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Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr.

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Warum bekämpft uns Rußland?

so grausam tyrannisierten Brüdern unter anderer Herrschaft. Mit gutem
Grund; hätte doch ein Vergleich ergeben, daß die Geknechteten viel mehr Frei¬
heit genossen, wie die bereits mit Rußland Vereinten. So wurde erreicht, daß
der Panslawismus unter den Russen selbst Anhänger gewann, die anderen
Slawen aber, die befreit werden sollten, dachten anders. Die Erfahrungen
der Polen und Kleinrussen genügten, um ihnen jede Lust an einer Vereinigung
mit Rußland zu nehmen. Sie verstanden sehr wohl, daß den maßgebenden
Kreisen Rußlands nur insofern an den übrigen Slawen etwas liegt, als sie sie
zu ihren eigenen Zwecken gebrauchen können und nicht etwa ideale Gesichts¬
punkte bestimmend für ihr Handeln sind. Dieser Tatsache entsprechend sehen
wir denn auch, daß alle slawischen Völker unter russischer Herrschaft den
heftigsten Bedrückungen ausgesetzt sind. Dasselbe Rußland, welches vorgibt,
seine Stammesbrüder befreien zu wollen, versucht ihnen ihre Sprache, ihre
Religion und ihre Kultur zu nehmen, sobald es sie unter seiner Herrschaft hat;
wenn damit fast gar kein Erfolg erzielt wurde, so liegt dies einzig daran, daß
die Russen selbst die unkultiviertesten Slawen in ihrem Reiche sind. Ein Pole,
mit dem Verfasser einmal auf den Panslawismus zu sprechen kam, fragte ihn:
"Denken Sie sich in die Seele eines Vollblüters, worauf glauben Sie kann
das Tier stolz sein -- daß es ein Vollblüter oder daß es ein Pferd ist?"
Als die Antwort lautete "ein Vollblüter" sagte er sehr bezeichnend: "Sehen
Sie, ebenso bin ich stolz darauf, ein Pole zu sein und lege keinen Wert aus
mein Slawentum, welches ich mit recht zweifelhaften Genossen teile." Dieser
Ausspruch ist recht charakteristisch und kennzeichnet das Denken sehr vieler
Slawen, besonders im Hinblick auf die Russen. Unter den Kleinrussen besteht
eine sehr intensive Bewegung gegen Rußland, die Bulgaren wissen ganz genau,
daß, wenn sie den heißen Bemühungen Rußlands nachgeben würden, sie sich
in derselben Lage wiederfinden würden, wie etwa eine heißumworbene Braut,
die eine unglückliche Gattin geworden ist und unter den Brutalitäten ihres
Mannes seufzt. Serbien und Montenegro sind noch weit von Nußland; sie
benutzen es vorläufig recht geschickt für ihre Zwecke, denken aber gar nicht an
eine Vereinigung. Dasselbe dürste für die Tschechen zutreffend sein. Wo ist
also der ganze Panslawismus? Bei den Nüssen? Das gleicht einem Manne,
der für sich allem einen Verein gründet. Selbst in Nußland ist die Zahl
panslawistischer Schwärmer gering, die maßgebenden Kreise sehen in dem
Panslawismus lediglich ein Mittel zum Zweck; er eignet sich vorzüglich, um
unter seiner Maske dauernd auf dem Balkan zu intrigieren und damit dem
eigentlichen Zwecke vorzuarbeiten. Diesen aber -- Besitz der Meerengen --
kann man nicht klar aussprechen, ohne seine sämtlichen Freunde vor den Kopf
zu stoßen; als Sasonow sich schließlich dazu entschloß, trat denn auch prompt
die nachteilige Wirkung ein -- die Maske war zu früh gefallen.

