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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr.

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Lodz
Leonhard Schrickel von

ieither schon grüßt sie, die "deutsche" Stadt. Aber so trauer¬
umflort steht sie dort im flachen, kahlen Lande, so trübe und
stumm im sagenreichen Polen, wie eine Vereinsamte in der
Fremde. Graue Türme, schwere, sich gleichsam unter der eigenen
^Last mühsam aufreckende Türme ragen aus der undeutlichen
Häusermasse empor, und schwarze, kalte Fabrikschlote zeichnen sich düster am
Himmel ab. Und wie diese Stadt, so die Wege zu ihr. Auch sie trostlos,
zerfahren und zerrissen, bedeckt von knöcheltiefem Schlamm; kein Baum an
den Seiten, kein Richtstein, kein Telegraphenmast, dessen weiße Glocken wie
Frühlingslieder, wie lenzläutende Märzenblumen wirken müßten. Nichts als
Schmutz und stummes Jnsichversunkensein.

Beklommen schier, mit angehaltenem Atem und schaudernd wie von
Grabeskühle angeweht, betreten wir die anscheinend tote, leere Stadt; treten
ein wie in eine riesenhafte Katakombe, in der die Seufzer der Träumer und
Dichter wohnen, die durch Jahrhunderte hindurch bis an das eigene Ende die
Toten ihres Volkes eingebettet haben.

Doch wie bald und wie jäh ändert sich das Bild! Zwar die erste Gasse,
in die unser Weg einmündet, ist noch ebenso unerbittlich schmutzig und holperig,
und die Bübchen rechts und links sitzen am Rande dieses zähen Sumpfes wie
uralte, schimmelige Schildkröten; aber die Straße ist durchpulst von lärmendem
Leben. Da laufen schreiende Kinder jeglichen Alters die Kreuz und die Quer,
Zeitungen ältesten und neuesten Datums, deutscher, russischer, polnischer, jüdischer,
englischer, galizischer Herkunft. Zigaretten seltsamster Art, Brot, Schuhnägel,
Brennholz, Zuckerhuttrümmer und was es noch sonst an schnurrigem Zeug gibt
feilbietend und in den schwärzlichen Händen oder fragwürdigen Mützen aufdringlich
präsentierend. Auf den Haustürstufen, die hier auf-, dort abwärts zur Schwelle
führen, bemühen sich lockenüberwucherte Jünglinge und dunkeläugige Jungfrauen in
ernstem Eifer, jene Schreier noch zu überschreien oder durch weitausholende Geberden
zu übertrumpfen, um ihre eigne Ware an den Mann zu bringen. Und in der
Straßenmitte schleppen Männer und Frauen auf wackeligen Karren, vor denen


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Lodz
Leonhard Schrickel von

ieither schon grüßt sie, die „deutsche" Stadt. Aber so trauer¬
umflort steht sie dort im flachen, kahlen Lande, so trübe und
stumm im sagenreichen Polen, wie eine Vereinsamte in der
Fremde. Graue Türme, schwere, sich gleichsam unter der eigenen
^Last mühsam aufreckende Türme ragen aus der undeutlichen
Häusermasse empor, und schwarze, kalte Fabrikschlote zeichnen sich düster am
Himmel ab. Und wie diese Stadt, so die Wege zu ihr. Auch sie trostlos,
zerfahren und zerrissen, bedeckt von knöcheltiefem Schlamm; kein Baum an
den Seiten, kein Richtstein, kein Telegraphenmast, dessen weiße Glocken wie
Frühlingslieder, wie lenzläutende Märzenblumen wirken müßten. Nichts als
Schmutz und stummes Jnsichversunkensein.

Beklommen schier, mit angehaltenem Atem und schaudernd wie von
Grabeskühle angeweht, betreten wir die anscheinend tote, leere Stadt; treten
ein wie in eine riesenhafte Katakombe, in der die Seufzer der Träumer und
Dichter wohnen, die durch Jahrhunderte hindurch bis an das eigene Ende die
Toten ihres Volkes eingebettet haben.

