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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Zur Psychologie des Nationalbewußtseins
Richard Müller-Frcienfels von

! cum eines Tages über die Bedingungen des Friedens gesprochen
werden wird, so wird sich dabei ein Faktor geltend machen, der
in früheren Jahrhunderten -- so seltsam es uns heute scheinen
mag -- fast gar keine Rolle spielte: das Nationalbewußtsein der
l Völker. Wirklich zur Bedeutung gelaugt ist dieses Solidaritäts¬
gefühl großer Volksmassen erst im neunzehnten Jahrhundert. Indessen ist es
weder nach seinen Grundlagen, noch nach seiner psychologischen Beschaffenheit
ein so klarer Begriff, wie die meisten derjenigen wohl annehmen, die täglich damit
operieren. Vielleicht dürfte eine Analyse dieses Begriffes nicht unzeitgemäß sein
und einige Streiflichter auf wichtige Probleme der Politik und Geschichte werfen.

Was zunächst den Umkreis dessen anlangt, was mau im allgemeinen als
Nationalgefühl (besser noch -- wie man in Österreich sagt -- als völkisches
Bewußtsein) bezeichnet, so läßt er sich am besten damit beschreiben, daß man ihn
gleichsetzt mit dem Umkreis des Sprachgebietes. Es trifft den Kern der Sache,
wenn wir sagen, daß das Streben nach Nationalstaaten im neunzehnten Jahr¬
hundert gleichbedeutend ist mit einheitlichen Sprachstaaten, und es wird damit
klar, daß so im neunzehnten Jahrhundert die Sprache zu einer Bedeutung er¬
hoben worden ist, die sie früher niemals gehabt hat. Das schließt aber noch
ein anderes ein: indem man die Sprache zum entscheidenden Kriterium der
Volkszugehörigkeit erhob, setzte man alles andere zurück, was sonst dafür ge¬
golten hatte oder wenigstens auch in Betracht kam -- Kultur, Religion, gemein¬
same Vergangenheit, Anhänglichkeit an bestimmte Dynastien und vieles sonst.
Über alles das soll heute die Sprache gehen. Man nimmt sie, ohne tiefer
nachzuprüfen, als bindenden Allsdruck der gesamten Kultur und Stammes¬
zugehörigkeit und nimmt damit eine unberechtigte, ja schädliche Verengung dessen
vor, was sonst noch eine nationale Einheit zu schaffen vermag.

Fragen wir zunächst, ob diese Erhebung der Sprache zum alleinigen
Kriterium der Volkszugehörigkeit berechtigt ist. Bekanntlich nahm die Welt¬
geschichte in den rund sechzig Jahrhunderten, die sie umfaßt, so gut wie gar
keine Rücksicht auf die Sprache. Erst im neunzehnten Jahrhundert ist diese zu
solcher Wichtigkeit gelangt. Das hat seinen Grund zum Teil in der viel




Zur Psychologie des Nationalbewußtseins
Richard Müller-Frcienfels von

! cum eines Tages über die Bedingungen des Friedens gesprochen
werden wird, so wird sich dabei ein Faktor geltend machen, der
in früheren Jahrhunderten — so seltsam es uns heute scheinen
mag — fast gar keine Rolle spielte: das Nationalbewußtsein der
l Völker. Wirklich zur Bedeutung gelaugt ist dieses Solidaritäts¬
gefühl großer Volksmassen erst im neunzehnten Jahrhundert. Indessen ist es
weder nach seinen Grundlagen, noch nach seiner psychologischen Beschaffenheit
ein so klarer Begriff, wie die meisten derjenigen wohl annehmen, die täglich damit
operieren. Vielleicht dürfte eine Analyse dieses Begriffes nicht unzeitgemäß sein
und einige Streiflichter auf wichtige Probleme der Politik und Geschichte werfen.

