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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr.

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Me Krisis des deutschbaltischen Menschen

noch war es so reich und treibender Kräfte so übervoll, daß es sich verschwenden
konnte. Wieviel geistige Fähigkeit, wieviel Willenskraft hat im baltischen
Land einen unendlich viel engeren Wirkungskreis gesucht und gefunden, als sie
hätte ausfüllen können! Auch darin lag noble Verschwendung, so gut wie im
wüsten Schuldenmachen und im vitalen Raubbau alkoholischer und andere
Ausschweifungen im studentischen Leben Dorpats. Indem so nicht selten der
Wille zur weitreichenden Macht und zur Werkschöpfung resignierte, der die
fähigsten Kräfte dem engen heimischen Lande entzogen hätte, wurde eben das
möglich, was der Fremde als die gediegene Größe des baltischen Lebens empfand.
Ein reich begabter deutscher Stamm begnügte sich, einem eng umgreazten Bezirk
das Gepräge seines Geistes aufzudrücken. Statt ins Weite und Weiteste zu
schweifen, baute er mit stiller Liebe, mit sorglicher Hand das Nächste bis ins
einzelne aus. Der im welthistorischen Betracht kleine Zweck wurde nicht als
zu geringfügig angesehen, die ganze Kraft des Kopfes und des Herzens an
ihn zu wenden. Zudem wuchs er durch die Verantwortung, die das Vertrauen
des Mutterlandes dem Vorposten seiner Kultur aus die Schultern legt. Ebenso
verpflichtete der Adel, der dem undeutschen Volk gegenüber in jeder Geste, in
jeder Handlung das überlegene Herrentum zu bewähren hatte.

Wenn aber der engumgrenzte Wirkungskreis die Dichtigkeit sozusagen der
Kraftentfaltung vermehrte, so war doch auch wieder durch die Geschichte des
Landes dafür gesorgt, daß der Kraft eine größere Weite der Möglichkeiten, ein
Geringeres an Schranken und Bindungen zuteil wurde, als es im Mutterland
möglich war und möglich ist. So entstehen ja Kolonien, daß eingepreßte
Fähigkeiten aus der Enge ins Weite streben. Aber auch als das Land auf¬
hörte deutsche Mark zu sein und schließlich zu einer russischen Provinz wurde,
gewährleistete der Anschluß an das Reich der "breiten Naturen" doch immer
noch einen unbeschränkteren, einen hemmungsfreieren Boden für junge Kräfte,
die sich austoben müssen, als das durch seine Zusammendrängung auf eine
übermäßige Betonung des Ordnungsprinzips hingestoßene westliche Europa.
Wo gibt es bei uns solche Jagden in unermeßlichen Wäldern, diese Schlitten¬
fahrten oder Ausritte in polizeiwidrigstem Tempo, diese unbesorgte Lässigkeit
in Zeit und Raum? Wir haben keinen Platz, wir haben entsetzliche Eile --
allesamt! Wir find zur Sparsamkeit, dieser Tugend des kleinen Mannes,
verurteilt. Das empfindet der Balle, der nach Deutschland kommt, auch heute
noch wie einen Druck auf der Brust. Er fühlt, wie hier bei uns die Instinkte
zurückgedrängt, die Expansivität verstaut und verquält, der Werkwille an
spezielles und Speziellstes verloren ist. Darum hängt er so an seiner Heimat,
weil dort dem Vollmenschentum, das das Vitale, meinetwegen das Animalische
im Menschen noch nicht den entwurzelten Zwecken hat zum Opfer bringen
müssen, ein breiterer Raum gegönnt ist. Es ist etwas von der ewigen Jugend
des Ostens im baltischen Land: das trennt es von dem neuen Deutschen
Reich, daS bildet ein geheimes Band mit dem weiten Rußland.


Me Krisis des deutschbaltischen Menschen

noch war es so reich und treibender Kräfte so übervoll, daß es sich verschwenden
konnte. Wieviel geistige Fähigkeit, wieviel Willenskraft hat im baltischen
Land einen unendlich viel engeren Wirkungskreis gesucht und gefunden, als sie
hätte ausfüllen können! Auch darin lag noble Verschwendung, so gut wie im
wüsten Schuldenmachen und im vitalen Raubbau alkoholischer und andere
Ausschweifungen im studentischen Leben Dorpats. Indem so nicht selten der
Wille zur weitreichenden Macht und zur Werkschöpfung resignierte, der die
fähigsten Kräfte dem engen heimischen Lande entzogen hätte, wurde eben das
möglich, was der Fremde als die gediegene Größe des baltischen Lebens empfand.
Ein reich begabter deutscher Stamm begnügte sich, einem eng umgreazten Bezirk
das Gepräge seines Geistes aufzudrücken. Statt ins Weite und Weiteste zu
schweifen, baute er mit stiller Liebe, mit sorglicher Hand das Nächste bis ins
einzelne aus. Der im welthistorischen Betracht kleine Zweck wurde nicht als
zu geringfügig angesehen, die ganze Kraft des Kopfes und des Herzens an
ihn zu wenden. Zudem wuchs er durch die Verantwortung, die das Vertrauen
des Mutterlandes dem Vorposten seiner Kultur aus die Schultern legt. Ebenso
verpflichtete der Adel, der dem undeutschen Volk gegenüber in jeder Geste, in
jeder Handlung das überlegene Herrentum zu bewähren hatte.