Ein Grund zu einem Kriege mit Deutschland ist der Panslawismus nicht
gewesen; um Serbiens willen hätte Rußland uns ebensowenig bekriegt, wie


Warum bekämpft uns Rußland?

so grausam tyrannisierten Brüdern unter anderer Herrschaft. Mit gutem
Grund; hätte doch ein Vergleich ergeben, daß die Geknechteten viel mehr Frei¬
heit genossen, wie die bereits mit Rußland Vereinten. So wurde erreicht, daß
der Panslawismus unter den Russen selbst Anhänger gewann, die anderen
Slawen aber, die befreit werden sollten, dachten anders. Die Erfahrungen
der Polen und Kleinrussen genügten, um ihnen jede Lust an einer Vereinigung
mit Rußland zu nehmen. Sie verstanden sehr wohl, daß den maßgebenden
Kreisen Rußlands nur insofern an den übrigen Slawen etwas liegt, als sie sie
zu ihren eigenen Zwecken gebrauchen können und nicht etwa ideale Gesichts¬
punkte bestimmend für ihr Handeln sind. Dieser Tatsache entsprechend sehen
wir denn auch, daß alle slawischen Völker unter russischer Herrschaft den
heftigsten Bedrückungen ausgesetzt sind. Dasselbe Rußland, welches vorgibt,
seine Stammesbrüder befreien zu wollen, versucht ihnen ihre Sprache, ihre
Religion und ihre Kultur zu nehmen, sobald es sie unter seiner Herrschaft hat;
wenn damit fast gar kein Erfolg erzielt wurde, so liegt dies einzig daran, daß
die Russen selbst die unkultiviertesten Slawen in ihrem Reiche sind. Ein Pole,
mit dem Verfasser einmal auf den Panslawismus zu sprechen kam, fragte ihn:
„Denken Sie sich in die Seele eines Vollblüters, worauf glauben Sie kann
das Tier stolz sein — daß es ein Vollblüter oder daß es ein Pferd ist?"
Als die Antwort lautete „ein Vollblüter" sagte er sehr bezeichnend: „Sehen
Sie, ebenso bin ich stolz darauf, ein Pole zu sein und lege keinen Wert aus
mein Slawentum, welches ich mit recht zweifelhaften Genossen teile." Dieser
Ausspruch ist recht charakteristisch und kennzeichnet das Denken sehr vieler
Slawen, besonders im Hinblick auf die Russen. Unter den Kleinrussen besteht
eine sehr intensive Bewegung gegen Rußland, die Bulgaren wissen ganz genau,
daß, wenn sie den heißen Bemühungen Rußlands nachgeben würden, sie sich
in derselben Lage wiederfinden würden, wie etwa eine heißumworbene Braut,
die eine unglückliche Gattin geworden ist und unter den Brutalitäten ihres
Mannes seufzt. Serbien und Montenegro sind noch weit von Nußland; sie
benutzen es vorläufig recht geschickt für ihre Zwecke, denken aber gar nicht an
eine Vereinigung. Dasselbe dürste für die Tschechen zutreffend sein. Wo ist
also der ganze Panslawismus? Bei den Nüssen? Das gleicht einem Manne,
der für sich allem einen Verein gründet. Selbst in Nußland ist die Zahl
panslawistischer Schwärmer gering, die maßgebenden Kreise sehen in dem
Panslawismus lediglich ein Mittel zum Zweck; er eignet sich vorzüglich, um
unter seiner Maske dauernd auf dem Balkan zu intrigieren und damit dem
eigentlichen Zwecke vorzuarbeiten. Diesen aber — Besitz der Meerengen —
kann man nicht klar aussprechen, ohne seine sämtlichen Freunde vor den Kopf
zu stoßen; als Sasonow sich schließlich dazu entschloß, trat denn auch prompt
die nachteilige Wirkung ein — die Maske war zu früh gefallen.