Doch wie bald und wie jäh ändert sich das Bild! Zwar die erste Gasse,
in die unser Weg einmündet, ist noch ebenso unerbittlich schmutzig und holperig,
und die Bübchen rechts und links sitzen am Rande dieses zähen Sumpfes wie
uralte, schimmelige Schildkröten; aber die Straße ist durchpulst von lärmendem
Leben. Da laufen schreiende Kinder jeglichen Alters die Kreuz und die Quer,
Zeitungen ältesten und neuesten Datums, deutscher, russischer, polnischer, jüdischer,
englischer, galizischer Herkunft. Zigaretten seltsamster Art, Brot, Schuhnägel,
Brennholz, Zuckerhuttrümmer und was es noch sonst an schnurrigem Zeug gibt
feilbietend und in den schwärzlichen Händen oder fragwürdigen Mützen aufdringlich
präsentierend. Auf den Haustürstufen, die hier auf-, dort abwärts zur Schwelle
führen, bemühen sich lockenüberwucherte Jünglinge und dunkeläugige Jungfrauen in
ernstem Eifer, jene Schreier noch zu überschreien oder durch weitausholende Geberden
zu übertrumpfen, um ihre eigne Ware an den Mann zu bringen. Und in der
Straßenmitte schleppen Männer und Frauen auf wackeligen Karren, vor denen


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[0063] [Abbildung] Lodz Leonhard Schrickel von ieither schon grüßt sie, die „deutsche" Stadt. Aber so trauer¬ umflort steht sie dort im flachen, kahlen Lande, so trübe und stumm im sagenreichen Polen, wie eine Vereinsamte in der Fremde. Graue Türme, schwere, sich gleichsam unter der eigenen ^Last mühsam aufreckende Türme ragen aus der undeutlichen Häusermasse empor, und schwarze, kalte Fabrikschlote zeichnen sich düster am Himmel ab. Und wie diese Stadt, so die Wege zu ihr. Auch sie trostlos, zerfahren und zerrissen, bedeckt von knöcheltiefem Schlamm; kein Baum an den Seiten, kein Richtstein, kein Telegraphenmast, dessen weiße Glocken wie Frühlingslieder, wie lenzläutende Märzenblumen wirken müßten. Nichts als Schmutz und stummes Jnsichversunkensein. Beklommen schier, mit angehaltenem Atem und schaudernd wie von Grabeskühle angeweht, betreten wir die anscheinend tote, leere Stadt; treten ein wie in eine riesenhafte Katakombe, in der die Seufzer der Träumer und Dichter wohnen, die durch Jahrhunderte hindurch bis an das eigene Ende die Toten ihres Volkes eingebettet haben. Doch wie bald und wie jäh ändert sich das Bild! Zwar die erste Gasse, in die unser Weg einmündet, ist noch ebenso unerbittlich schmutzig und holperig, und die Bübchen rechts und links sitzen am Rande dieses zähen Sumpfes wie uralte, schimmelige Schildkröten; aber die Straße ist durchpulst von lärmendem Leben. Da laufen schreiende Kinder jeglichen Alters die Kreuz und die Quer, Zeitungen ältesten und neuesten Datums, deutscher, russischer, polnischer, jüdischer, englischer, galizischer Herkunft. Zigaretten seltsamster Art, Brot, Schuhnägel, Brennholz, Zuckerhuttrümmer und was es noch sonst an schnurrigem Zeug gibt feilbietend und in den schwärzlichen Händen oder fragwürdigen Mützen aufdringlich präsentierend. Auf den Haustürstufen, die hier auf-, dort abwärts zur Schwelle führen, bemühen sich lockenüberwucherte Jünglinge und dunkeläugige Jungfrauen in ernstem Eifer, jene Schreier noch zu überschreien oder durch weitausholende Geberden zu übertrumpfen, um ihre eigne Ware an den Mann zu bringen. Und in der Straßenmitte schleppen Männer und Frauen auf wackeligen Karren, vor denen 4»

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323097/63>, abgerufen am 29.04.2024.