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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Lager heraus erfalzt. Schwerlich kann man
sich hier zu der Überzeugung durchringen,
daß lediglich pädagogische Gründe für eine
derartige Änderung matzgebend gewesen sind.

Fast noch größeres Bedenken erregen aber
die Anforderungen, die an die Seminar¬
kandidaten in der Aufnahmeprüfung zu
stellen sind.

Es ist geradezu erstaunlich, was so ein
kleiner dreizehnjähriger Bube alles leisten
muß, wenn sich ihm die Pforten des Seminars
öffnen sollen. Um die "Fähigkeit, geschicht¬
liche Erscheinungen, besonders Gegenwärtiges
und Vergangenes zu vergleichen und Ursachen
und Folgen aufzusuchen", wird ihn mancher
angehende Historiker beneiden. Immerhin
ist hier diese Fähigkeit durch ein vorgesetztes
"gewisse" etwas gemildert und verwässert.
In der Erdkunde aber wird glatt die "Fähigkeit,
geographische Tatsachen zu vergleichen und
zu würdigen" gefordert.

Sollte wirklich der dreizehnjährige Durch¬
schnittsvolksschüler diesen beiden nur beispiels¬
weise herausgegriffenen Forderungen genügen?
Und wenn wirklich der geweckte Junge aus
der vielgegliederten Großstadtschule -- auch der
geistig genau so bewegliche Knabe, den das
Schicksal eine Landschule besuchen ließ?

Soll etwa durch solche hochgespannter
Forderungen rückwirkend auf das Niveau der
Volksschule eingewirkt werden? Wenn hier
aber eine Steigerung wirklich noch möglich
ist, so hat sie von innen heraus zu erfolgen,
und es mehren sich gewichtige Stimmen, daß
die Anforderungen der Volksschule das
Fassungsvermögen des Durchschnittskindes
übersteigen. Die Folge derartig übertriebener
Forderungen kann nur sein, daß der schon
jetzt leider von ehrgeizigen Lehrern in Klassen
mit Seminaranwärtern, nicht zum Vorteil
für die Allgemeinheit geübte Eramensdrill
noch weitere Dimensionen annimmt, ja zur
Notwendigkeit wird.

Oder will man überhaupt Anwärter
der Volksschule ausschließen? Fast will es so
scheinen, wenn man liest, daß in der Auf¬
nahmeprüfung auch Latein verlangt wird
(eine schriftliche Übersetzung l,Zeit eine Stundej
aus dem Lateinischen ins Deutsche und um¬
gekehrt), wobei Kenntnisse gefordert werden,
die mindestens dem Pensum der Gymnasial¬

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sexta entsprechen. Will man, daß die An¬
wärter erst ein Gymnasium oder ein Real¬
gymnasium besuchen, etwa bis Quarta? Will
man also schon mit neun oder zehn Jahren
die zukünftigen Lehrer ihrem ureigensten
Milieu entreißen? Dem widersprechen aber
wieder die sonst gestellten Anforderungen!
Oder will man in Sachsen wieder das Mittel¬
alter heraufbeschwören, wo auch der Volks¬
schüler mit den Segnungen des Lateins be¬
glückt wurde? In Pommern habe ich aller¬
dings noch im vorigen Jahrhundert Volks¬
schulen kennen gelernt, die in der sogenannten
Rektorklasse Latein trieben. Soviel ich unter¬
richtet bin, hat man das freilich heute dort
abgeschafft.

