann. Daraus folgt, daß


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[0637] Roichsspiegel Balkanverhältnissen stammende Gedanken, die das allgemeine Urteil vorzugsweise beherrschten. Man sah in dem Balkanbund die Grundlage einer großen Organisation slawiischer Macht, die unter russischer Führung ein gewaltiges Übergewicht des Slawentums im nahen Orient herstellen werde. Daran knüpfte sich weiter die Vorstellung von dem nahe bevorstehenden gänzlichen Zusammen¬ bruch der europäischen Türkei mit allen möglichen unberechenbaren Folgen für das europäische Wirtschaftsleben und die damit in Zusammenhang stehenden Interessen der einzelnen Großmächte. Deshalb war man auch nicht sicher, ob nicht aus diesen Orientwirren der große Weltbrand entstehen würde, dessen Möglichkeit aus kaum einer politischen Berechnung ausgeschaltet werden konnte und dessen Eintritt vielen sogar so sicher schien, daß sie nicht mehr daran zu zweifeln wagten. Nicht ganz logisch freilich war es, daß gerade diejenigen, die am meisten von der Gefahr eines europäischen Krieges überzeugt waren, sich am lautesten darüber lustig machten, daß die Großmächte um die Erhaltung des sogenannten status quo noch zu einer Zeit bemüht schienen, als die Ereignisse auf der Balkanhalbinsel bereits eine ganz andere Lage ge¬ schaffen hatten. Ich meine: es war nicht ganz logisch, die Sache so aufzufassen, als ob der Grundsatz der Erhaltung des 8tatu8 quo der kindliche Ausdruck einer vollendeten Hilflosigkeit der europäischen Diplomatie gewesen wäre, und daraus nun den Schluß zu ziehen, es sei nur noch eine Frage einer kurzen Zeit, daß das europäische Konzert vollständig in die Brüche gehe. Im Gegenteil: der Ausbruch der Balkanwirren kam allen Großmächten mehr oder weniger unge¬ legen, und alle waren sich darüber einig, daß man dieser Entwicklung unter keinen Umständen gestatten dürfe, die im eigenen Interesse vorgezeichnete Politik aus der Bahn zu werfen. Deshalb entschlossen sich die Großmächte, unter allen Umständen in den Orientfragen eine gemeinsame Verständigung zu suchen und bis zur Entscheidung der Dinge auf der Balkanhalbinsel auf jede besondere Orientpolitik zu verzichten. Dieser Absicht diente die Formel vom 8wtus quo; sie war nichts weniger als der Ausdruck lächerlicher Hilflosigkeit, sondern der einzig mögliche und den Eingeweihten als solcher vollkommen verständliche, ge¬ meinsame Ausgangspunkt gemeinsamen Handelns, worin zugleich der Verzicht auf gesonderte Ziele der einzelnen Großmächte ausgedrückt lag. Wenn man nun freilich diese weise Selbstbeschränkung der Mächte als ein Zeichen für das siegreiche Fortschreiten pazifistischer Neigungen ansehen wollte, würde man sich arg täuschen. Der Grund der allgemeinen Friedfertigkeit war sehr nüchterner Natur und entbehrte jeder Sentimentalität. Die besonderen Interessen der europäischen Staaten haben unter den Großmächten die Gruppie¬ rung geschaffen, die sich in der Sonderung von Dreibund und Dreiverband zeigt. Alle Interessen sind darauf eingestellt, und man kann heute einen großen europäischen Krieg nicht improvisieren, wenn man nicht einigermaßen übersieht, auf welche Bundesgenossen und Gegner man zählen kann. Daraus folgt, daß

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/637>, abgerufen am 12.05.2024.