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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Wohin geht Rußland?

russischen Schriftsteller über das widergibt, was sie über die Zukunft ihres
Volkes denken.

Uns scheint es, als ob nicht Mereschkowski, sondern Gorki uns das wahre
Gesicht des kommenden Rußlands zeigt, des demokratischen, nach Westen ge¬
wendeten Rußlands, das dereinst "mit furchtbarer Faust" den Sauerteig sammelt,
der den europäischen Brei in Bewegung bringt.

Ich möchte glauben, daß dieses junge und jugendfrische russische Volk
Möglichkeiten der Entwicklung in körperlicher und geistiger Beziehung in sich
birgt, die wir heute nur dunkel ahnen, die wir aber um unseres eigenen Heiles
willen begreifen müssen.

Doch lassen wir Mereschkowski selber sprechen. Sein Thema heißt "Das
unheilige Rußland (Die Religion GorkiS)".

I.

Wohin geht Rußland? Die großen russischen Schriftsteller antworten auf
diese Frage; gleichsam wie ewige Wegweiser zeigen sie den Weg Rußlands.

Der letzte Wegweiser ist Tolstoj. Nach ihm kommt niemand, als ob die
Wege Rußland beendet seien. Nach Tolstoj kommt niemand oder Gorki.

Im Vergleich mit jenen Großen ist Gorki klein. Klein ist alles, was ge-
boren wird; groß ist alles, was erwachsen ist und seine Grenze und sein Ende er¬
reicht hat. Groß erscheint das Vergangene, klein -- das Zukünftige. Deshalb
sind auch Gorki und jene Großen. -- wie ein Kind zu Erwachsenen, wie ein
aus der Erde kaum ausgegangener Sprößling zu dichtbelaubten alten Eichen.
Diese gehen ihrem Ende entgegen, jener beginnt den Lauf. Diese sind Gegen¬
wart und Vergangenheit, jener Zukunft. Woher Rußland kommt --, das
kann man nach den Großen beurteilen --, wohin es geht --, das kann nach
Gorki beurteilt werden.

Das Bewußtsein, das zum Volkselement führt, ist in jenen Großen ver¬
körpert. Umgekehrt, das Volkselement, das zum Bewußtsein führt, ist in
Gorki verkörpert.

Das Bewußtsein beherrscht das Element. Ein Volk, das zum Bewußtsein
kommt, ist ein Volk, das zur Macht kommt. Erwachendes Bewußtsein des
Volkes ist entstehende Macht des Volkes, "Volksherrschaft". "Demokratie".
Gorki ist der erste und zur Zeit einzige Vertreter der im Entstehen begriffenen
russischen Demokratie.

Die Persönlichkeiten jener Großen sind genial, unnachahmbar; ahnliche
Persönlichkeiten hat es niemals gegeben, und wird es auch nie mehr geben.
Bei Gorki besteht gleichsam keine Persönlichkeit: seine Persönlichkeit ist eine
allgemeine, kollektive, volkstümliche. Aber die Wahrheit einzelner, die Wahrheit
der Persönlichkeiten (der Aristokratie im höheren Sinne) ist abgeschlossen, er¬
reicht; die Wahrheit aller, die Wahrheit der Mehrheit (der "Demokratie"


Wohin geht Rußland?

russischen Schriftsteller über das widergibt, was sie über die Zukunft ihres
Volkes denken.

Uns scheint es, als ob nicht Mereschkowski, sondern Gorki uns das wahre
Gesicht des kommenden Rußlands zeigt, des demokratischen, nach Westen ge¬
wendeten Rußlands, das dereinst „mit furchtbarer Faust" den Sauerteig sammelt,
der den europäischen Brei in Bewegung bringt.

Ich möchte glauben, daß dieses junge und jugendfrische russische Volk
Möglichkeiten der Entwicklung in körperlicher und geistiger Beziehung in sich
birgt, die wir heute nur dunkel ahnen, die wir aber um unseres eigenen Heiles
willen begreifen müssen.

Doch lassen wir Mereschkowski selber sprechen. Sein Thema heißt „Das
unheilige Rußland (Die Religion GorkiS)".

I.

Wohin geht Rußland? Die großen russischen Schriftsteller antworten auf
diese Frage; gleichsam wie ewige Wegweiser zeigen sie den Weg Rußlands.

Der letzte Wegweiser ist Tolstoj. Nach ihm kommt niemand, als ob die
Wege Rußland beendet seien. Nach Tolstoj kommt niemand oder Gorki.