Doch quälen wir uns nicht weiter mit der
Suchenach Gründen! Sicherlich werden genug
Interpreten erstehen, die uns von der Nichtigkeit
auch dieser neuesten Reform zu überzeugen
versuchen werden. Zurzeit kann ich mich des
Eindrucks nicht erwehren, daß man in dem
Streben, die Gleichwertigkeit der Seminar¬
bildung ini Vergleich zu anderen höheren
Lehranstalten äußerlich zu dokumentieren, weit
übers Ziel geschossen ist, ein Glaube, der
durch die Bestimmungen für die zweite Prü¬
fung (Wahlfähigkeitsprüfung) noch weiter ge¬
festigt wird, wenn z. B. als besondere Arbeit
für den, der sich Physik zum Wahlfach ge¬
wählt hat, "rechnerische (mathematische) Durch¬
arbeitung eines Physikalischen Gebietes, Stu¬
dium wissenschaftlicher Werke über ein Teil¬
gebiet der Physik" usw., oder wenn in Ma¬
thematik unter anderem "das Aufsuchen neuer
Lösungswege" als besondere Arbeit empfohlen
wird.

Ich meine, die Lehrerschaft befindet sich
auf falscher Bahn, wenn sie durch solche von
ihren eigentlichen Berufszielen so überaus
weit abliegende und von der Allgemeinheit
doch nur scheinbar erfüllbare Forderungen
äußerlich die Gleichwertigkeit ihrer Vorbildung
mit der auf neunklassigen Anstalten erwor¬
benen beweisen will; dieser Beweis nutz von
innen heraus durch Lösen von Aufgaben, die
auf dem ureigensten Boden des Berufes ent¬
standen sind, geführt werden. Wer wollte
behaupten, daß das Feld zu eng wäre?

Sonst erleben wir schließlich bei den Se¬
minaren dasselbe Schauspiel wie bei den

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Lager heraus erfalzt. Schwerlich kann man
sich hier zu der Überzeugung durchringen,
daß lediglich pädagogische Gründe für eine
derartige Änderung matzgebend gewesen sind.

Fast noch größeres Bedenken erregen aber
die Anforderungen, die an die Seminar¬
kandidaten in der Aufnahmeprüfung zu
stellen sind.

Es ist geradezu erstaunlich, was so ein
kleiner dreizehnjähriger Bube alles leisten
muß, wenn sich ihm die Pforten des Seminars
öffnen sollen. Um die „Fähigkeit, geschicht¬
liche Erscheinungen, besonders Gegenwärtiges
und Vergangenes zu vergleichen und Ursachen
und Folgen aufzusuchen", wird ihn mancher
angehende Historiker beneiden. Immerhin
ist hier diese Fähigkeit durch ein vorgesetztes
„gewisse" etwas gemildert und verwässert.
In der Erdkunde aber wird glatt die „Fähigkeit,
geographische Tatsachen zu vergleichen und
zu würdigen" gefordert.

Sollte wirklich der dreizehnjährige Durch¬
schnittsvolksschüler diesen beiden nur beispiels¬
weise herausgegriffenen Forderungen genügen?
Und wenn wirklich der geweckte Junge aus
der vielgegliederten Großstadtschule — auch der
geistig genau so bewegliche Knabe, den das
Schicksal eine Landschule besuchen ließ?

Soll etwa durch solche hochgespannter
Forderungen rückwirkend auf das Niveau der
Volksschule eingewirkt werden? Wenn hier
aber eine Steigerung wirklich noch möglich
ist, so hat sie von innen heraus zu erfolgen,
und es mehren sich gewichtige Stimmen, daß
die Anforderungen der Volksschule das
Fassungsvermögen des Durchschnittskindes
übersteigen. Die Folge derartig übertriebener
Forderungen kann nur sein, daß der schon
jetzt leider von ehrgeizigen Lehrern in Klassen
mit Seminaranwärtern, nicht zum Vorteil
für die Allgemeinheit geübte Eramensdrill
noch weitere Dimensionen annimmt, ja zur
Notwendigkeit wird.