Wenn aber der engumgrenzte Wirkungskreis die Dichtigkeit sozusagen der
Kraftentfaltung vermehrte, so war doch auch wieder durch die Geschichte des
Landes dafür gesorgt, daß der Kraft eine größere Weite der Möglichkeiten, ein
Geringeres an Schranken und Bindungen zuteil wurde, als es im Mutterland
möglich war und möglich ist. So entstehen ja Kolonien, daß eingepreßte
Fähigkeiten aus der Enge ins Weite streben. Aber auch als das Land auf¬
hörte deutsche Mark zu sein und schließlich zu einer russischen Provinz wurde,
gewährleistete der Anschluß an das Reich der „breiten Naturen" doch immer
noch einen unbeschränkteren, einen hemmungsfreieren Boden für junge Kräfte,
die sich austoben müssen, als das durch seine Zusammendrängung auf eine
übermäßige Betonung des Ordnungsprinzips hingestoßene westliche Europa.
Wo gibt es bei uns solche Jagden in unermeßlichen Wäldern, diese Schlitten¬
fahrten oder Ausritte in polizeiwidrigstem Tempo, diese unbesorgte Lässigkeit
in Zeit und Raum? Wir haben keinen Platz, wir haben entsetzliche Eile —
allesamt! Wir find zur Sparsamkeit, dieser Tugend des kleinen Mannes,
verurteilt. Das empfindet der Balle, der nach Deutschland kommt, auch heute
noch wie einen Druck auf der Brust. Er fühlt, wie hier bei uns die Instinkte
zurückgedrängt, die Expansivität verstaut und verquält, der Werkwille an
spezielles und Speziellstes verloren ist. Darum hängt er so an seiner Heimat,
weil dort dem Vollmenschentum, das das Vitale, meinetwegen das Animalische
im Menschen noch nicht den entwurzelten Zwecken hat zum Opfer bringen
müssen, ein breiterer Raum gegönnt ist. Es ist etwas von der ewigen Jugend
des Ostens im baltischen Land: das trennt es von dem neuen Deutschen
Reich, daS bildet ein geheimes Band mit dem weiten Rußland.


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[0387] Me Krisis des deutschbaltischen Menschen noch war es so reich und treibender Kräfte so übervoll, daß es sich verschwenden konnte. Wieviel geistige Fähigkeit, wieviel Willenskraft hat im baltischen Land einen unendlich viel engeren Wirkungskreis gesucht und gefunden, als sie hätte ausfüllen können! Auch darin lag noble Verschwendung, so gut wie im wüsten Schuldenmachen und im vitalen Raubbau alkoholischer und andere Ausschweifungen im studentischen Leben Dorpats. Indem so nicht selten der Wille zur weitreichenden Macht und zur Werkschöpfung resignierte, der die fähigsten Kräfte dem engen heimischen Lande entzogen hätte, wurde eben das möglich, was der Fremde als die gediegene Größe des baltischen Lebens empfand. Ein reich begabter deutscher Stamm begnügte sich, einem eng umgreazten Bezirk das Gepräge seines Geistes aufzudrücken. Statt ins Weite und Weiteste zu schweifen, baute er mit stiller Liebe, mit sorglicher Hand das Nächste bis ins einzelne aus. Der im welthistorischen Betracht kleine Zweck wurde nicht als zu geringfügig angesehen, die ganze Kraft des Kopfes und des Herzens an ihn zu wenden. Zudem wuchs er durch die Verantwortung, die das Vertrauen des Mutterlandes dem Vorposten seiner Kultur aus die Schultern legt. Ebenso verpflichtete der Adel, der dem undeutschen Volk gegenüber in jeder Geste, in jeder Handlung das überlegene Herrentum zu bewähren hatte. Wenn aber der engumgrenzte Wirkungskreis die Dichtigkeit sozusagen der Kraftentfaltung vermehrte, so war doch auch wieder durch die Geschichte des Landes dafür gesorgt, daß der Kraft eine größere Weite der Möglichkeiten, ein Geringeres an Schranken und Bindungen zuteil wurde, als es im Mutterland möglich war und möglich ist. So entstehen ja Kolonien, daß eingepreßte Fähigkeiten aus der Enge ins Weite streben. Aber auch als das Land auf¬ hörte deutsche Mark zu sein und schließlich zu einer russischen Provinz wurde, gewährleistete der Anschluß an das Reich der „breiten Naturen" doch immer noch einen unbeschränkteren, einen hemmungsfreieren Boden für junge Kräfte, die sich austoben müssen, als das durch seine Zusammendrängung auf eine übermäßige Betonung des Ordnungsprinzips hingestoßene westliche Europa. Wo gibt es bei uns solche Jagden in unermeßlichen Wäldern, diese Schlitten¬ fahrten oder Ausritte in polizeiwidrigstem Tempo, diese unbesorgte Lässigkeit in Zeit und Raum? Wir haben keinen Platz, wir haben entsetzliche Eile — allesamt! Wir find zur Sparsamkeit, dieser Tugend des kleinen Mannes, verurteilt. Das empfindet der Balle, der nach Deutschland kommt, auch heute noch wie einen Druck auf der Brust. Er fühlt, wie hier bei uns die Instinkte zurückgedrängt, die Expansivität verstaut und verquält, der Werkwille an spezielles und Speziellstes verloren ist. Darum hängt er so an seiner Heimat, weil dort dem Vollmenschentum, das das Vitale, meinetwegen das Animalische im Menschen noch nicht den entwurzelten Zwecken hat zum Opfer bringen müssen, ein breiterer Raum gegönnt ist. Es ist etwas von der ewigen Jugend des Ostens im baltischen Land: das trennt es von dem neuen Deutschen Reich, daS bildet ein geheimes Band mit dem weiten Rußland.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323538/387>, abgerufen am 07.05.2024.