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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Warum bekämpft uns Rußland?

geschoben, daß sie noch heute vielfach über Gebühr bewertet werden. Aufgabe
der folgenden Kapitel soll es sein, sie möglichst vollständig aufzuzählen und auf
ihre tatsächliche Bedeutung zu prüfen.


Schein- und Hilfsgründe für den deutsch-russischen Krieg

Für jeden, der mit offenen Augen durch das Leben geht, ist es höchst
ergötzlich zu beobachten, wie die Menschheit sich bemüht, dort, wo sie egoistische
Zwecke verfolgt, diese unter schönen Masken zu verbergen. So sehen wir
manche Leute unermüdlich in Wohltätigkeit arbeiten, daß man glauben
könnte, ihr Herz hätte nur für Nächstenliebe Raum; sehen wir aber etwas
schärfer hin, so finden wir oft, daß es ganz andere Triebfedern sind, die ihre
Seele bewegen. Ein Titel, ein Orden, eine soziale Stellung, ja rein geschäftliche
Interessen sind es oft, die soviel Liebe erzeugen. Genau wie im kleinen, ist
es auch im großen: die Staaten annektieren Länder, nur um heiligste Kultur¬
missionen zu erfüllen, ein andermal wieder verteidigen sie schwache Nationen,
nur um den heiligen Begriff des Rechts nicht verletzen zu lassen usw. Solche
Gründe werden dann laut in alle Welt hinausposaunt und schließlich gibt es
wirklich eine große Anzahl von Menschen, die diesen ganzen Mummenschanz
für bare Münze nehmen. In Wahrheit ist es fast immer staatlicher Egoismus,
der bestimmend wirkt. Solchen Grund kann man aber meistens nicht aus¬
sprechen, ohne der Sache zu schaden, weil eben durch ihn in den häufigsten
Fällen der Egoismus anderer Staaten berührt wird. Unverhüllt in die
Erscheinung tretend, würden die wahren Gründe wie ein häßliches Gesicht
wirken. Alle vorgeschützten Scheingründe sind denn auch der Schminke auf
einem runzligen Gesicht vergleichbar: sie sollen rosige Farben dort hervorzaubern,
wo tiefernste Falten die rauhe Wirklichkeit bilden.

Auch Rußland hat zu diesem altbewährten Mittel gegriffen und zwar mit
viel Erfolg, wie zugegeben werden muß. Noch heute, im dreizehnten Kriegs¬
monat wissen die wenigsten, um was es sich eigentlich handelt. Neben dem
wirklichen Grunde, dem Besitze der Meerengen, werden viele andere Gründe
als letzte Ursache des deutsch-russischen Krieges angesehen. Es sind:

a) Der Panslawismus

Die russische Presse gewisser Richtungen betonte seit einer längeren Reihe
von Jahren die Mission Rußlands, das gesamte Slawentum unter seinem
Schutze zu vereinigen. Diese Agitation wurde mit einer Heftigkeit geführt, die
wirklich gewisse Kreise der russischen Gesellschaft entzündete; es bildeten sich
panslawistische Vereine, die in diesem Sinne arbeiteten. Alles Unrecht, welches
den slawischen Brüdern irgendwo zugefügt wurde, ward sorgfältig gebucht und
in zündenden Artikeln den entrüsteten Lesern mitgeteilt; auf die Wahrheit kam
es dabei nicht sonderlich an, auch fragte man nicht, wie sich denn die bereits
mit Nußland vereinigten Slawen in ihren Rechten verhielten, gegenüber den


Warum bekämpft uns Rußland?

geschoben, daß sie noch heute vielfach über Gebühr bewertet werden. Aufgabe
der folgenden Kapitel soll es sein, sie möglichst vollständig aufzuzählen und auf
ihre tatsächliche Bedeutung zu prüfen.


Schein- und Hilfsgründe für den deutsch-russischen Krieg

Für jeden, der mit offenen Augen durch das Leben geht, ist es höchst
ergötzlich zu beobachten, wie die Menschheit sich bemüht, dort, wo sie egoistische
Zwecke verfolgt, diese unter schönen Masken zu verbergen. So sehen wir
manche Leute unermüdlich in Wohltätigkeit arbeiten, daß man glauben
könnte, ihr Herz hätte nur für Nächstenliebe Raum; sehen wir aber etwas
schärfer hin, so finden wir oft, daß es ganz andere Triebfedern sind, die ihre
Seele bewegen. Ein Titel, ein Orden, eine soziale Stellung, ja rein geschäftliche
Interessen sind es oft, die soviel Liebe erzeugen. Genau wie im kleinen, ist
es auch im großen: die Staaten annektieren Länder, nur um heiligste Kultur¬
missionen zu erfüllen, ein andermal wieder verteidigen sie schwache Nationen,
nur um den heiligen Begriff des Rechts nicht verletzen zu lassen usw. Solche
Gründe werden dann laut in alle Welt hinausposaunt und schließlich gibt es
wirklich eine große Anzahl von Menschen, die diesen ganzen Mummenschanz
für bare Münze nehmen. In Wahrheit ist es fast immer staatlicher Egoismus,
der bestimmend wirkt. Solchen Grund kann man aber meistens nicht aus¬
sprechen, ohne der Sache zu schaden, weil eben durch ihn in den häufigsten
Fällen der Egoismus anderer Staaten berührt wird. Unverhüllt in die
Erscheinung tretend, würden die wahren Gründe wie ein häßliches Gesicht
wirken. Alle vorgeschützten Scheingründe sind denn auch der Schminke auf
einem runzligen Gesicht vergleichbar: sie sollen rosige Farben dort hervorzaubern,
wo tiefernste Falten die rauhe Wirklichkeit bilden.