Oder will man überhaupt Anwärter
der Volksschule ausschließen? Fast will es so
scheinen, wenn man liest, daß in der Auf¬
nahmeprüfung auch Latein verlangt wird
(eine schriftliche Übersetzung l,Zeit eine Stundej
aus dem Lateinischen ins Deutsche und um¬
gekehrt), wobei Kenntnisse gefordert werden,
die mindestens dem Pensum der Gymnasial¬

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sexta entsprechen. Will man, daß die An¬
wärter erst ein Gymnasium oder ein Real¬
gymnasium besuchen, etwa bis Quarta? Will
man also schon mit neun oder zehn Jahren
die zukünftigen Lehrer ihrem ureigensten
Milieu entreißen? Dem widersprechen aber
wieder die sonst gestellten Anforderungen!
Oder will man in Sachsen wieder das Mittel¬
alter heraufbeschwören, wo auch der Volks¬
schüler mit den Segnungen des Lateins be¬
glückt wurde? In Pommern habe ich aller¬
dings noch im vorigen Jahrhundert Volks¬
schulen kennen gelernt, die in der sogenannten
Rektorklasse Latein trieben. Soviel ich unter¬
richtet bin, hat man das freilich heute dort
abgeschafft.

Doch quälen wir uns nicht weiter mit der
Suchenach Gründen! Sicherlich werden genug
Interpreten erstehen, die uns von der Nichtigkeit
auch dieser neuesten Reform zu überzeugen
versuchen werden. Zurzeit kann ich mich des
Eindrucks nicht erwehren, daß man in dem
Streben, die Gleichwertigkeit der Seminar¬
bildung ini Vergleich zu anderen höheren
Lehranstalten äußerlich zu dokumentieren, weit
übers Ziel geschossen ist, ein Glaube, der
durch die Bestimmungen für die zweite Prü¬
fung (Wahlfähigkeitsprüfung) noch weiter ge¬
festigt wird, wenn z. B. als besondere Arbeit
für den, der sich Physik zum Wahlfach ge¬
wählt hat, „rechnerische (mathematische) Durch¬
arbeitung eines Physikalischen Gebietes, Stu¬
dium wissenschaftlicher Werke über ein Teil¬
gebiet der Physik" usw., oder wenn in Ma¬
thematik unter anderem „das Aufsuchen neuer
Lösungswege" als besondere Arbeit empfohlen
wird.

Ich meine, die Lehrerschaft befindet sich
auf falscher Bahn, wenn sie durch solche von
ihren eigentlichen Berufszielen so überaus
weit abliegende und von der Allgemeinheit
doch nur scheinbar erfüllbare Forderungen
äußerlich die Gleichwertigkeit ihrer Vorbildung
mit der auf neunklassigen Anstalten erwor¬
benen beweisen will; dieser Beweis nutz von
innen heraus durch Lösen von Aufgaben, die
auf dem ureigensten Boden des Berufes ent¬
standen sind, geführt werden. Wer wollte
behaupten, daß das Feld zu eng wäre?

Sonst erleben wir schließlich bei den Se¬
minaren dasselbe Schauspiel wie bei den

