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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die Krisis des deutschbaltischen Menschen

Das Labbertonsche Buch wird hoffentlich im neutralen Auslande zur Auf¬
klärung beitragen, mindestens doch zum Nachdenken anregen. Wir Deutsche
haben jedenfalls Grund zu dankbarer Genugtuung, daß auch im Auslande solche
Bücher geschrieben werden. Und wenn bei der Unmöglichkeit, vorläufig hand¬
greifliche Beweise zu erbringen und die Leute von unserer inneren sittlichen
Berechtigung zu "überzeugen", die belgische "Frage" zunächst Gefühlssache,
Ansichtssache bleiben wird, so wollen wir uns mit der Philosophie Reuters
"Wer't nich mag, dei mag't jo woll nich mögen" abfinden und uns an dem
Bewußtsein, das rechte getan zu haben, und an der Zuversicht, daß die
-Geschichte uns doch einmal recht geben wird, genügen lassen.




Die Krisis des deutschbaltischen Menschen
Dr. Max Hildebert Bochen von(Schluß)

Es ist mir hier versagt, in gleichem Eingehen auch die bauende Kraft
aller anderen Kulturstrebungen aufzuzeigen. Die Kunst trat dabei nicht sonderlich
hervor. Hier war das Baltikum in stärkerem Maße dem Mutterlande gegen¬
über nehmend. Übrigens tritt auch auf diesem Feld die parallele Entwicklung
des literarischen Lebens mit dem großdeutschen deutlich zutage*). Auch ist
mit Burchard Waldis, Lenz und Keyserling das baltische Land der deutschen
Dichtkunst ihren Beitrag immerhin nicht schuldig geblieben. In der Musik und
bildenden Kunst hat es dagegen bisher kaum Wesentliches geleistet. Die
Architektonik des Landes gibt einem herben nordischen Kunstwillen Ausdruck.
Daß von einer solchen überhaupt noch gesprochen werden kann, will etwas
heißen in einer Gegend, wo die Kriegsfackel so fürchterlich gehaust hat, wie
an wenigen Punkten Europas.

Aber an der sozialen Struktur des baltischen Lebens können wir nicht
ganz vorbeigehen, zumal sie in erster Linie wohl den heimeligen Eindruck be¬
stimmte, den der Gast aus dem alten Livland nach Hause brachte. Des Einflusses,
der dem Hause innerhalb des baltischen Gemeinschaftslebens zugewiesen war,
wurde schon gedacht. Wenn sich diese Form für das Land von selbst zu ver-



*) Vergleiche die historische übersieht in der Einleitung zum "Baltischen Dichterbuch".
Herausgegeben von Jeannot Freiherr von Grotthuß. Reval 1894.
S1*
Die Krisis des deutschbaltischen Menschen

Das Labbertonsche Buch wird hoffentlich im neutralen Auslande zur Auf¬
klärung beitragen, mindestens doch zum Nachdenken anregen. Wir Deutsche
haben jedenfalls Grund zu dankbarer Genugtuung, daß auch im Auslande solche
Bücher geschrieben werden. Und wenn bei der Unmöglichkeit, vorläufig hand¬
greifliche Beweise zu erbringen und die Leute von unserer inneren sittlichen
Berechtigung zu „überzeugen", die belgische „Frage" zunächst Gefühlssache,
Ansichtssache bleiben wird, so wollen wir uns mit der Philosophie Reuters
„Wer't nich mag, dei mag't jo woll nich mögen" abfinden und uns an dem
Bewußtsein, das rechte getan zu haben, und an der Zuversicht, daß die
-Geschichte uns doch einmal recht geben wird, genügen lassen.




