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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Belgiens Neutralität ^870
Luise Schoeps von

Vorwort. Die nachstehende Erinnerung an Bismarcks Stellung zur
belgischen Neutralität im Jahre 1870 dürfte die Leser der Grenzboten umso-
mehr interessieren, als sie eine wertvolle Ergänzung bietet zu der verschleierten
und gewundenen Darstellung dieser Frage in Sir Edward Greys großer Unter¬
hausrede vom 3. August 1914. Der englische Minister zitierte in dieser Rede
nur einige prinzipielle Phrasen Gladstones und Granvilles über Ehre und
Interessen Englands, die eine Erhaltung der belgischen Neutralität erfordern;
dagegen vermied er jede Andeutung, die wie die oben veröffentlichten Aus¬
führungen beweisen konnte, daß nicht England, sondern Bismarck es war,
der damals die Erhaltung der belgischen Neutralität durch öffentliche Brand¬
markung napoleonischer Geheimpläne erzwang.

Der Unterschied der Zeiten kann nicht deutlicher werden. Damals gelang
es durch rücksichtslose Preisgabe kompromittierender Sondierungsversuche den
Feind ins Unrecht zu setzen und das keineswegs deutschfreundlich gesinnte Eng¬
land durch das Gespenst französischer Absichten auf Belgien zur wohl¬
wollenden Neutralität zu bestimmen. Darüber hinaus aber war für den
Fall eines napoleonischen Sieges und einer Verwirklichung seiner belgischen
Wünsche sogar der Anschluß Englands an Deutschland gesichert, weil nach
Gladstones damaligen Worten (ebenso wie zu den Zeiten Napoleons des
Ersten) das englische Staatsinteresse jeder maßlosen Vergrößerung irgend
einer Macht an der Nordsee entgegenstehen mußte.

Im gegenwärtigen Krieg aber war es England, das den belgischen
Trumpf gegen Deutschland ausspielte, obwohl es ihn gar nicht mehr in
Händen hatte, nachdem es sich an der belgischen Neutralität durch mehrere
Geheimverträge seit Jahren versündigt hatte. Durch skrupellose Tatsachenver¬
drehung, die Deutschland als den böswilligen Verächter des Völkerrechtes hin¬
stellte, versicherte sich England für seine Beteiligung am Kriege der Sympathien
vieler neutraler Staaten, und es hat den Anschein, als würden diese in
ihrer Gesamtheit erst nach einem endgültigen Siege Deutschlands auch unser Recht
in der Behandlung des belgischen Staates verstehen, der sich durch seine kriegs¬
schwangeren Abmachungen mit den Drahtziehern des Dreiverbandes schon längst
j in. v. q. eden Anspruch auf Achtung seiner Unabhängigkeit verscherzt hatte,




Grenzboten l 19159


Belgiens Neutralität ^870
Luise Schoeps von

Vorwort. Die nachstehende Erinnerung an Bismarcks Stellung zur
belgischen Neutralität im Jahre 1870 dürfte die Leser der Grenzboten umso-
mehr interessieren, als sie eine wertvolle Ergänzung bietet zu der verschleierten
und gewundenen Darstellung dieser Frage in Sir Edward Greys großer Unter¬
hausrede vom 3. August 1914. Der englische Minister zitierte in dieser Rede
nur einige prinzipielle Phrasen Gladstones und Granvilles über Ehre und
Interessen Englands, die eine Erhaltung der belgischen Neutralität erfordern;
dagegen vermied er jede Andeutung, die wie die oben veröffentlichten Aus¬
führungen beweisen konnte, daß nicht England, sondern Bismarck es war,
der damals die Erhaltung der belgischen Neutralität durch öffentliche Brand¬
markung napoleonischer Geheimpläne erzwang.

Der Unterschied der Zeiten kann nicht deutlicher werden. Damals gelang
es durch rücksichtslose Preisgabe kompromittierender Sondierungsversuche den
Feind ins Unrecht zu setzen und das keineswegs deutschfreundlich gesinnte Eng¬
land durch das Gespenst französischer Absichten auf Belgien zur wohl¬
wollenden Neutralität zu bestimmen. Darüber hinaus aber war für den
Fall eines napoleonischen Sieges und einer Verwirklichung seiner belgischen
Wünsche sogar der Anschluß Englands an Deutschland gesichert, weil nach
Gladstones damaligen Worten (ebenso wie zu den Zeiten Napoleons des
Ersten) das englische Staatsinteresse jeder maßlosen Vergrößerung irgend
einer Macht an der Nordsee entgegenstehen mußte.

