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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Alte und neue Aunstbetrachtung
Dr, R. Schacht von

ete Wissenschaft hat eine theoretische und eine praktische Tendenz.
Beide muß sie gleichmäßig pflegen, wenn sie nicht einerseits durch
Lebensfremdheit verknöchern, anderseits durch die Anforderungen
des praktischen Lebens vergewaltigt und mißgestaltet werden will.
Gelingt ihr diese gleichmäßige Förderung nach beiden Seiten
nicht, so pflegt allemal eine gefährliche Krisis einzutreten, an der sie für lauge
Zeit zu leiden hat. Vor einer solchen Krisis scheint gegenwärtig die Kunst¬
wissenschaft zu stehen. Die wissenschaftlich berufenen Forscher haben mit ganz
wenigen Ausnahmen einem rein theoretischen Ideal zuliebe den Anforderungen
des Lebens den Rücken gekehrt und sich in dem verhängnisvollen Glauben,
daß jeder Gegenstand wissenschaftlicher Forschung auch geistig lebendig werden
könnte, tief in ihre Spezialgebiete versenkt, während die praktische, pädagogische
Tendenz, neue Werte zu schaffen und zu vermitteln, immer mehr unter die
Hände der journalistisch gerichteten Geister gerät, die sie jedoch selten ernst genug
nehmen und lieber mit dem Glanz der eigenen geistreichen Person prunken als
sich mit der stillen dein Erzieher gewidmeten Dankbarkeit begnügen wollen.
Was zwischen beiden Lagern steht, wagt sich aus überängstlicher Gewissenhaftigkeit,
aus allzu ehrlichem, und darum unfruchtbarem Skeptizismus und -- nicht selten --
aus ein wenig Bequemlichkeit an größere Aufgaben nicht heran. So ist es
denn an der Zeit, einmal den Blick zurückzusenden, um zu sehen, was früher
geleistet wurde, vielleicht werden wir alte gute, aber verschüttete oder über¬
wachsene Wege finden, die sich fortführen lassen in neues Land.

Zu solcher Betrachtung bietet sich jetzt erwünschte Gelegenheit durch die
kürzlich im Insel-Verlag erschienene Auswahl der Kleinen Schriften Winckel-
manns, der ja der Ahnherr der Kunstgeschichte genannt worden ist. Wodurch nun
unterscheiden sich diese Aufsätze, die der Herausgeber lobenswerterweise von
allem damals üblichen, heute antiquierten Zitatenprunk und Belegballast gereinigt
hat, vou modernen Untersuchungen? Vor allem dadurch, daß sie ein durch
eigene Sammlertätigkeit und umfassende Kenntnis gefestigtes ästhetisches Programm
enthalten, ein Programm, das sich so siegreich erwiesen hat, daß wir uns noch
heute, bewußt oder unbewußt damit auseinandersetzen. Wenn man einmal




Alte und neue Aunstbetrachtung
Dr, R. Schacht von

ete Wissenschaft hat eine theoretische und eine praktische Tendenz.
Beide muß sie gleichmäßig pflegen, wenn sie nicht einerseits durch
Lebensfremdheit verknöchern, anderseits durch die Anforderungen
des praktischen Lebens vergewaltigt und mißgestaltet werden will.
Gelingt ihr diese gleichmäßige Förderung nach beiden Seiten
nicht, so pflegt allemal eine gefährliche Krisis einzutreten, an der sie für lauge
Zeit zu leiden hat. Vor einer solchen Krisis scheint gegenwärtig die Kunst¬
wissenschaft zu stehen. Die wissenschaftlich berufenen Forscher haben mit ganz
wenigen Ausnahmen einem rein theoretischen Ideal zuliebe den Anforderungen
des Lebens den Rücken gekehrt und sich in dem verhängnisvollen Glauben,
daß jeder Gegenstand wissenschaftlicher Forschung auch geistig lebendig werden
könnte, tief in ihre Spezialgebiete versenkt, während die praktische, pädagogische
Tendenz, neue Werte zu schaffen und zu vermitteln, immer mehr unter die
Hände der journalistisch gerichteten Geister gerät, die sie jedoch selten ernst genug
nehmen und lieber mit dem Glanz der eigenen geistreichen Person prunken als
sich mit der stillen dein Erzieher gewidmeten Dankbarkeit begnügen wollen.
Was zwischen beiden Lagern steht, wagt sich aus überängstlicher Gewissenhaftigkeit,
aus allzu ehrlichem, und darum unfruchtbarem Skeptizismus und — nicht selten —
aus ein wenig Bequemlichkeit an größere Aufgaben nicht heran. So ist es
denn an der Zeit, einmal den Blick zurückzusenden, um zu sehen, was früher
geleistet wurde, vielleicht werden wir alte gute, aber verschüttete oder über¬
wachsene Wege finden, die sich fortführen lassen in neues Land.

