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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Die Hexe von Mayen

ward, daß die Gefangene entflohen, war der Stadtschreiber zu ihm gekommen,
hatte ihn der Mithilfe beschuldigt, auf keine seiner lahmen Ausreden gehört und
ihn eigenhändig zu dem Büttel gebracht, der schon halb betrunken vor seiner
Hütte saß. Als Sebastian sich wehrte, wurde er niedergeschlagen und dann,
als er wieder erwachte, lag er in dem tiefen Verließ, wohin weder Sonne noch
Mond schien. Zu essen erhielt er; täglich kam der Schreiber selbst, um ihm
Brod und Wasser zu bringen und ihn zugleich immer wieder zu ernähren,
seine Schuld, die Jungfrau betreffend, zu gestehen. Er konnte nicht begreifen,
wie sie entkommen war, und als Grill ihm sagte, daß sie die Hexe nach Andernach
gebracht habe, anstatt, wie sie wünschte, nach Laach, da kam die Angst über
ihn, die Braunschweiger möchten von seinen Verhandlungen mit den Franzosen
erfahren und ihnen zuvorkommen.

Aber Sebastian gestand nicht. Er wußte, daß er verloren war; wenn er
vor ein Gericht kam, würde keiner der Richter glauben, daß die Jungfrau auf
natürliche Weise entflohen wäre. Finster und trotzig lag er in seinem Verließ;
manchmal kam der Schlaf über ihn, und dann sah er ein blasses Mädchen¬
gesicht, hörte eine sanfte Stimme. Der Schreiber hatte sie für sich begehrt,
ihm war sie auf immer entwichen; war das nicht ein Grund zufrieden zu sein?
Andere Junker fielen auf dem Schlachtfeld, er starb in der Verborgenheit. Wen
würde die heilige Jungfrau freundlicher empfangen, denn hatte er nicht eine
Jungfrau beschützt? Er dachte an die heilige Genoveva, die viele Monate lang
in der Höhle des Hochsteins in Einsamkeit und Kälte gelebt hatte, er dachte an
den heiligen Sebastian mit seinen vielen Wunden, und endlich kam über ihn
die große Müdigkeit des Kerkers und des Hungers. Seit Tagen erhielt er
keine Nahrung mehr; der Schreiber blieb aus, bis sein Bursch neben ihm bellte
und warme Arme ihn umschlangen.

Kätha schob sein Lager so, daß er in die Sonne sehen konnte und in den
kleinen Garten, der zertreten war und in dem keine Pflanze mehr wuchs.

"Die Braunschweiger haben hier arg gehaust!" sagte Kätha, "aber sie
sind über die Mauer gekommen. Gerade hier," und dann stieß sie einen Laut
des Staunens aus. Denn nun erst sah sie die große Bresche in der Mauer,
die nicht mehr von Efeu umsponnen und viel weiter gemacht worden war.

Sebastian aber stand in all seiner Schwäche auf und ging über das ver¬
wüstete Land, dorthin, wo er in die weite Welt und auf die blauen Berge
sehen konnte. Aber seine Augen begannen zu schmerzen; er legte sich wieder
in das Dunkle.

(Fortsetzung folgt)




Die Hexe von Mayen

ward, daß die Gefangene entflohen, war der Stadtschreiber zu ihm gekommen,
hatte ihn der Mithilfe beschuldigt, auf keine seiner lahmen Ausreden gehört und
ihn eigenhändig zu dem Büttel gebracht, der schon halb betrunken vor seiner
Hütte saß. Als Sebastian sich wehrte, wurde er niedergeschlagen und dann,
als er wieder erwachte, lag er in dem tiefen Verließ, wohin weder Sonne noch
Mond schien. Zu essen erhielt er; täglich kam der Schreiber selbst, um ihm
Brod und Wasser zu bringen und ihn zugleich immer wieder zu ernähren,
seine Schuld, die Jungfrau betreffend, zu gestehen. Er konnte nicht begreifen,
wie sie entkommen war, und als Grill ihm sagte, daß sie die Hexe nach Andernach
gebracht habe, anstatt, wie sie wünschte, nach Laach, da kam die Angst über
ihn, die Braunschweiger möchten von seinen Verhandlungen mit den Franzosen
erfahren und ihnen zuvorkommen.

