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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Zur Psychologie des Nationalbewußtseins

größeren Auswertung der Sprache in Schrift und Druck, die im neunzehnten
Jahrhundert besonders durch die Zeitungen einen ungeahnten Umfang ange¬
nommen hat. Es beruht zum Teil aber auch auf der durchaus fehlerhaften
Annahme, die Sprache sei ein Kennzeichen der Rassezugehörigkeit, "des Blutes",
wie man wohl sagt, und ferner der gesamten Kulturzugehörigkeit. Daß die
Sprache kein Kennzeichen der Rassezugehörigkeit ist, wird am besten dadurch er¬
wiesen, daß unzähligemale Individuen wie ganze Völker fremde Sprachen an¬
genommen haben. Und was gar die repräsentative Bedeutung der Sprache für die
Kultur anlangt, so ist die noch zweifelhafter: denn es fragt sich überhaupt, ob
es eine nationale Kultur heutzutage noch gibt, ob nicht das Gemeinsame und
Internationale so überwiegen, daß, wenn man die sprachlichen Elemente in Ab¬
rechnung bringt, nicht viel Reinnationales übrig bleibt. Vielleicht läßt der
Krieg uns in diesem Jahre alles Trennende stärker sehen. Trotzdem sind, was
die Kultur anlangt, sicherlich, wenn wir von der Sprache absehen, innerhalb der
Völker die Unterschiede zwischen den sozialen Schichten größer, als die
Unterschiede zwischen Individuen derselben sozialen Schicht, die getrennten
Völkern angehören. Immer von der Sprache abgesehen, haben ein deutscher
Arzt und ein französischer Arzt unendlich viel mehr Gemeinsames, als
etwa ein deutscher Arzt und ein deutscher Weichensteller. Wieviel gemeinsame
Kultur haben denn -- die sprachliche Ausdrucksweise beiseite gelassen -- ein
elsässischer Kaplan und ein pommerscher Junker, oder ein Großindustrieller vom
Niederrhein und ein Hopfenbauer aus der Oberpfalz? Angesichts solcher Unter¬
schiede wird man kaum behaupten können, daß die Sprache die ganze Kultur
in sich fasse, zumal alle jene Leute ja höchstens die Schrift, aber nicht die
wirklich gesprochene Sprache gemein haben.

Indessen, mag es auch logisch nicht zu rechtfertigen sein, daß man die
Sprache als Kriterium der Volkszugehörigkeit ansieht, Tatsache ist, daß sie heute
allgemein dafür gilt. Und es ist bekanntlich eine weitere historische Tatsache,
daß Irrtümer, die von Millionen geglaubt werden, eine größere Macht in der
Welt sind als Wahrheiten, die der Alleinbesitz einiger weniger sind. Es muß
damit gerechnet werden, daß innerhalb der Völker die Sprache als entscheidend
für die nationale Solidarität gilt, und es muß damit gerechnet werden, daß
fremdsprachliche Elemente innerhalb eines überwiegend spracheinheitlichen Staates
sich als Fremdkörper fühlen, einerlei ob es einen selbständigen Staat ihrer
Sprache gibt oder nicht. Das bisher angewandte Mittel der mehr oder weniger
gewaltsamen Bekehrung zur Hauptsprache des Staates hat sich als unwirksam,
ja als schädlich erwiesen, da es -- wie der meiste Zwang -- eine um so stärkere Reak¬
tion hervorrief. Denn bei der heutigen Gleichsetzung von Sprache und nationalem
Selbstbewußtsein glaubt man, die heiligsten Güter mit der Sprache aufzugeben,
und Verhältnisse, wie im Imperium Romanum, sind damit ganz ausgeschlossen.

Es wird sich demnach, da alle Mittel versagen, den politischen Staat durch
die Sprache zu einer inneren Einheit zu bringen, die Frage aufdrängen, ob es


Zur Psychologie des Nationalbewußtseins

größeren Auswertung der Sprache in Schrift und Druck, die im neunzehnten
Jahrhundert besonders durch die Zeitungen einen ungeahnten Umfang ange¬
nommen hat. Es beruht zum Teil aber auch auf der durchaus fehlerhaften
Annahme, die Sprache sei ein Kennzeichen der Rassezugehörigkeit, „des Blutes",
wie man wohl sagt, und ferner der gesamten Kulturzugehörigkeit. Daß die
Sprache kein Kennzeichen der Rassezugehörigkeit ist, wird am besten dadurch er¬
wiesen, daß unzähligemale Individuen wie ganze Völker fremde Sprachen an¬
genommen haben. Und was gar die repräsentative Bedeutung der Sprache für die
Kultur anlangt, so ist die noch zweifelhafter: denn es fragt sich überhaupt, ob
es eine nationale Kultur heutzutage noch gibt, ob nicht das Gemeinsame und
Internationale so überwiegen, daß, wenn man die sprachlichen Elemente in Ab¬
rechnung bringt, nicht viel Reinnationales übrig bleibt. Vielleicht läßt der
Krieg uns in diesem Jahre alles Trennende stärker sehen. Trotzdem sind, was
die Kultur anlangt, sicherlich, wenn wir von der Sprache absehen, innerhalb der
Völker die Unterschiede zwischen den sozialen Schichten größer, als die
Unterschiede zwischen Individuen derselben sozialen Schicht, die getrennten
Völkern angehören. Immer von der Sprache abgesehen, haben ein deutscher
Arzt und ein französischer Arzt unendlich viel mehr Gemeinsames, als
etwa ein deutscher Arzt und ein deutscher Weichensteller. Wieviel gemeinsame
Kultur haben denn — die sprachliche Ausdrucksweise beiseite gelassen — ein
elsässischer Kaplan und ein pommerscher Junker, oder ein Großindustrieller vom
Niederrhein und ein Hopfenbauer aus der Oberpfalz? Angesichts solcher Unter¬
schiede wird man kaum behaupten können, daß die Sprache die ganze Kultur
in sich fasse, zumal alle jene Leute ja höchstens die Schrift, aber nicht die
wirklich gesprochene Sprache gemein haben.