Die Krisis des deutschbaltischen Menschen
Dr. Max Hildebert Bochen von(Schluß)

Es ist mir hier versagt, in gleichem Eingehen auch die bauende Kraft
aller anderen Kulturstrebungen aufzuzeigen. Die Kunst trat dabei nicht sonderlich
hervor. Hier war das Baltikum in stärkerem Maße dem Mutterlande gegen¬
über nehmend. Übrigens tritt auch auf diesem Feld die parallele Entwicklung
des literarischen Lebens mit dem großdeutschen deutlich zutage*). Auch ist
mit Burchard Waldis, Lenz und Keyserling das baltische Land der deutschen
Dichtkunst ihren Beitrag immerhin nicht schuldig geblieben. In der Musik und
bildenden Kunst hat es dagegen bisher kaum Wesentliches geleistet. Die
Architektonik des Landes gibt einem herben nordischen Kunstwillen Ausdruck.
Daß von einer solchen überhaupt noch gesprochen werden kann, will etwas
heißen in einer Gegend, wo die Kriegsfackel so fürchterlich gehaust hat, wie
an wenigen Punkten Europas.

Aber an der sozialen Struktur des baltischen Lebens können wir nicht
ganz vorbeigehen, zumal sie in erster Linie wohl den heimeligen Eindruck be¬
stimmte, den der Gast aus dem alten Livland nach Hause brachte. Des Einflusses,
der dem Hause innerhalb des baltischen Gemeinschaftslebens zugewiesen war,
wurde schon gedacht. Wenn sich diese Form für das Land von selbst zu ver-



*) Vergleiche die historische übersieht in der Einleitung zum „Baltischen Dichterbuch".
Herausgegeben von Jeannot Freiherr von Grotthuß. Reval 1894.
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[0383] Die Krisis des deutschbaltischen Menschen Das Labbertonsche Buch wird hoffentlich im neutralen Auslande zur Auf¬ klärung beitragen, mindestens doch zum Nachdenken anregen. Wir Deutsche haben jedenfalls Grund zu dankbarer Genugtuung, daß auch im Auslande solche Bücher geschrieben werden. Und wenn bei der Unmöglichkeit, vorläufig hand¬ greifliche Beweise zu erbringen und die Leute von unserer inneren sittlichen Berechtigung zu „überzeugen", die belgische „Frage" zunächst Gefühlssache, Ansichtssache bleiben wird, so wollen wir uns mit der Philosophie Reuters „Wer't nich mag, dei mag't jo woll nich mögen" abfinden und uns an dem Bewußtsein, das rechte getan zu haben, und an der Zuversicht, daß die -Geschichte uns doch einmal recht geben wird, genügen lassen. Die Krisis des deutschbaltischen Menschen Dr. Max Hildebert Bochen von(Schluß) Es ist mir hier versagt, in gleichem Eingehen auch die bauende Kraft aller anderen Kulturstrebungen aufzuzeigen. Die Kunst trat dabei nicht sonderlich hervor. Hier war das Baltikum in stärkerem Maße dem Mutterlande gegen¬ über nehmend. Übrigens tritt auch auf diesem Feld die parallele Entwicklung des literarischen Lebens mit dem großdeutschen deutlich zutage*). Auch ist mit Burchard Waldis, Lenz und Keyserling das baltische Land der deutschen Dichtkunst ihren Beitrag immerhin nicht schuldig geblieben. In der Musik und bildenden Kunst hat es dagegen bisher kaum Wesentliches geleistet. Die Architektonik des Landes gibt einem herben nordischen Kunstwillen Ausdruck. Daß von einer solchen überhaupt noch gesprochen werden kann, will etwas heißen in einer Gegend, wo die Kriegsfackel so fürchterlich gehaust hat, wie an wenigen Punkten Europas. Aber an der sozialen Struktur des baltischen Lebens können wir nicht ganz vorbeigehen, zumal sie in erster Linie wohl den heimeligen Eindruck be¬ stimmte, den der Gast aus dem alten Livland nach Hause brachte. Des Einflusses, der dem Hause innerhalb des baltischen Gemeinschaftslebens zugewiesen war, wurde schon gedacht. Wenn sich diese Form für das Land von selbst zu ver- *) Vergleiche die historische übersieht in der Einleitung zum „Baltischen Dichterbuch". Herausgegeben von Jeannot Freiherr von Grotthuß. Reval 1894. S1*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/383>, abgerufen am 26.04.2024.