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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Erziehungsfragen

Zur Seminarreform in Sachsen, Am
4. Mai dieses Jahres ist mit Wirkung vom
1. Januar 191S vom Ministerium des Kultus
und öffentlichen Unterrichts für Sachsen eine
"Bekanntmachung über die Prüfungen an den
Lehrer- und Lshrerinnenseminaren und über
die Wahlfähigkeitsprüfung der Volksschul¬
lehrer und Volksschullehrerinnen" veröffent¬
licht worden, die, da sie grundsätzliche Ände¬
rungen im sächsischen Seminarwesen trifft,
von allgemeinem Interesse sein dürfte, zumal
das Vorgehen des sächsischen Staates bei der
anerkannten Reformbedürftigkeit des deutschen
Seminarwesens leicht vorbildlich werden kann.

Die wichtigste sachliche und sicher auch in
den beteiligten Kreisen mit allgemeiner Freude
begrüßte Neuerung ist wohl die, daß der
Unterricht in einer neueren Sprache (Fran¬
zösisch oder Englisch) obligatorisch geworden
ist. Wenn allerdings die dazu notwendige
Zeit dadurch geschaffen wird, daß man ein
siebentes Seminarjahr*) unten ansetzt -- die
Knaben also vor Vollendung der Volksschule
mit dreizehn Jahren dem Seminar zugeführt
werden, so erscheint die moderne Fremdsprache
recht teuer erkauft. Zwar die Führer im
Kampfe werden auch diese Änderung mit
Freuden begrüßen. Sind sie doch damit ihrem
Ideal, das Seminar in ein pädagogisches
Gymnasium umzuwandeln, wenigstens außer"

[Spaltenumbruch]

lich wieder einen Schritt näher gekommen.
Ob es aber richtig ist, gerade diejenigen, die
dereinst einmal ihre ganze Lebensarbeit der
Volksschule widmen wollen, dieser im letzten
Jahre zu nehmen, das ist eine andere Frage.
Pflegt doch in jeder Schulgattung das ab¬
schlußgebende letzte Jahr für die durch die
Schule übermittelte Gesamtbildung von aus¬
schlaggebender Bedeutung zu sein, und es ist
darum nicht zu verstehen, wenn man gerade
denen die Möglichkeit nimmt, die Krönung
einer siebenjährigen Lernarbeit an sich selbst
zu erfahren, die dereinst einmal berufen sind,
diese anderen zu übermitteln. Ob man nicht
auch Platz für die neue Fremdsprache dadurch
hätte schaffen können, daß man sich hier und
dort weise Mäßigung auferlegte nach dem
alten, aber immer noch gerade in der Jugend¬
erziehung so überaus weisen Prinzip: nullum
non nulla?

Sicherlich bedeutet dieses unten angesetzte
siebente Seminarjahr eine weitere Degra¬
dierung unserer Volksschule, die in starkem
Gegensatz zu ihrer tatsächlichen bzw. erstrebten
volkswirtschaftlichen Bedeutung steht. Zu der
dieser Schulgattung von außen her durch ein
ungesundes Berechtigungswesen*) aufge¬
drängten Entwertung tritt jetzt in Sachsen
durch Entziehung gerade der geistig regsamen
Elemente aus der für jede Schule so wichtigen
Abschlußarbeit eine weitere Entwertung, die
für den Fernerstehenden um so unverständ¬
licher ist, weil sie ja aus dem eigenen

[Ende Spaltensatz]


*) Bekanntlich unterscheidet man in Sachsen
nicht wie in Preußen eine Präparanden- und
eine Seminarzeit.
*) Vgl. auch meine Ausführungen: Grenz¬
boten 72. Jahrgang, Heft 16.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]
Erziehungsfragen

Zur Seminarreform in Sachsen, Am
4. Mai dieses Jahres ist mit Wirkung vom
1. Januar 191S vom Ministerium des Kultus
und öffentlichen Unterrichts für Sachsen eine
„Bekanntmachung über die Prüfungen an den
Lehrer- und Lshrerinnenseminaren und über
die Wahlfähigkeitsprüfung der Volksschul¬
lehrer und Volksschullehrerinnen" veröffent¬
licht worden, die, da sie grundsätzliche Ände¬
rungen im sächsischen Seminarwesen trifft,
von allgemeinem Interesse sein dürfte, zumal
das Vorgehen des sächsischen Staates bei der
anerkannten Reformbedürftigkeit des deutschen
Seminarwesens leicht vorbildlich werden kann.

Die wichtigste sachliche und sicher auch in
den beteiligten Kreisen mit allgemeiner Freude
begrüßte Neuerung ist wohl die, daß der
Unterricht in einer neueren Sprache (Fran¬
zösisch oder Englisch) obligatorisch geworden
ist. Wenn allerdings die dazu notwendige
Zeit dadurch geschaffen wird, daß man ein
siebentes Seminarjahr*) unten ansetzt — die
Knaben also vor Vollendung der Volksschule
mit dreizehn Jahren dem Seminar zugeführt
werden, so erscheint die moderne Fremdsprache
recht teuer erkauft. Zwar die Führer im
Kampfe werden auch diese Änderung mit
Freuden begrüßen. Sind sie doch damit ihrem
Ideal, das Seminar in ein pädagogisches
Gymnasium umzuwandeln, wenigstens außer«