Zu solcher Betrachtung bietet sich jetzt erwünschte Gelegenheit durch die
kürzlich im Insel-Verlag erschienene Auswahl der Kleinen Schriften Winckel-
manns, der ja der Ahnherr der Kunstgeschichte genannt worden ist. Wodurch nun
unterscheiden sich diese Aufsätze, die der Herausgeber lobenswerterweise von
allem damals üblichen, heute antiquierten Zitatenprunk und Belegballast gereinigt
hat, vou modernen Untersuchungen? Vor allem dadurch, daß sie ein durch
eigene Sammlertätigkeit und umfassende Kenntnis gefestigtes ästhetisches Programm
enthalten, ein Programm, das sich so siegreich erwiesen hat, daß wir uns noch
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[0571] [Abbildung] Alte und neue Aunstbetrachtung Dr, R. Schacht von ete Wissenschaft hat eine theoretische und eine praktische Tendenz. Beide muß sie gleichmäßig pflegen, wenn sie nicht einerseits durch Lebensfremdheit verknöchern, anderseits durch die Anforderungen des praktischen Lebens vergewaltigt und mißgestaltet werden will. Gelingt ihr diese gleichmäßige Förderung nach beiden Seiten nicht, so pflegt allemal eine gefährliche Krisis einzutreten, an der sie für lauge Zeit zu leiden hat. Vor einer solchen Krisis scheint gegenwärtig die Kunst¬ wissenschaft zu stehen. Die wissenschaftlich berufenen Forscher haben mit ganz wenigen Ausnahmen einem rein theoretischen Ideal zuliebe den Anforderungen des Lebens den Rücken gekehrt und sich in dem verhängnisvollen Glauben, daß jeder Gegenstand wissenschaftlicher Forschung auch geistig lebendig werden könnte, tief in ihre Spezialgebiete versenkt, während die praktische, pädagogische Tendenz, neue Werte zu schaffen und zu vermitteln, immer mehr unter die Hände der journalistisch gerichteten Geister gerät, die sie jedoch selten ernst genug nehmen und lieber mit dem Glanz der eigenen geistreichen Person prunken als sich mit der stillen dein Erzieher gewidmeten Dankbarkeit begnügen wollen. Was zwischen beiden Lagern steht, wagt sich aus überängstlicher Gewissenhaftigkeit, aus allzu ehrlichem, und darum unfruchtbarem Skeptizismus und — nicht selten — aus ein wenig Bequemlichkeit an größere Aufgaben nicht heran. So ist es denn an der Zeit, einmal den Blick zurückzusenden, um zu sehen, was früher geleistet wurde, vielleicht werden wir alte gute, aber verschüttete oder über¬ wachsene Wege finden, die sich fortführen lassen in neues Land. Zu solcher Betrachtung bietet sich jetzt erwünschte Gelegenheit durch die kürzlich im Insel-Verlag erschienene Auswahl der Kleinen Schriften Winckel- manns, der ja der Ahnherr der Kunstgeschichte genannt worden ist. Wodurch nun unterscheiden sich diese Aufsätze, die der Herausgeber lobenswerterweise von allem damals üblichen, heute antiquierten Zitatenprunk und Belegballast gereinigt hat, vou modernen Untersuchungen? Vor allem dadurch, daß sie ein durch eigene Sammlertätigkeit und umfassende Kenntnis gefestigtes ästhetisches Programm enthalten, ein Programm, das sich so siegreich erwiesen hat, daß wir uns noch heute, bewußt oder unbewußt damit auseinandersetzen. Wenn man einmal

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/571>, abgerufen am 08.05.2024.