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[0488] Maßgebliches und Unmaßgebliches Lager heraus erfalzt. Schwerlich kann man sich hier zu der Überzeugung durchringen, daß lediglich pädagogische Gründe für eine derartige Änderung matzgebend gewesen sind. Fast noch größeres Bedenken erregen aber die Anforderungen, die an die Seminar¬ kandidaten in der Aufnahmeprüfung zu stellen sind. Es ist geradezu erstaunlich, was so ein kleiner dreizehnjähriger Bube alles leisten muß, wenn sich ihm die Pforten des Seminars öffnen sollen. Um die „Fähigkeit, geschicht¬ liche Erscheinungen, besonders Gegenwärtiges und Vergangenes zu vergleichen und Ursachen und Folgen aufzusuchen", wird ihn mancher angehende Historiker beneiden. Immerhin ist hier diese Fähigkeit durch ein vorgesetztes „gewisse" etwas gemildert und verwässert. In der Erdkunde aber wird glatt die „Fähigkeit, geographische Tatsachen zu vergleichen und zu würdigen" gefordert. Sollte wirklich der dreizehnjährige Durch¬ schnittsvolksschüler diesen beiden nur beispiels¬ weise herausgegriffenen Forderungen genügen? Und wenn wirklich der geweckte Junge aus der vielgegliederten Großstadtschule — auch der geistig genau so bewegliche Knabe, den das Schicksal eine Landschule besuchen ließ? Soll etwa durch solche hochgespannter Forderungen rückwirkend auf das Niveau der Volksschule eingewirkt werden? Wenn hier aber eine Steigerung wirklich noch möglich ist, so hat sie von innen heraus zu erfolgen, und es mehren sich gewichtige Stimmen, daß die Anforderungen der Volksschule das Fassungsvermögen des Durchschnittskindes übersteigen. Die Folge derartig übertriebener Forderungen kann nur sein, daß der schon jetzt leider von ehrgeizigen Lehrern in Klassen mit Seminaranwärtern, nicht zum Vorteil für die Allgemeinheit geübte Eramensdrill noch weitere Dimensionen annimmt, ja zur Notwendigkeit wird. Oder will man überhaupt Anwärter der Volksschule ausschließen? Fast will es so scheinen, wenn man liest, daß in der Auf¬ nahmeprüfung auch Latein verlangt wird (eine schriftliche Übersetzung l,Zeit eine Stundej aus dem Lateinischen ins Deutsche und um¬ gekehrt), wobei Kenntnisse gefordert werden, die mindestens dem Pensum der Gymnasial¬ sexta entsprechen. Will man, daß die An¬ wärter erst ein Gymnasium oder ein Real¬ gymnasium besuchen, etwa bis Quarta? Will man also schon mit neun oder zehn Jahren die zukünftigen Lehrer ihrem ureigensten Milieu entreißen? Dem widersprechen aber wieder die sonst gestellten Anforderungen! Oder will man in Sachsen wieder das Mittel¬ alter heraufbeschwören, wo auch der Volks¬ schüler mit den Segnungen des Lateins be¬ glückt wurde? In Pommern habe ich aller¬ dings noch im vorigen Jahrhundert Volks¬ schulen kennen gelernt, die in der sogenannten Rektorklasse Latein trieben. Soviel ich unter¬ richtet bin, hat man das freilich heute dort abgeschafft. Doch quälen wir uns nicht weiter mit der Suchenach Gründen! Sicherlich werden genug Interpreten erstehen, die uns von der Nichtigkeit auch dieser neuesten Reform zu überzeugen versuchen werden. Zurzeit kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, daß man in dem Streben, die Gleichwertigkeit der Seminar¬ bildung ini Vergleich zu anderen höheren Lehranstalten äußerlich zu dokumentieren, weit übers Ziel geschossen ist, ein Glaube, der durch die Bestimmungen für die zweite Prü¬ fung (Wahlfähigkeitsprüfung) noch weiter ge¬ festigt wird, wenn z. B. als besondere Arbeit für den, der sich Physik zum Wahlfach ge¬ wählt hat, „rechnerische (mathematische) Durch¬ arbeitung eines Physikalischen Gebietes, Stu¬ dium wissenschaftlicher Werke über ein Teil¬ gebiet der Physik" usw., oder wenn in Ma¬ thematik unter anderem „das Aufsuchen neuer Lösungswege" als besondere Arbeit empfohlen wird. Ich meine, die Lehrerschaft befindet sich auf falscher Bahn, wenn sie durch solche von ihren eigentlichen Berufszielen so überaus weit abliegende und von der Allgemeinheit doch nur scheinbar erfüllbare Forderungen äußerlich die Gleichwertigkeit ihrer Vorbildung mit der auf neunklassigen Anstalten erwor¬ benen beweisen will; dieser Beweis nutz von innen heraus durch Lösen von Aufgaben, die auf dem ureigensten Boden des Berufes ent¬ standen sind, geführt werden. Wer wollte behaupten, daß das Feld zu eng wäre? Sonst erleben wir schließlich bei den Se¬ minaren dasselbe Schauspiel wie bei den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_328099/488>, abgerufen am 22.05.2024.