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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Ariegswirtschaftslehre
Dr. SL. pol. Ernst Vberfohren von

el einer Durchsicht der gangbaren wirtschaftswissenschaftlichen Nach¬
schlagewerke und Lehrbücher sucht man. vergeblich nach einer
Behandlung der akuten pathologischen Erscheinungen des Wirtschafts¬
lebens, die der Krieg hervorruft. Während sonst soziale Gesichts¬
punkte allgemeinsterArt in der bisherigen wirtschaftswissenschaftlichen
Forschung und Lehre nichts Seltenes waren, wurde der Krieg stark vernach¬
lässigt, mochte es sich nun um Erscheinungen handeln, die den Krieg,
modifizieren, oder um solche, die durch ihn modifiziert werden. Etwa die
Kriegskrisis den immer wieder auftretenden, für unsere Wirtschaftsordnung
charakteristischen Krisen unterzuordnen, geht nicht an; und zwar schon deshalb
nicht, weil die Kriegskrisis meist plötzlich eintritt und alle Teile der Wirtschaft
gleichzeitig trifft, während die "normale" Wirtschaftskrise einen langsamen
Verlauf nimmt, indem sie von einer bestimmten Stelle beginnend sich auf die
anderen Gebiete ausdehnt. Nun ist zwar, wie bekannt, in den letzten Jahren
vor dem gegenwärtigen Weltkriege eine ganze Reihe von Schriften über einzelne
finanzielle Fragen, über die Wirkungen des Krieges auf den Ackerbau, den
Handel einzelner Länder, über den Zusammenhang zwischen den Produktions¬
formen, welche durch den Krieg einerseits, den Frieden anderseits bedingt
werden, erschienen; auch sind einzelne kriegswirtschaftliche Untersuchungen durch
die verhältnismäßig zahlreichen kurz aufeinanderfolgenden Kriege der letzten
Jahrzehnte, die bedeutsames Erfahrungsmaterial geliefert haben (so der spanisch¬
amerikanische Krieg, der Burenkrieg, der russisch-japanische Krieg, der italienisch¬
türkische Krieg, der Balkankrieg), veranlaßt worden. Wenn man indessen die
an sich vielfach sehr wertvollen Arbeiten durchmustert, fällt einem ein offenbarer
Mangel an Systematik auf: die einzelnen Fragen sind wohl in der mannig¬
faltigsten Weise angefaßt, es fehlt indessen an zielbewußter Zusammenarbeit,,
die für den wissenschaftlichen Fortschritt von größter Bedeutung ist.

Vielleicht hat die hier angedeutete Tatsache darin ihren Grund, daß die
theoretische Nationalökonomie vielfach, veranlaßt durch naturwissenschaftliche
Analogien, danach trachtete, eine einzige Wirtschaftsordnung als "die" Wirt¬
schaftsordnung zu konstruieren und die verschiedenen erfahrungsmäßig vor¬
gefundenen als unwesentliche Variationen anzusehen. Unter dem Eindruck der




Ariegswirtschaftslehre
Dr. SL. pol. Ernst Vberfohren von

el einer Durchsicht der gangbaren wirtschaftswissenschaftlichen Nach¬
schlagewerke und Lehrbücher sucht man. vergeblich nach einer
Behandlung der akuten pathologischen Erscheinungen des Wirtschafts¬
lebens, die der Krieg hervorruft. Während sonst soziale Gesichts¬
punkte allgemeinsterArt in der bisherigen wirtschaftswissenschaftlichen
Forschung und Lehre nichts Seltenes waren, wurde der Krieg stark vernach¬
lässigt, mochte es sich nun um Erscheinungen handeln, die den Krieg,
modifizieren, oder um solche, die durch ihn modifiziert werden. Etwa die
Kriegskrisis den immer wieder auftretenden, für unsere Wirtschaftsordnung
charakteristischen Krisen unterzuordnen, geht nicht an; und zwar schon deshalb
nicht, weil die Kriegskrisis meist plötzlich eintritt und alle Teile der Wirtschaft
gleichzeitig trifft, während die „normale" Wirtschaftskrise einen langsamen
Verlauf nimmt, indem sie von einer bestimmten Stelle beginnend sich auf die
anderen Gebiete ausdehnt. Nun ist zwar, wie bekannt, in den letzten Jahren
vor dem gegenwärtigen Weltkriege eine ganze Reihe von Schriften über einzelne
finanzielle Fragen, über die Wirkungen des Krieges auf den Ackerbau, den
Handel einzelner Länder, über den Zusammenhang zwischen den Produktions¬
formen, welche durch den Krieg einerseits, den Frieden anderseits bedingt
werden, erschienen; auch sind einzelne kriegswirtschaftliche Untersuchungen durch
die verhältnismäßig zahlreichen kurz aufeinanderfolgenden Kriege der letzten
Jahrzehnte, die bedeutsames Erfahrungsmaterial geliefert haben (so der spanisch¬
amerikanische Krieg, der Burenkrieg, der russisch-japanische Krieg, der italienisch¬
türkische Krieg, der Balkankrieg), veranlaßt worden. Wenn man indessen die
an sich vielfach sehr wertvollen Arbeiten durchmustert, fällt einem ein offenbarer
Mangel an Systematik auf: die einzelnen Fragen sind wohl in der mannig¬
faltigsten Weise angefaßt, es fehlt indessen an zielbewußter Zusammenarbeit,,
die für den wissenschaftlichen Fortschritt von größter Bedeutung ist.