Aber Sebastian gestand nicht. Er wußte, daß er verloren war; wenn er
vor ein Gericht kam, würde keiner der Richter glauben, daß die Jungfrau auf
natürliche Weise entflohen wäre. Finster und trotzig lag er in seinem Verließ;
manchmal kam der Schlaf über ihn, und dann sah er ein blasses Mädchen¬
gesicht, hörte eine sanfte Stimme. Der Schreiber hatte sie für sich begehrt,
ihm war sie auf immer entwichen; war das nicht ein Grund zufrieden zu sein?
Andere Junker fielen auf dem Schlachtfeld, er starb in der Verborgenheit. Wen
würde die heilige Jungfrau freundlicher empfangen, denn hatte er nicht eine
Jungfrau beschützt? Er dachte an die heilige Genoveva, die viele Monate lang
in der Höhle des Hochsteins in Einsamkeit und Kälte gelebt hatte, er dachte an
den heiligen Sebastian mit seinen vielen Wunden, und endlich kam über ihn
die große Müdigkeit des Kerkers und des Hungers. Seit Tagen erhielt er
keine Nahrung mehr; der Schreiber blieb aus, bis sein Bursch neben ihm bellte
und warme Arme ihn umschlangen.

Kätha schob sein Lager so, daß er in die Sonne sehen konnte und in den
kleinen Garten, der zertreten war und in dem keine Pflanze mehr wuchs.

„Die Braunschweiger haben hier arg gehaust!" sagte Kätha, „aber sie
sind über die Mauer gekommen. Gerade hier," und dann stieß sie einen Laut
des Staunens aus. Denn nun erst sah sie die große Bresche in der Mauer,
die nicht mehr von Efeu umsponnen und viel weiter gemacht worden war.

Sebastian aber stand in all seiner Schwäche auf und ging über das ver¬
wüstete Land, dorthin, wo er in die weite Welt und auf die blauen Berge
sehen konnte. Aber seine Augen begannen zu schmerzen; er legte sich wieder
in das Dunkle.

(Fortsetzung folgt)




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[0570] Die Hexe von Mayen ward, daß die Gefangene entflohen, war der Stadtschreiber zu ihm gekommen, hatte ihn der Mithilfe beschuldigt, auf keine seiner lahmen Ausreden gehört und ihn eigenhändig zu dem Büttel gebracht, der schon halb betrunken vor seiner Hütte saß. Als Sebastian sich wehrte, wurde er niedergeschlagen und dann, als er wieder erwachte, lag er in dem tiefen Verließ, wohin weder Sonne noch Mond schien. Zu essen erhielt er; täglich kam der Schreiber selbst, um ihm Brod und Wasser zu bringen und ihn zugleich immer wieder zu ernähren, seine Schuld, die Jungfrau betreffend, zu gestehen. Er konnte nicht begreifen, wie sie entkommen war, und als Grill ihm sagte, daß sie die Hexe nach Andernach gebracht habe, anstatt, wie sie wünschte, nach Laach, da kam die Angst über ihn, die Braunschweiger möchten von seinen Verhandlungen mit den Franzosen erfahren und ihnen zuvorkommen. Aber Sebastian gestand nicht. Er wußte, daß er verloren war; wenn er vor ein Gericht kam, würde keiner der Richter glauben, daß die Jungfrau auf natürliche Weise entflohen wäre. Finster und trotzig lag er in seinem Verließ; manchmal kam der Schlaf über ihn, und dann sah er ein blasses Mädchen¬ gesicht, hörte eine sanfte Stimme. Der Schreiber hatte sie für sich begehrt, ihm war sie auf immer entwichen; war das nicht ein Grund zufrieden zu sein? Andere Junker fielen auf dem Schlachtfeld, er starb in der Verborgenheit. Wen würde die heilige Jungfrau freundlicher empfangen, denn hatte er nicht eine Jungfrau beschützt? Er dachte an die heilige Genoveva, die viele Monate lang in der Höhle des Hochsteins in Einsamkeit und Kälte gelebt hatte, er dachte an den heiligen Sebastian mit seinen vielen Wunden, und endlich kam über ihn die große Müdigkeit des Kerkers und des Hungers. Seit Tagen erhielt er keine Nahrung mehr; der Schreiber blieb aus, bis sein Bursch neben ihm bellte und warme Arme ihn umschlangen. Kätha schob sein Lager so, daß er in die Sonne sehen konnte und in den kleinen Garten, der zertreten war und in dem keine Pflanze mehr wuchs. „Die Braunschweiger haben hier arg gehaust!" sagte Kätha, „aber sie sind über die Mauer gekommen. Gerade hier," und dann stieß sie einen Laut des Staunens aus. Denn nun erst sah sie die große Bresche in der Mauer, die nicht mehr von Efeu umsponnen und viel weiter gemacht worden war. Sebastian aber stand in all seiner Schwäche auf und ging über das ver¬ wüstete Land, dorthin, wo er in die weite Welt und auf die blauen Berge sehen konnte. Aber seine Augen begannen zu schmerzen; er legte sich wieder in das Dunkle. (Fortsetzung folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/570>, abgerufen am 30.05.2024.