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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Victor Hugo als Vorkämpfer einer deutsch-französischen
Annäherung gegen Rußland und England
Dr. I. I, Niessen von

> er Wiener Kongreß hatte für Frankreich unbefriedigend geendet; die
Verhältnisse waren nach äußerlichen Gesichtspunkten geordnet worden
und Frankreich fühlte sich unter anderem dadurch gedemütigt, daß
es auf dem linken Rheinufer Landbesitz hatte abtreten müssen.
^ Die Wiederherstellung der Rheingrenze, die "question an KKin"
spukte deshalb von Zeit zu Zeit in der öffentlichen Erörterung und um die
Wende des Jahres 1839 war der Streit so heftig geworden, daß viele eine
Kriegsgefahr in nächster Nähe sahen. Heinrich Heine schrieb am 11. Januar 1341
aus Paris in der Reihe seiner Briefe über französische Zustände, in denen er
sich als scharfsinniger Beobachter bewährt hat:

"Immer mehr verbreitet sich unter den Franzosen die Meinung, daß
Bellonas Drommeten dieses Frühjahr den Gesang der Nachtigallen überschmettern,
und die armen Veilchen, zertreten vom Pferdehuf, ihren Duft im Pulverdampf
verHauchen müssen. Ich kann dieser Ansicht keineswegs beistimmen, und die
süßeste Friedenshoffnung nistet beharrlich in meiner Brust. Es ist jedoch immer
möglich, daß die Unglückspropheten recht haben, und der kecke Lenz mit un¬
vorsichtiger Lunte den geladenen Kanonen nahe. Ist aber diese Gefahr über¬
standen, und ist gar der heiße Sommer gewitterlos vorübergezogen, dann,
glaube ich, ist Europa für lange Zeit vor den Schrecknissen eines Krieges ge¬
schützt, und wir dürfen uns eines langen dauernden Friedens versichert halten.
Die Wirrnisse, die von oben kamen, werden alsdann auch dort oben ruhig
gelöst worden sein, und das niedrige Gezücht des Nationalhasses, das sich in
den unteren Schichten der Gesellschaft entwickelt hat, wird von der besseren
Einsicht der Völker wieder in seinen Schlamm zurückgetreten werden. . . . Wer
will aber den Krieg? England und Rußland könnten sich schon jetzt zufrieden
geben -- sie haben bereits genug Vorteile im Trüben erfischt. Für Deutsch¬
land und Frankreich jedoch ist der Krieg ebenso unnötig wie gefährlich: die
Franzosen besäßen zwar gern die Rheingrenze, aber nur, weil sie sonst gegen




Victor Hugo als Vorkämpfer einer deutsch-französischen
Annäherung gegen Rußland und England
Dr. I. I, Niessen von

> er Wiener Kongreß hatte für Frankreich unbefriedigend geendet; die
Verhältnisse waren nach äußerlichen Gesichtspunkten geordnet worden
und Frankreich fühlte sich unter anderem dadurch gedemütigt, daß
es auf dem linken Rheinufer Landbesitz hatte abtreten müssen.
^ Die Wiederherstellung der Rheingrenze, die „question an KKin"
spukte deshalb von Zeit zu Zeit in der öffentlichen Erörterung und um die
Wende des Jahres 1839 war der Streit so heftig geworden, daß viele eine
Kriegsgefahr in nächster Nähe sahen. Heinrich Heine schrieb am 11. Januar 1341
aus Paris in der Reihe seiner Briefe über französische Zustände, in denen er
sich als scharfsinniger Beobachter bewährt hat:

„Immer mehr verbreitet sich unter den Franzosen die Meinung, daß
Bellonas Drommeten dieses Frühjahr den Gesang der Nachtigallen überschmettern,
und die armen Veilchen, zertreten vom Pferdehuf, ihren Duft im Pulverdampf
verHauchen müssen. Ich kann dieser Ansicht keineswegs beistimmen, und die
süßeste Friedenshoffnung nistet beharrlich in meiner Brust. Es ist jedoch immer
möglich, daß die Unglückspropheten recht haben, und der kecke Lenz mit un¬
vorsichtiger Lunte den geladenen Kanonen nahe. Ist aber diese Gefahr über¬
standen, und ist gar der heiße Sommer gewitterlos vorübergezogen, dann,
glaube ich, ist Europa für lange Zeit vor den Schrecknissen eines Krieges ge¬
schützt, und wir dürfen uns eines langen dauernden Friedens versichert halten.
Die Wirrnisse, die von oben kamen, werden alsdann auch dort oben ruhig
gelöst worden sein, und das niedrige Gezücht des Nationalhasses, das sich in
den unteren Schichten der Gesellschaft entwickelt hat, wird von der besseren
Einsicht der Völker wieder in seinen Schlamm zurückgetreten werden. . . . Wer
will aber den Krieg? England und Rußland könnten sich schon jetzt zufrieden
geben — sie haben bereits genug Vorteile im Trüben erfischt. Für Deutsch¬
land und Frankreich jedoch ist der Krieg ebenso unnötig wie gefährlich: die
Franzosen besäßen zwar gern die Rheingrenze, aber nur, weil sie sonst gegen


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[0410] [Abbildung] Victor Hugo als Vorkämpfer einer deutsch-französischen Annäherung gegen Rußland und England Dr. I. I, Niessen von > er Wiener Kongreß hatte für Frankreich unbefriedigend geendet; die Verhältnisse waren nach äußerlichen Gesichtspunkten geordnet worden und Frankreich fühlte sich unter anderem dadurch gedemütigt, daß es auf dem linken Rheinufer Landbesitz hatte abtreten müssen. ^ Die Wiederherstellung der Rheingrenze, die „question an KKin" spukte deshalb von Zeit zu Zeit in der öffentlichen Erörterung und um die Wende des Jahres 1839 war der Streit so heftig geworden, daß viele eine Kriegsgefahr in nächster Nähe sahen. Heinrich Heine schrieb am 11. Januar 1341 aus Paris in der Reihe seiner Briefe über französische Zustände, in denen er sich als scharfsinniger Beobachter bewährt hat: „Immer mehr verbreitet sich unter den Franzosen die Meinung, daß Bellonas Drommeten dieses Frühjahr den Gesang der Nachtigallen überschmettern, und die armen Veilchen, zertreten vom Pferdehuf, ihren Duft im Pulverdampf verHauchen müssen. Ich kann dieser Ansicht keineswegs beistimmen, und die süßeste Friedenshoffnung nistet beharrlich in meiner Brust. Es ist jedoch immer möglich, daß die Unglückspropheten recht haben, und der kecke Lenz mit un¬ vorsichtiger Lunte den geladenen Kanonen nahe. Ist aber diese Gefahr über¬ standen, und ist gar der heiße Sommer gewitterlos vorübergezogen, dann, glaube ich, ist Europa für lange Zeit vor den Schrecknissen eines Krieges ge¬ schützt, und wir dürfen uns eines langen dauernden Friedens versichert halten. Die Wirrnisse, die von oben kamen, werden alsdann auch dort oben ruhig gelöst worden sein, und das niedrige Gezücht des Nationalhasses, das sich in den unteren Schichten der Gesellschaft entwickelt hat, wird von der besseren Einsicht der Völker wieder in seinen Schlamm zurückgetreten werden. . . . Wer will aber den Krieg? England und Rußland könnten sich schon jetzt zufrieden geben — sie haben bereits genug Vorteile im Trüben erfischt. Für Deutsch¬ land und Frankreich jedoch ist der Krieg ebenso unnötig wie gefährlich: die Franzosen besäßen zwar gern die Rheingrenze, aber nur, weil sie sonst gegen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/410>, abgerufen am 29.04.2024.