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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Victor Hugo als Vorkämpfer einer deutsch-französischen Annäherung

etwaige Invasionen zu wenig geschützt sind, und die Deutschen brauchten nicht
zu fürchten, die Rheingrenze zu verlieren, solange sie nicht selber den Frieden
brechen. Weder das deutsche noch das französische Volk begehrt nach Krieg."

Heines Zuversicht auf die Erhaltung des Friedens bewahrte sich. Aber
die von der Rheinfrage ausgelöste lebhafte Bewegung der Geister ließ auf
französischer Seite eine umfangreiche, wenig bekannte historisch.politische Arbeit
des Dichters und glühenden Patrioten Victor Hugo entstehen. Sie verbreitet
sich eingehend über die Gestaltung der Verhältnisse Europas, behandelt die
Möglichkeit und Notwendigkeit der Versöhnung Deutschlands und Frankreichs
und beleuchtet treffend die Sonderstellung Rußlands und Englands gegenüber
Europa. Manche Gedanken sind so weitschauend und auch heute noch zeitgemäß,
daß sie verdienen, hervorgeholt zu werden.

Victor Hugo hatte in den Jahren 1838 und 1839 zwei monatelange
Rheinreisen gemacht und von diesen Reisen aus nach alter Gewohnheit Briefe
an einen Pariser Freund gerichtet -- nicht in der Absicht der Veröffentlichung,
sondern um die täglichen Erlebnisse und Eindrücke festzuhalten, die "weniger
dem Reisenden selbst als seinem Geiste zustoßen und in ihrer Gesamtheit mehr
das Tagebuch eines Gedankens als einer Reise ergeben". Die Briefe lagen
dann lange bei dem Freunde und wurden eines Tages Ende 1840 wieder
hervorgeholt, als die Rheinfrage auf den Plan getreten war. Der Ver¬
fasser äußert sich darüber selbst in der Vorrede zu seinem Werke "Le Rhin":

"Man erinnert sich, daß die Rheinfrage vor einigen Monaten ganz plötzlich
sich wieder geregt hat. Ausgezeichnete und vornehme Geister haben in Frank¬
reich lebhast darüber gestritten und zunächst, wie es immer zu gehen pflegt,
zwei sich sehr scharf gegenüberstehende Parteien gebildet. Die einen haben
die Verträge von 1815 als feststehende Tatsache betrachtet, und von ihnen
ausgehend das linke Rheinufer Deutschland endgültig lassen und nur seine
Freundschaft erlangen wollen; die anderen haben diese Freundschaft von sich
gewiesen und sehr heftig das linke Rheinufer für Frankreich verlangt, mit leb¬
haftem Widerspruch gegen die bestehende tatsächliche Lage der Dinge. Die
ersteren opferten den Rhein dem Frieden, die letzteren den Frieden dem Rhein.
Meines Erachtens hatten beide Parteien Unrecht und Recht. Ich denke, daß
es zwischen diesen beiden sich ausschließenden und gegenüberstehenden Meinungen
Platz für eine vermittelnde versöhnliche Ansicht gibt. Schon während meiner
Rheinreisen glaubte ich die Lösung der Frage finden zu können: daß man
Frankreichs Recht aufrecht halten könne, ohne das Nationalgefühl Deutschlands
zu verletzen. Als mir dieser Gedanke gekommen war. erschien er mir nicht
bloß als ein Gedanke, sondern als eine Pflicht. Jede Pflicht muß aber er¬
füllt werden -- und wenn eine Frage, die ganz Europa und damit die ganze
Menschheit in Atem hält, dunkel ist, muß jeder, der etwas dazu zu sagen hat.
Licht in dieses Dunkel zu bringen versuchen, und wenn sein Licht auch noch
so bescheiden ist".


Victor Hugo als Vorkämpfer einer deutsch-französischen Annäherung

etwaige Invasionen zu wenig geschützt sind, und die Deutschen brauchten nicht
zu fürchten, die Rheingrenze zu verlieren, solange sie nicht selber den Frieden
brechen. Weder das deutsche noch das französische Volk begehrt nach Krieg."

Heines Zuversicht auf die Erhaltung des Friedens bewahrte sich. Aber
die von der Rheinfrage ausgelöste lebhafte Bewegung der Geister ließ auf
französischer Seite eine umfangreiche, wenig bekannte historisch.politische Arbeit
des Dichters und glühenden Patrioten Victor Hugo entstehen. Sie verbreitet
sich eingehend über die Gestaltung der Verhältnisse Europas, behandelt die
Möglichkeit und Notwendigkeit der Versöhnung Deutschlands und Frankreichs
und beleuchtet treffend die Sonderstellung Rußlands und Englands gegenüber
Europa. Manche Gedanken sind so weitschauend und auch heute noch zeitgemäß,
daß sie verdienen, hervorgeholt zu werden.