Indessen, mag es auch logisch nicht zu rechtfertigen sein, daß man die
Sprache als Kriterium der Volkszugehörigkeit ansieht, Tatsache ist, daß sie heute
allgemein dafür gilt. Und es ist bekanntlich eine weitere historische Tatsache,
daß Irrtümer, die von Millionen geglaubt werden, eine größere Macht in der
Welt sind als Wahrheiten, die der Alleinbesitz einiger weniger sind. Es muß
damit gerechnet werden, daß innerhalb der Völker die Sprache als entscheidend
für die nationale Solidarität gilt, und es muß damit gerechnet werden, daß
fremdsprachliche Elemente innerhalb eines überwiegend spracheinheitlichen Staates
sich als Fremdkörper fühlen, einerlei ob es einen selbständigen Staat ihrer
Sprache gibt oder nicht. Das bisher angewandte Mittel der mehr oder weniger
gewaltsamen Bekehrung zur Hauptsprache des Staates hat sich als unwirksam,
ja als schädlich erwiesen, da es — wie der meiste Zwang — eine um so stärkere Reak¬
tion hervorrief. Denn bei der heutigen Gleichsetzung von Sprache und nationalem
Selbstbewußtsein glaubt man, die heiligsten Güter mit der Sprache aufzugeben,
und Verhältnisse, wie im Imperium Romanum, sind damit ganz ausgeschlossen.

Es wird sich demnach, da alle Mittel versagen, den politischen Staat durch
die Sprache zu einer inneren Einheit zu bringen, die Frage aufdrängen, ob es


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[0232] Zur Psychologie des Nationalbewußtseins größeren Auswertung der Sprache in Schrift und Druck, die im neunzehnten Jahrhundert besonders durch die Zeitungen einen ungeahnten Umfang ange¬ nommen hat. Es beruht zum Teil aber auch auf der durchaus fehlerhaften Annahme, die Sprache sei ein Kennzeichen der Rassezugehörigkeit, „des Blutes", wie man wohl sagt, und ferner der gesamten Kulturzugehörigkeit. Daß die Sprache kein Kennzeichen der Rassezugehörigkeit ist, wird am besten dadurch er¬ wiesen, daß unzähligemale Individuen wie ganze Völker fremde Sprachen an¬ genommen haben. Und was gar die repräsentative Bedeutung der Sprache für die Kultur anlangt, so ist die noch zweifelhafter: denn es fragt sich überhaupt, ob es eine nationale Kultur heutzutage noch gibt, ob nicht das Gemeinsame und Internationale so überwiegen, daß, wenn man die sprachlichen Elemente in Ab¬ rechnung bringt, nicht viel Reinnationales übrig bleibt. Vielleicht läßt der Krieg uns in diesem Jahre alles Trennende stärker sehen. Trotzdem sind, was die Kultur anlangt, sicherlich, wenn wir von der Sprache absehen, innerhalb der Völker die Unterschiede zwischen den sozialen Schichten größer, als die Unterschiede zwischen Individuen derselben sozialen Schicht, die getrennten Völkern angehören. Immer von der Sprache abgesehen, haben ein deutscher Arzt und ein französischer Arzt unendlich viel mehr Gemeinsames, als etwa ein deutscher Arzt und ein deutscher Weichensteller. Wieviel gemeinsame Kultur haben denn — die sprachliche Ausdrucksweise beiseite gelassen — ein elsässischer Kaplan und ein pommerscher Junker, oder ein Großindustrieller vom Niederrhein und ein Hopfenbauer aus der Oberpfalz? Angesichts solcher Unter¬ schiede wird man kaum behaupten können, daß die Sprache die ganze Kultur in sich fasse, zumal alle jene Leute ja höchstens die Schrift, aber nicht die wirklich gesprochene Sprache gemein haben. Indessen, mag es auch logisch nicht zu rechtfertigen sein, daß man die Sprache als Kriterium der Volkszugehörigkeit ansieht, Tatsache ist, daß sie heute allgemein dafür gilt. Und es ist bekanntlich eine weitere historische Tatsache, daß Irrtümer, die von Millionen geglaubt werden, eine größere Macht in der Welt sind als Wahrheiten, die der Alleinbesitz einiger weniger sind. Es muß damit gerechnet werden, daß innerhalb der Völker die Sprache als entscheidend für die nationale Solidarität gilt, und es muß damit gerechnet werden, daß fremdsprachliche Elemente innerhalb eines überwiegend spracheinheitlichen Staates sich als Fremdkörper fühlen, einerlei ob es einen selbständigen Staat ihrer Sprache gibt oder nicht. Das bisher angewandte Mittel der mehr oder weniger gewaltsamen Bekehrung zur Hauptsprache des Staates hat sich als unwirksam, ja als schädlich erwiesen, da es — wie der meiste Zwang — eine um so stärkere Reak¬ tion hervorrief. Denn bei der heutigen Gleichsetzung von Sprache und nationalem Selbstbewußtsein glaubt man, die heiligsten Güter mit der Sprache aufzugeben, und Verhältnisse, wie im Imperium Romanum, sind damit ganz ausgeschlossen. Es wird sich demnach, da alle Mittel versagen, den politischen Staat durch die Sprache zu einer inneren Einheit zu bringen, die Frage aufdrängen, ob es

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/232>, abgerufen am 15.05.2024.