[Spaltenumbruch]

lich wieder einen Schritt näher gekommen.
Ob es aber richtig ist, gerade diejenigen, die
dereinst einmal ihre ganze Lebensarbeit der
Volksschule widmen wollen, dieser im letzten
Jahre zu nehmen, das ist eine andere Frage.
Pflegt doch in jeder Schulgattung das ab¬
schlußgebende letzte Jahr für die durch die
Schule übermittelte Gesamtbildung von aus¬
schlaggebender Bedeutung zu sein, und es ist
darum nicht zu verstehen, wenn man gerade
denen die Möglichkeit nimmt, die Krönung
einer siebenjährigen Lernarbeit an sich selbst
zu erfahren, die dereinst einmal berufen sind,
diese anderen zu übermitteln. Ob man nicht
auch Platz für die neue Fremdsprache dadurch
hätte schaffen können, daß man sich hier und
dort weise Mäßigung auferlegte nach dem
alten, aber immer noch gerade in der Jugend¬
erziehung so überaus weisen Prinzip: nullum
non nulla?

Sicherlich bedeutet dieses unten angesetzte
siebente Seminarjahr eine weitere Degra¬
dierung unserer Volksschule, die in starkem
Gegensatz zu ihrer tatsächlichen bzw. erstrebten
volkswirtschaftlichen Bedeutung steht. Zu der
dieser Schulgattung von außen her durch ein
ungesundes Berechtigungswesen*) aufge¬
drängten Entwertung tritt jetzt in Sachsen
durch Entziehung gerade der geistig regsamen
Elemente aus der für jede Schule so wichtigen
Abschlußarbeit eine weitere Entwertung, die
für den Fernerstehenden um so unverständ¬
licher ist, weil sie ja aus dem eigenen

[Ende Spaltensatz]


*) Bekanntlich unterscheidet man in Sachsen
nicht wie in Preußen eine Präparanden- und
eine Seminarzeit.
*) Vgl. auch meine Ausführungen: Grenz¬
boten 72. Jahrgang, Heft 16.
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[0487] [Abbildung] Maßgebliches und Unmaßgebliches Erziehungsfragen Zur Seminarreform in Sachsen, Am 4. Mai dieses Jahres ist mit Wirkung vom 1. Januar 191S vom Ministerium des Kultus und öffentlichen Unterrichts für Sachsen eine „Bekanntmachung über die Prüfungen an den Lehrer- und Lshrerinnenseminaren und über die Wahlfähigkeitsprüfung der Volksschul¬ lehrer und Volksschullehrerinnen" veröffent¬ licht worden, die, da sie grundsätzliche Ände¬ rungen im sächsischen Seminarwesen trifft, von allgemeinem Interesse sein dürfte, zumal das Vorgehen des sächsischen Staates bei der anerkannten Reformbedürftigkeit des deutschen Seminarwesens leicht vorbildlich werden kann. Die wichtigste sachliche und sicher auch in den beteiligten Kreisen mit allgemeiner Freude begrüßte Neuerung ist wohl die, daß der Unterricht in einer neueren Sprache (Fran¬ zösisch oder Englisch) obligatorisch geworden ist. Wenn allerdings die dazu notwendige Zeit dadurch geschaffen wird, daß man ein siebentes Seminarjahr*) unten ansetzt — die Knaben also vor Vollendung der Volksschule mit dreizehn Jahren dem Seminar zugeführt werden, so erscheint die moderne Fremdsprache recht teuer erkauft. Zwar die Führer im Kampfe werden auch diese Änderung mit Freuden begrüßen. Sind sie doch damit ihrem Ideal, das Seminar in ein pädagogisches Gymnasium umzuwandeln, wenigstens außer« lich wieder einen Schritt näher gekommen. Ob es aber richtig ist, gerade diejenigen, die dereinst einmal ihre ganze Lebensarbeit der Volksschule widmen wollen, dieser im letzten Jahre zu nehmen, das ist eine andere Frage. Pflegt doch in jeder Schulgattung das ab¬ schlußgebende letzte Jahr für die durch die Schule übermittelte Gesamtbildung von aus¬ schlaggebender Bedeutung zu sein, und es ist darum nicht zu verstehen, wenn man gerade denen die Möglichkeit nimmt, die Krönung einer siebenjährigen Lernarbeit an sich selbst zu erfahren, die dereinst einmal berufen sind, diese anderen zu übermitteln. Ob man nicht auch Platz für die neue Fremdsprache dadurch hätte schaffen können, daß man sich hier und dort weise Mäßigung auferlegte nach dem alten, aber immer noch gerade in der Jugend¬ erziehung so überaus weisen Prinzip: nullum non nulla? Sicherlich bedeutet dieses unten angesetzte siebente Seminarjahr eine weitere Degra¬ dierung unserer Volksschule, die in starkem Gegensatz zu ihrer tatsächlichen bzw. erstrebten volkswirtschaftlichen Bedeutung steht. Zu der dieser Schulgattung von außen her durch ein ungesundes Berechtigungswesen*) aufge¬ drängten Entwertung tritt jetzt in Sachsen durch Entziehung gerade der geistig regsamen Elemente aus der für jede Schule so wichtigen Abschlußarbeit eine weitere Entwertung, die für den Fernerstehenden um so unverständ¬ licher ist, weil sie ja aus dem eigenen *) Bekanntlich unterscheidet man in Sachsen nicht wie in Preußen eine Präparanden- und eine Seminarzeit. *) Vgl. auch meine Ausführungen: Grenz¬ boten 72. Jahrgang, Heft 16.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/487>, abgerufen am 03.05.2024.