Im Vergleich mit jenen Großen ist Gorki klein. Klein ist alles, was ge-
boren wird; groß ist alles, was erwachsen ist und seine Grenze und sein Ende er¬
reicht hat. Groß erscheint das Vergangene, klein — das Zukünftige. Deshalb
sind auch Gorki und jene Großen. — wie ein Kind zu Erwachsenen, wie ein
aus der Erde kaum ausgegangener Sprößling zu dichtbelaubten alten Eichen.
Diese gehen ihrem Ende entgegen, jener beginnt den Lauf. Diese sind Gegen¬
wart und Vergangenheit, jener Zukunft. Woher Rußland kommt —, das
kann man nach den Großen beurteilen —, wohin es geht —, das kann nach
Gorki beurteilt werden.

Das Bewußtsein, das zum Volkselement führt, ist in jenen Großen ver¬
körpert. Umgekehrt, das Volkselement, das zum Bewußtsein führt, ist in
Gorki verkörpert.

Das Bewußtsein beherrscht das Element. Ein Volk, das zum Bewußtsein
kommt, ist ein Volk, das zur Macht kommt. Erwachendes Bewußtsein des
Volkes ist entstehende Macht des Volkes, „Volksherrschaft". „Demokratie".
Gorki ist der erste und zur Zeit einzige Vertreter der im Entstehen begriffenen
russischen Demokratie.

Die Persönlichkeiten jener Großen sind genial, unnachahmbar; ahnliche
Persönlichkeiten hat es niemals gegeben, und wird es auch nie mehr geben.
Bei Gorki besteht gleichsam keine Persönlichkeit: seine Persönlichkeit ist eine
allgemeine, kollektive, volkstümliche. Aber die Wahrheit einzelner, die Wahrheit
der Persönlichkeiten (der Aristokratie im höheren Sinne) ist abgeschlossen, er¬
reicht; die Wahrheit aller, die Wahrheit der Mehrheit (der „Demokratie"


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[0121] Wohin geht Rußland? russischen Schriftsteller über das widergibt, was sie über die Zukunft ihres Volkes denken. Uns scheint es, als ob nicht Mereschkowski, sondern Gorki uns das wahre Gesicht des kommenden Rußlands zeigt, des demokratischen, nach Westen ge¬ wendeten Rußlands, das dereinst „mit furchtbarer Faust" den Sauerteig sammelt, der den europäischen Brei in Bewegung bringt. Ich möchte glauben, daß dieses junge und jugendfrische russische Volk Möglichkeiten der Entwicklung in körperlicher und geistiger Beziehung in sich birgt, die wir heute nur dunkel ahnen, die wir aber um unseres eigenen Heiles willen begreifen müssen. Doch lassen wir Mereschkowski selber sprechen. Sein Thema heißt „Das unheilige Rußland (Die Religion GorkiS)". I. Wohin geht Rußland? Die großen russischen Schriftsteller antworten auf diese Frage; gleichsam wie ewige Wegweiser zeigen sie den Weg Rußlands. Der letzte Wegweiser ist Tolstoj. Nach ihm kommt niemand, als ob die Wege Rußland beendet seien. Nach Tolstoj kommt niemand oder Gorki. Im Vergleich mit jenen Großen ist Gorki klein. Klein ist alles, was ge- boren wird; groß ist alles, was erwachsen ist und seine Grenze und sein Ende er¬ reicht hat. Groß erscheint das Vergangene, klein — das Zukünftige. Deshalb sind auch Gorki und jene Großen. — wie ein Kind zu Erwachsenen, wie ein aus der Erde kaum ausgegangener Sprößling zu dichtbelaubten alten Eichen. Diese gehen ihrem Ende entgegen, jener beginnt den Lauf. Diese sind Gegen¬ wart und Vergangenheit, jener Zukunft. Woher Rußland kommt —, das kann man nach den Großen beurteilen —, wohin es geht —, das kann nach Gorki beurteilt werden. Das Bewußtsein, das zum Volkselement führt, ist in jenen Großen ver¬ körpert. Umgekehrt, das Volkselement, das zum Bewußtsein führt, ist in Gorki verkörpert. Das Bewußtsein beherrscht das Element. Ein Volk, das zum Bewußtsein kommt, ist ein Volk, das zur Macht kommt. Erwachendes Bewußtsein des Volkes ist entstehende Macht des Volkes, „Volksherrschaft". „Demokratie". Gorki ist der erste und zur Zeit einzige Vertreter der im Entstehen begriffenen russischen Demokratie. Die Persönlichkeiten jener Großen sind genial, unnachahmbar; ahnliche Persönlichkeiten hat es niemals gegeben, und wird es auch nie mehr geben. Bei Gorki besteht gleichsam keine Persönlichkeit: seine Persönlichkeit ist eine allgemeine, kollektive, volkstümliche. Aber die Wahrheit einzelner, die Wahrheit der Persönlichkeiten (der Aristokratie im höheren Sinne) ist abgeschlossen, er¬ reicht; die Wahrheit aller, die Wahrheit der Mehrheit (der „Demokratie"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/121>, abgerufen am 27.04.2024.