Victor Hugo hatte in den Jahren 1838 und 1839 zwei monatelange
Rheinreisen gemacht und von diesen Reisen aus nach alter Gewohnheit Briefe
an einen Pariser Freund gerichtet — nicht in der Absicht der Veröffentlichung,
sondern um die täglichen Erlebnisse und Eindrücke festzuhalten, die „weniger
dem Reisenden selbst als seinem Geiste zustoßen und in ihrer Gesamtheit mehr
das Tagebuch eines Gedankens als einer Reise ergeben". Die Briefe lagen
dann lange bei dem Freunde und wurden eines Tages Ende 1840 wieder
hervorgeholt, als die Rheinfrage auf den Plan getreten war. Der Ver¬
fasser äußert sich darüber selbst in der Vorrede zu seinem Werke „Le Rhin":

„Man erinnert sich, daß die Rheinfrage vor einigen Monaten ganz plötzlich
sich wieder geregt hat. Ausgezeichnete und vornehme Geister haben in Frank¬
reich lebhast darüber gestritten und zunächst, wie es immer zu gehen pflegt,
zwei sich sehr scharf gegenüberstehende Parteien gebildet. Die einen haben
die Verträge von 1815 als feststehende Tatsache betrachtet, und von ihnen
ausgehend das linke Rheinufer Deutschland endgültig lassen und nur seine
Freundschaft erlangen wollen; die anderen haben diese Freundschaft von sich
gewiesen und sehr heftig das linke Rheinufer für Frankreich verlangt, mit leb¬
haftem Widerspruch gegen die bestehende tatsächliche Lage der Dinge. Die
ersteren opferten den Rhein dem Frieden, die letzteren den Frieden dem Rhein.
Meines Erachtens hatten beide Parteien Unrecht und Recht. Ich denke, daß
es zwischen diesen beiden sich ausschließenden und gegenüberstehenden Meinungen
Platz für eine vermittelnde versöhnliche Ansicht gibt. Schon während meiner
Rheinreisen glaubte ich die Lösung der Frage finden zu können: daß man
Frankreichs Recht aufrecht halten könne, ohne das Nationalgefühl Deutschlands
zu verletzen. Als mir dieser Gedanke gekommen war. erschien er mir nicht
bloß als ein Gedanke, sondern als eine Pflicht. Jede Pflicht muß aber er¬
füllt werden — und wenn eine Frage, die ganz Europa und damit die ganze
Menschheit in Atem hält, dunkel ist, muß jeder, der etwas dazu zu sagen hat.
Licht in dieses Dunkel zu bringen versuchen, und wenn sein Licht auch noch
so bescheiden ist".


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[0411] Victor Hugo als Vorkämpfer einer deutsch-französischen Annäherung etwaige Invasionen zu wenig geschützt sind, und die Deutschen brauchten nicht zu fürchten, die Rheingrenze zu verlieren, solange sie nicht selber den Frieden brechen. Weder das deutsche noch das französische Volk begehrt nach Krieg." Heines Zuversicht auf die Erhaltung des Friedens bewahrte sich. Aber die von der Rheinfrage ausgelöste lebhafte Bewegung der Geister ließ auf französischer Seite eine umfangreiche, wenig bekannte historisch.politische Arbeit des Dichters und glühenden Patrioten Victor Hugo entstehen. Sie verbreitet sich eingehend über die Gestaltung der Verhältnisse Europas, behandelt die Möglichkeit und Notwendigkeit der Versöhnung Deutschlands und Frankreichs und beleuchtet treffend die Sonderstellung Rußlands und Englands gegenüber Europa. Manche Gedanken sind so weitschauend und auch heute noch zeitgemäß, daß sie verdienen, hervorgeholt zu werden. Victor Hugo hatte in den Jahren 1838 und 1839 zwei monatelange Rheinreisen gemacht und von diesen Reisen aus nach alter Gewohnheit Briefe an einen Pariser Freund gerichtet — nicht in der Absicht der Veröffentlichung, sondern um die täglichen Erlebnisse und Eindrücke festzuhalten, die „weniger dem Reisenden selbst als seinem Geiste zustoßen und in ihrer Gesamtheit mehr das Tagebuch eines Gedankens als einer Reise ergeben". Die Briefe lagen dann lange bei dem Freunde und wurden eines Tages Ende 1840 wieder hervorgeholt, als die Rheinfrage auf den Plan getreten war. Der Ver¬ fasser äußert sich darüber selbst in der Vorrede zu seinem Werke „Le Rhin": „Man erinnert sich, daß die Rheinfrage vor einigen Monaten ganz plötzlich sich wieder geregt hat. Ausgezeichnete und vornehme Geister haben in Frank¬ reich lebhast darüber gestritten und zunächst, wie es immer zu gehen pflegt, zwei sich sehr scharf gegenüberstehende Parteien gebildet. Die einen haben die Verträge von 1815 als feststehende Tatsache betrachtet, und von ihnen ausgehend das linke Rheinufer Deutschland endgültig lassen und nur seine Freundschaft erlangen wollen; die anderen haben diese Freundschaft von sich gewiesen und sehr heftig das linke Rheinufer für Frankreich verlangt, mit leb¬ haftem Widerspruch gegen die bestehende tatsächliche Lage der Dinge. Die ersteren opferten den Rhein dem Frieden, die letzteren den Frieden dem Rhein. Meines Erachtens hatten beide Parteien Unrecht und Recht. Ich denke, daß es zwischen diesen beiden sich ausschließenden und gegenüberstehenden Meinungen Platz für eine vermittelnde versöhnliche Ansicht gibt. Schon während meiner Rheinreisen glaubte ich die Lösung der Frage finden zu können: daß man Frankreichs Recht aufrecht halten könne, ohne das Nationalgefühl Deutschlands zu verletzen. Als mir dieser Gedanke gekommen war. erschien er mir nicht bloß als ein Gedanke, sondern als eine Pflicht. Jede Pflicht muß aber er¬ füllt werden — und wenn eine Frage, die ganz Europa und damit die ganze Menschheit in Atem hält, dunkel ist, muß jeder, der etwas dazu zu sagen hat. Licht in dieses Dunkel zu bringen versuchen, und wenn sein Licht auch noch so bescheiden ist".

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/411>, abgerufen am 14.05.2024.