Was zunächst den Umkreis dessen anlangt, was mau im allgemeinen als
Nationalgefühl (besser noch — wie man in Österreich sagt — als völkisches
Bewußtsein) bezeichnet, so läßt er sich am besten damit beschreiben, daß man ihn
gleichsetzt mit dem Umkreis des Sprachgebietes. Es trifft den Kern der Sache,
wenn wir sagen, daß das Streben nach Nationalstaaten im neunzehnten Jahr¬
hundert gleichbedeutend ist mit einheitlichen Sprachstaaten, und es wird damit
klar, daß so im neunzehnten Jahrhundert die Sprache zu einer Bedeutung er¬
hoben worden ist, die sie früher niemals gehabt hat. Das schließt aber noch
ein anderes ein: indem man die Sprache zum entscheidenden Kriterium der
Volkszugehörigkeit erhob, setzte man alles andere zurück, was sonst dafür ge¬
golten hatte oder wenigstens auch in Betracht kam — Kultur, Religion, gemein¬
same Vergangenheit, Anhänglichkeit an bestimmte Dynastien und vieles sonst.
Über alles das soll heute die Sprache gehen. Man nimmt sie, ohne tiefer
nachzuprüfen, als bindenden Allsdruck der gesamten Kultur und Stammes¬
zugehörigkeit und nimmt damit eine unberechtigte, ja schädliche Verengung dessen
vor, was sonst noch eine nationale Einheit zu schaffen vermag.

Fragen wir zunächst, ob diese Erhebung der Sprache zum alleinigen
Kriterium der Volkszugehörigkeit berechtigt ist. Bekanntlich nahm die Welt¬
geschichte in den rund sechzig Jahrhunderten, die sie umfaßt, so gut wie gar
keine Rücksicht auf die Sprache. Erst im neunzehnten Jahrhundert ist diese zu
solcher Wichtigkeit gelangt. Das hat seinen Grund zum Teil in der viel


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[0231] [Abbildung] Zur Psychologie des Nationalbewußtseins Richard Müller-Frcienfels von ! cum eines Tages über die Bedingungen des Friedens gesprochen werden wird, so wird sich dabei ein Faktor geltend machen, der in früheren Jahrhunderten — so seltsam es uns heute scheinen mag — fast gar keine Rolle spielte: das Nationalbewußtsein der l Völker. Wirklich zur Bedeutung gelaugt ist dieses Solidaritäts¬ gefühl großer Volksmassen erst im neunzehnten Jahrhundert. Indessen ist es weder nach seinen Grundlagen, noch nach seiner psychologischen Beschaffenheit ein so klarer Begriff, wie die meisten derjenigen wohl annehmen, die täglich damit operieren. Vielleicht dürfte eine Analyse dieses Begriffes nicht unzeitgemäß sein und einige Streiflichter auf wichtige Probleme der Politik und Geschichte werfen. Was zunächst den Umkreis dessen anlangt, was mau im allgemeinen als Nationalgefühl (besser noch — wie man in Österreich sagt — als völkisches Bewußtsein) bezeichnet, so läßt er sich am besten damit beschreiben, daß man ihn gleichsetzt mit dem Umkreis des Sprachgebietes. Es trifft den Kern der Sache, wenn wir sagen, daß das Streben nach Nationalstaaten im neunzehnten Jahr¬ hundert gleichbedeutend ist mit einheitlichen Sprachstaaten, und es wird damit klar, daß so im neunzehnten Jahrhundert die Sprache zu einer Bedeutung er¬ hoben worden ist, die sie früher niemals gehabt hat. Das schließt aber noch ein anderes ein: indem man die Sprache zum entscheidenden Kriterium der Volkszugehörigkeit erhob, setzte man alles andere zurück, was sonst dafür ge¬ golten hatte oder wenigstens auch in Betracht kam — Kultur, Religion, gemein¬ same Vergangenheit, Anhänglichkeit an bestimmte Dynastien und vieles sonst. Über alles das soll heute die Sprache gehen. Man nimmt sie, ohne tiefer nachzuprüfen, als bindenden Allsdruck der gesamten Kultur und Stammes¬ zugehörigkeit und nimmt damit eine unberechtigte, ja schädliche Verengung dessen vor, was sonst noch eine nationale Einheit zu schaffen vermag. Fragen wir zunächst, ob diese Erhebung der Sprache zum alleinigen Kriterium der Volkszugehörigkeit berechtigt ist. Bekanntlich nahm die Welt¬ geschichte in den rund sechzig Jahrhunderten, die sie umfaßt, so gut wie gar keine Rücksicht auf die Sprache. Erst im neunzehnten Jahrhundert ist diese zu solcher Wichtigkeit gelangt. Das hat seinen Grund zum Teil in der viel

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/231>, abgerufen am 29.04.2024.