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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Die Krisis des deutschbaltischen Menschen
II. Die Krisis

Alles Kolonistenschicksal drängt von innen her auf eine Krisis hin. In
seiner Tiefe ist sein Herrentum letzten Endes Lehrherrentum. Aus dieser
Sendung kommt ihm die ideale Würde. Dann aber muß mit großer historischer
Notwendigkeit der Augenblick eintreten, wo der Schüler zur Mündigkeit heran¬
reift und sich gegen die Bevormundung auflehnt. Dem Schichtungsprinzip
stemmt sich der Gleichheitsgedanke entgegen. Und was das Wesentliche ist:
das Herrentum selber muß sich in sich selbst entzweien. Die aufbegehrenden
Forderungen der Niedergehaltenen müssen es einerseits in das Extrem eines
verhärteten Konservativismus treiben, anderseits ihm die Einsicht in das abstrakte
Recht des gegnerischen Standpunkts aufnötigen. So gerät es in Zwiespalt mit
sich selbst. Sem Verstand rebelliert gegen die ererbten Instinkte. Ein konkretes
Gefühl des eigenen Selbjtbehauptungsrechts stößt auf Widerstände von feiten
abstrakter Billigkeitserwägungen. Die Resignation fällt unendlich schwer. --
Soweit die abstrakte Formel dieses Prozesses. Auf die tatsächlichen baltischen
Verhältnisse^angewandt, läuft der Vorgang mit der fortschreitenden Liberalisierung
in den nationalen Einheitsstaaten Westeuropas überein. Aber was sich dort
vollzieht, ist doch nur eine durch das Majoritätsprmztp herbeigeführte Um-
lagerung in der Rangordnung der Stände und ihrem politischen Einfluß. Die
Kontinuität der ererbten nationalen Kultur ist nicht gefährdet, sondern aus dem
Aufstieg unverbrauchter, national gleichartiger Kräfte erwachsen ihr Verjüngungs-
hoffnungen und neue reiche Möglichkeiten, in denen kein letzter Verrat an den
Wurzeln des Überkommenen zu befürchten ist. Im baltischen Land dagegen
verlangt der neuzeitliche Gedanke, daß die Oberschicht, die dem Land seine
ganze bisherige Kultur gegeben, freilich aber ihm seine ursprünglichen Sprachen
gelassen hat, nunmehr abtrete und den kleinen emporkömmlingshasten Natiönchen
den Platz räume um deswillen, daß sie ihnen zahlenmäßig weit unterlegen ist.
Der Verzicht auf ständische Vorrechte wächst sich zu nationaler Selbstaufgabe
aus. Dreiste Ideologien wagen sich bei den Einheimischen hervor, wonach die
Herren ihnen das Land "gestohlen" haben, welches es nun wiederzugewinnen
gilt. Und der Russe gar wird als Erlöser vom unerträglichen junkerischen
Druck hingestellt, da er -- in durchsichtiger Berechnung -- durch einstweilige
Bevorzugung der Unterschicht das gefährlichere, weil in kulturellen Betracht
nllein wesenhaste Deutschtum zunächst zu beseitigen sucht, um dann nachher mit
den kleinen Nationen leichtes Spiel zu haben.

Dies also ist die Krisis. Und niemand wird den heutigen baltischen
Menschen verstehen können, der nicht die klare Einsicht in diesen Zwiespalt
gewinnt. In ihm find die Schroffheiten, der Dünkel auch begründet, der in
Deutschland vielfach zurückstoßend wirkt. Unter der Dorpater Studentenschaft
der letzten Jahre scheint die nationale Exklusivität der Deutschen eher zu- als
abgenommen zu haben. Der Stolz einer Herrenhaft behaupteten eigenwüchfigen
Kultur rennt wider Hindernisse, deren Wesenhaftigkett er fühlt. Und er ver-


Die Krisis des deutschbaltischen Menschen
II. Die Krisis

Alles Kolonistenschicksal drängt von innen her auf eine Krisis hin. In
seiner Tiefe ist sein Herrentum letzten Endes Lehrherrentum. Aus dieser
Sendung kommt ihm die ideale Würde. Dann aber muß mit großer historischer
Notwendigkeit der Augenblick eintreten, wo der Schüler zur Mündigkeit heran¬
reift und sich gegen die Bevormundung auflehnt. Dem Schichtungsprinzip
stemmt sich der Gleichheitsgedanke entgegen. Und was das Wesentliche ist:
das Herrentum selber muß sich in sich selbst entzweien. Die aufbegehrenden
Forderungen der Niedergehaltenen müssen es einerseits in das Extrem eines
verhärteten Konservativismus treiben, anderseits ihm die Einsicht in das abstrakte
Recht des gegnerischen Standpunkts aufnötigen. So gerät es in Zwiespalt mit
sich selbst. Sem Verstand rebelliert gegen die ererbten Instinkte. Ein konkretes
Gefühl des eigenen Selbjtbehauptungsrechts stößt auf Widerstände von feiten
abstrakter Billigkeitserwägungen. Die Resignation fällt unendlich schwer. —
Soweit die abstrakte Formel dieses Prozesses. Auf die tatsächlichen baltischen
Verhältnisse^angewandt, läuft der Vorgang mit der fortschreitenden Liberalisierung
in den nationalen Einheitsstaaten Westeuropas überein. Aber was sich dort
vollzieht, ist doch nur eine durch das Majoritätsprmztp herbeigeführte Um-
lagerung in der Rangordnung der Stände und ihrem politischen Einfluß. Die
Kontinuität der ererbten nationalen Kultur ist nicht gefährdet, sondern aus dem
Aufstieg unverbrauchter, national gleichartiger Kräfte erwachsen ihr Verjüngungs-
hoffnungen und neue reiche Möglichkeiten, in denen kein letzter Verrat an den
Wurzeln des Überkommenen zu befürchten ist. Im baltischen Land dagegen
verlangt der neuzeitliche Gedanke, daß die Oberschicht, die dem Land seine
ganze bisherige Kultur gegeben, freilich aber ihm seine ursprünglichen Sprachen
gelassen hat, nunmehr abtrete und den kleinen emporkömmlingshasten Natiönchen
den Platz räume um deswillen, daß sie ihnen zahlenmäßig weit unterlegen ist.
Der Verzicht auf ständische Vorrechte wächst sich zu nationaler Selbstaufgabe
aus. Dreiste Ideologien wagen sich bei den Einheimischen hervor, wonach die
Herren ihnen das Land „gestohlen" haben, welches es nun wiederzugewinnen
gilt. Und der Russe gar wird als Erlöser vom unerträglichen junkerischen
Druck hingestellt, da er — in durchsichtiger Berechnung — durch einstweilige
Bevorzugung der Unterschicht das gefährlichere, weil in kulturellen Betracht
nllein wesenhaste Deutschtum zunächst zu beseitigen sucht, um dann nachher mit
den kleinen Nationen leichtes Spiel zu haben.