Ein Grund zu einem Kriege mit Deutschland ist der Panslawismus nicht
gewesen; um Serbiens willen hätte Rußland uns ebensowenig bekriegt, wie


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[0274] Warum bekämpft uns Rußland? so grausam tyrannisierten Brüdern unter anderer Herrschaft. Mit gutem Grund; hätte doch ein Vergleich ergeben, daß die Geknechteten viel mehr Frei¬ heit genossen, wie die bereits mit Rußland Vereinten. So wurde erreicht, daß der Panslawismus unter den Russen selbst Anhänger gewann, die anderen Slawen aber, die befreit werden sollten, dachten anders. Die Erfahrungen der Polen und Kleinrussen genügten, um ihnen jede Lust an einer Vereinigung mit Rußland zu nehmen. Sie verstanden sehr wohl, daß den maßgebenden Kreisen Rußlands nur insofern an den übrigen Slawen etwas liegt, als sie sie zu ihren eigenen Zwecken gebrauchen können und nicht etwa ideale Gesichts¬ punkte bestimmend für ihr Handeln sind. Dieser Tatsache entsprechend sehen wir denn auch, daß alle slawischen Völker unter russischer Herrschaft den heftigsten Bedrückungen ausgesetzt sind. Dasselbe Rußland, welches vorgibt, seine Stammesbrüder befreien zu wollen, versucht ihnen ihre Sprache, ihre Religion und ihre Kultur zu nehmen, sobald es sie unter seiner Herrschaft hat; wenn damit fast gar kein Erfolg erzielt wurde, so liegt dies einzig daran, daß die Russen selbst die unkultiviertesten Slawen in ihrem Reiche sind. Ein Pole, mit dem Verfasser einmal auf den Panslawismus zu sprechen kam, fragte ihn: „Denken Sie sich in die Seele eines Vollblüters, worauf glauben Sie kann das Tier stolz sein — daß es ein Vollblüter oder daß es ein Pferd ist?" Als die Antwort lautete „ein Vollblüter" sagte er sehr bezeichnend: „Sehen Sie, ebenso bin ich stolz darauf, ein Pole zu sein und lege keinen Wert aus mein Slawentum, welches ich mit recht zweifelhaften Genossen teile." Dieser Ausspruch ist recht charakteristisch und kennzeichnet das Denken sehr vieler Slawen, besonders im Hinblick auf die Russen. Unter den Kleinrussen besteht eine sehr intensive Bewegung gegen Rußland, die Bulgaren wissen ganz genau, daß, wenn sie den heißen Bemühungen Rußlands nachgeben würden, sie sich in derselben Lage wiederfinden würden, wie etwa eine heißumworbene Braut, die eine unglückliche Gattin geworden ist und unter den Brutalitäten ihres Mannes seufzt. Serbien und Montenegro sind noch weit von Nußland; sie benutzen es vorläufig recht geschickt für ihre Zwecke, denken aber gar nicht an eine Vereinigung. Dasselbe dürste für die Tschechen zutreffend sein. Wo ist also der ganze Panslawismus? Bei den Nüssen? Das gleicht einem Manne, der für sich allem einen Verein gründet. Selbst in Nußland ist die Zahl panslawistischer Schwärmer gering, die maßgebenden Kreise sehen in dem Panslawismus lediglich ein Mittel zum Zweck; er eignet sich vorzüglich, um unter seiner Maske dauernd auf dem Balkan zu intrigieren und damit dem eigentlichen Zwecke vorzuarbeiten. Diesen aber — Besitz der Meerengen — kann man nicht klar aussprechen, ohne seine sämtlichen Freunde vor den Kopf zu stoßen; als Sasonow sich schließlich dazu entschloß, trat denn auch prompt die nachteilige Wirkung ein — die Maske war zu früh gefallen. Ein Grund zu einem Kriege mit Deutschland ist der Panslawismus nicht gewesen; um Serbiens willen hätte Rußland uns ebensowenig bekriegt, wie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 74, 1915, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341901_323972/274>, abgerufen am 09.06.2024.