Auch Rußland hat zu diesem altbewährten Mittel gegriffen und zwar mit
viel Erfolg, wie zugegeben werden muß. Noch heute, im dreizehnten Kriegs¬
monat wissen die wenigsten, um was es sich eigentlich handelt. Neben dem
wirklichen Grunde, dem Besitze der Meerengen, werden viele andere Gründe
als letzte Ursache des deutsch-russischen Krieges angesehen. Es sind:

a) Der Panslawismus

Die russische Presse gewisser Richtungen betonte seit einer längeren Reihe
von Jahren die Mission Rußlands, das gesamte Slawentum unter seinem
Schutze zu vereinigen. Diese Agitation wurde mit einer Heftigkeit geführt, die
wirklich gewisse Kreise der russischen Gesellschaft entzündete; es bildeten sich
panslawistische Vereine, die in diesem Sinne arbeiteten. Alles Unrecht, welches
den slawischen Brüdern irgendwo zugefügt wurde, ward sorgfältig gebucht und
in zündenden Artikeln den entrüsteten Lesern mitgeteilt; auf die Wahrheit kam
es dabei nicht sonderlich an, auch fragte man nicht, wie sich denn die bereits
mit Nußland vereinigten Slawen in ihren Rechten verhielten, gegenüber den


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[0273] Warum bekämpft uns Rußland? geschoben, daß sie noch heute vielfach über Gebühr bewertet werden. Aufgabe der folgenden Kapitel soll es sein, sie möglichst vollständig aufzuzählen und auf ihre tatsächliche Bedeutung zu prüfen. Schein- und Hilfsgründe für den deutsch-russischen Krieg Für jeden, der mit offenen Augen durch das Leben geht, ist es höchst ergötzlich zu beobachten, wie die Menschheit sich bemüht, dort, wo sie egoistische Zwecke verfolgt, diese unter schönen Masken zu verbergen. So sehen wir manche Leute unermüdlich in Wohltätigkeit arbeiten, daß man glauben könnte, ihr Herz hätte nur für Nächstenliebe Raum; sehen wir aber etwas schärfer hin, so finden wir oft, daß es ganz andere Triebfedern sind, die ihre Seele bewegen. Ein Titel, ein Orden, eine soziale Stellung, ja rein geschäftliche Interessen sind es oft, die soviel Liebe erzeugen. Genau wie im kleinen, ist es auch im großen: die Staaten annektieren Länder, nur um heiligste Kultur¬ missionen zu erfüllen, ein andermal wieder verteidigen sie schwache Nationen, nur um den heiligen Begriff des Rechts nicht verletzen zu lassen usw. Solche Gründe werden dann laut in alle Welt hinausposaunt und schließlich gibt es wirklich eine große Anzahl von Menschen, die diesen ganzen Mummenschanz für bare Münze nehmen. In Wahrheit ist es fast immer staatlicher Egoismus, der bestimmend wirkt. Solchen Grund kann man aber meistens nicht aus¬ sprechen, ohne der Sache zu schaden, weil eben durch ihn in den häufigsten Fällen der Egoismus anderer Staaten berührt wird. Unverhüllt in die Erscheinung tretend, würden die wahren Gründe wie ein häßliches Gesicht wirken. Alle vorgeschützten Scheingründe sind denn auch der Schminke auf einem runzligen Gesicht vergleichbar: sie sollen rosige Farben dort hervorzaubern, wo tiefernste Falten die rauhe Wirklichkeit bilden. Auch Rußland hat zu diesem altbewährten Mittel gegriffen und zwar mit viel Erfolg, wie zugegeben werden muß. Noch heute, im dreizehnten Kriegs¬ monat wissen die wenigsten, um was es sich eigentlich handelt. Neben dem wirklichen Grunde, dem Besitze der Meerengen, werden viele andere Gründe als letzte Ursache des deutsch-russischen Krieges angesehen. Es sind: a) Der Panslawismus Die russische Presse gewisser Richtungen betonte seit einer längeren Reihe von Jahren die Mission Rußlands, das gesamte Slawentum unter seinem Schutze zu vereinigen. Diese Agitation wurde mit einer Heftigkeit geführt, die wirklich gewisse Kreise der russischen Gesellschaft entzündete; es bildeten sich panslawistische Vereine, die in diesem Sinne arbeiteten. Alles Unrecht, welches den slawischen Brüdern irgendwo zugefügt wurde, ward sorgfältig gebucht und in zündenden Artikeln den entrüsteten Lesern mitgeteilt; auf die Wahrheit kam es dabei nicht sonderlich an, auch fragte man nicht, wie sich denn die bereits mit Nußland vereinigten Slawen in ihren Rechten verhielten, gegenüber den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/273>, abgerufen am 18.05.2024.