Dies also ist die Krisis. Und niemand wird den heutigen baltischen
Menschen verstehen können, der nicht die klare Einsicht in diesen Zwiespalt
gewinnt. In ihm find die Schroffheiten, der Dünkel auch begründet, der in
Deutschland vielfach zurückstoßend wirkt. Unter der Dorpater Studentenschaft
der letzten Jahre scheint die nationale Exklusivität der Deutschen eher zu- als
abgenommen zu haben. Der Stolz einer Herrenhaft behaupteten eigenwüchfigen
Kultur rennt wider Hindernisse, deren Wesenhaftigkett er fühlt. Und er ver-


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[0388] Die Krisis des deutschbaltischen Menschen II. Die Krisis Alles Kolonistenschicksal drängt von innen her auf eine Krisis hin. In seiner Tiefe ist sein Herrentum letzten Endes Lehrherrentum. Aus dieser Sendung kommt ihm die ideale Würde. Dann aber muß mit großer historischer Notwendigkeit der Augenblick eintreten, wo der Schüler zur Mündigkeit heran¬ reift und sich gegen die Bevormundung auflehnt. Dem Schichtungsprinzip stemmt sich der Gleichheitsgedanke entgegen. Und was das Wesentliche ist: das Herrentum selber muß sich in sich selbst entzweien. Die aufbegehrenden Forderungen der Niedergehaltenen müssen es einerseits in das Extrem eines verhärteten Konservativismus treiben, anderseits ihm die Einsicht in das abstrakte Recht des gegnerischen Standpunkts aufnötigen. So gerät es in Zwiespalt mit sich selbst. Sem Verstand rebelliert gegen die ererbten Instinkte. Ein konkretes Gefühl des eigenen Selbjtbehauptungsrechts stößt auf Widerstände von feiten abstrakter Billigkeitserwägungen. Die Resignation fällt unendlich schwer. — Soweit die abstrakte Formel dieses Prozesses. Auf die tatsächlichen baltischen Verhältnisse^angewandt, läuft der Vorgang mit der fortschreitenden Liberalisierung in den nationalen Einheitsstaaten Westeuropas überein. Aber was sich dort vollzieht, ist doch nur eine durch das Majoritätsprmztp herbeigeführte Um- lagerung in der Rangordnung der Stände und ihrem politischen Einfluß. Die Kontinuität der ererbten nationalen Kultur ist nicht gefährdet, sondern aus dem Aufstieg unverbrauchter, national gleichartiger Kräfte erwachsen ihr Verjüngungs- hoffnungen und neue reiche Möglichkeiten, in denen kein letzter Verrat an den Wurzeln des Überkommenen zu befürchten ist. Im baltischen Land dagegen verlangt der neuzeitliche Gedanke, daß die Oberschicht, die dem Land seine ganze bisherige Kultur gegeben, freilich aber ihm seine ursprünglichen Sprachen gelassen hat, nunmehr abtrete und den kleinen emporkömmlingshasten Natiönchen den Platz räume um deswillen, daß sie ihnen zahlenmäßig weit unterlegen ist. Der Verzicht auf ständische Vorrechte wächst sich zu nationaler Selbstaufgabe aus. Dreiste Ideologien wagen sich bei den Einheimischen hervor, wonach die Herren ihnen das Land „gestohlen" haben, welches es nun wiederzugewinnen gilt. Und der Russe gar wird als Erlöser vom unerträglichen junkerischen Druck hingestellt, da er — in durchsichtiger Berechnung — durch einstweilige Bevorzugung der Unterschicht das gefährlichere, weil in kulturellen Betracht nllein wesenhaste Deutschtum zunächst zu beseitigen sucht, um dann nachher mit den kleinen Nationen leichtes Spiel zu haben. Dies also ist die Krisis. Und niemand wird den heutigen baltischen Menschen verstehen können, der nicht die klare Einsicht in diesen Zwiespalt gewinnt. In ihm find die Schroffheiten, der Dünkel auch begründet, der in Deutschland vielfach zurückstoßend wirkt. Unter der Dorpater Studentenschaft der letzten Jahre scheint die nationale Exklusivität der Deutschen eher zu- als abgenommen zu haben. Der Stolz einer Herrenhaft behaupteten eigenwüchfigen Kultur rennt wider Hindernisse, deren Wesenhaftigkett er fühlt. Und er ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/388>, abgerufen am 26.04.2024.