Im gegenwärtigen Krieg aber war es England, das den belgischen
Trumpf gegen Deutschland ausspielte, obwohl es ihn gar nicht mehr in
Händen hatte, nachdem es sich an der belgischen Neutralität durch mehrere
Geheimverträge seit Jahren versündigt hatte. Durch skrupellose Tatsachenver¬
drehung, die Deutschland als den böswilligen Verächter des Völkerrechtes hin¬
stellte, versicherte sich England für seine Beteiligung am Kriege der Sympathien
vieler neutraler Staaten, und es hat den Anschein, als würden diese in
ihrer Gesamtheit erst nach einem endgültigen Siege Deutschlands auch unser Recht
in der Behandlung des belgischen Staates verstehen, der sich durch seine kriegs¬
schwangeren Abmachungen mit den Drahtziehern des Dreiverbandes schon längst
j in. v. q. eden Anspruch auf Achtung seiner Unabhängigkeit verscherzt hatte,




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[0141] [Abbildung] Belgiens Neutralität ^870 Luise Schoeps von Vorwort. Die nachstehende Erinnerung an Bismarcks Stellung zur belgischen Neutralität im Jahre 1870 dürfte die Leser der Grenzboten umso- mehr interessieren, als sie eine wertvolle Ergänzung bietet zu der verschleierten und gewundenen Darstellung dieser Frage in Sir Edward Greys großer Unter¬ hausrede vom 3. August 1914. Der englische Minister zitierte in dieser Rede nur einige prinzipielle Phrasen Gladstones und Granvilles über Ehre und Interessen Englands, die eine Erhaltung der belgischen Neutralität erfordern; dagegen vermied er jede Andeutung, die wie die oben veröffentlichten Aus¬ führungen beweisen konnte, daß nicht England, sondern Bismarck es war, der damals die Erhaltung der belgischen Neutralität durch öffentliche Brand¬ markung napoleonischer Geheimpläne erzwang. Der Unterschied der Zeiten kann nicht deutlicher werden. Damals gelang es durch rücksichtslose Preisgabe kompromittierender Sondierungsversuche den Feind ins Unrecht zu setzen und das keineswegs deutschfreundlich gesinnte Eng¬ land durch das Gespenst französischer Absichten auf Belgien zur wohl¬ wollenden Neutralität zu bestimmen. Darüber hinaus aber war für den Fall eines napoleonischen Sieges und einer Verwirklichung seiner belgischen Wünsche sogar der Anschluß Englands an Deutschland gesichert, weil nach Gladstones damaligen Worten (ebenso wie zu den Zeiten Napoleons des Ersten) das englische Staatsinteresse jeder maßlosen Vergrößerung irgend einer Macht an der Nordsee entgegenstehen mußte. Im gegenwärtigen Krieg aber war es England, das den belgischen Trumpf gegen Deutschland ausspielte, obwohl es ihn gar nicht mehr in Händen hatte, nachdem es sich an der belgischen Neutralität durch mehrere Geheimverträge seit Jahren versündigt hatte. Durch skrupellose Tatsachenver¬ drehung, die Deutschland als den böswilligen Verächter des Völkerrechtes hin¬ stellte, versicherte sich England für seine Beteiligung am Kriege der Sympathien vieler neutraler Staaten, und es hat den Anschein, als würden diese in ihrer Gesamtheit erst nach einem endgültigen Siege Deutschlands auch unser Recht in der Behandlung des belgischen Staates verstehen, der sich durch seine kriegs¬ schwangeren Abmachungen mit den Drahtziehern des Dreiverbandes schon längst j in. v. q. eden Anspruch auf Achtung seiner Unabhängigkeit verscherzt hatte, Grenzboten l 19159

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/141>, abgerufen am 29.04.2024.