Vielleicht hat die hier angedeutete Tatsache darin ihren Grund, daß die
theoretische Nationalökonomie vielfach, veranlaßt durch naturwissenschaftliche
Analogien, danach trachtete, eine einzige Wirtschaftsordnung als „die" Wirt¬
schaftsordnung zu konstruieren und die verschiedenen erfahrungsmäßig vor¬
gefundenen als unwesentliche Variationen anzusehen. Unter dem Eindruck der


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[0188] [Abbildung] Ariegswirtschaftslehre Dr. SL. pol. Ernst Vberfohren von el einer Durchsicht der gangbaren wirtschaftswissenschaftlichen Nach¬ schlagewerke und Lehrbücher sucht man. vergeblich nach einer Behandlung der akuten pathologischen Erscheinungen des Wirtschafts¬ lebens, die der Krieg hervorruft. Während sonst soziale Gesichts¬ punkte allgemeinsterArt in der bisherigen wirtschaftswissenschaftlichen Forschung und Lehre nichts Seltenes waren, wurde der Krieg stark vernach¬ lässigt, mochte es sich nun um Erscheinungen handeln, die den Krieg, modifizieren, oder um solche, die durch ihn modifiziert werden. Etwa die Kriegskrisis den immer wieder auftretenden, für unsere Wirtschaftsordnung charakteristischen Krisen unterzuordnen, geht nicht an; und zwar schon deshalb nicht, weil die Kriegskrisis meist plötzlich eintritt und alle Teile der Wirtschaft gleichzeitig trifft, während die „normale" Wirtschaftskrise einen langsamen Verlauf nimmt, indem sie von einer bestimmten Stelle beginnend sich auf die anderen Gebiete ausdehnt. Nun ist zwar, wie bekannt, in den letzten Jahren vor dem gegenwärtigen Weltkriege eine ganze Reihe von Schriften über einzelne finanzielle Fragen, über die Wirkungen des Krieges auf den Ackerbau, den Handel einzelner Länder, über den Zusammenhang zwischen den Produktions¬ formen, welche durch den Krieg einerseits, den Frieden anderseits bedingt werden, erschienen; auch sind einzelne kriegswirtschaftliche Untersuchungen durch die verhältnismäßig zahlreichen kurz aufeinanderfolgenden Kriege der letzten Jahrzehnte, die bedeutsames Erfahrungsmaterial geliefert haben (so der spanisch¬ amerikanische Krieg, der Burenkrieg, der russisch-japanische Krieg, der italienisch¬ türkische Krieg, der Balkankrieg), veranlaßt worden. Wenn man indessen die an sich vielfach sehr wertvollen Arbeiten durchmustert, fällt einem ein offenbarer Mangel an Systematik auf: die einzelnen Fragen sind wohl in der mannig¬ faltigsten Weise angefaßt, es fehlt indessen an zielbewußter Zusammenarbeit,, die für den wissenschaftlichen Fortschritt von größter Bedeutung ist. Vielleicht hat die hier angedeutete Tatsache darin ihren Grund, daß die theoretische Nationalökonomie vielfach, veranlaßt durch naturwissenschaftliche Analogien, danach trachtete, eine einzige Wirtschaftsordnung als „die" Wirt¬ schaftsordnung zu konstruieren und die verschiedenen erfahrungsmäßig vor¬ gefundenen als unwesentliche Variationen anzusehen. Unter dem Eindruck der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/188>, abgerufen am 26.04.2024.