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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Wohin geht Rußland?

gänge erwähnt, diese kreuzen, decken und widersprechen sich mit den oben
skizzierten Idealen. Je nachdem die panslawistische Idee sich der Fahne des
Nationalismus verschreibt, mehr die messianische Richtung der alten Slawo-
philen und Dostojewskis auf ihr Banner schreibt, oder sich den rein russischen
Ideen des Duldens und Leidens verschreibt, je nachdem kann sie zu ganz ver¬
schiedenen Endpunkten des Denkens gelangen.

So unnatürlich das zu sein scheint, so natürlich ist es für den, der das
russische Denken in der Literatur und in der Wirklichkeit des Lebens verfolgt. Die
beiden Richtungen entsprechen eben durchaus den beiden Grundzügen des Russen-
tums, den beiden Wellen, die wir in ihm vorfinden, dem unbewußten. leidenden,
guten, opferbereiten und auf der anderen Seite dem bewußten, fanatischen,
selbstherrlichen, nihilistischen, doktrinär-demokratischen Rußland, dessen Ideen
am reinsten in der Losung des aggressiven Panslawismus zum Ausdruck kommen,
der die Welt bedroht.

Welche der beiden Ideen wird für die Zukunft in Rußland herrschen?
Es ist eine Schicksalsfrage für Europa, das zu wissen. Vor mir liegt das
Referat eines Vortrages, den Mereschkowski im März vorigen Jahres über das
"Vermächtnis Bjelinskis, über die Religiosität und die soziale Aufgabe der
russischen Intelligenz" gehalten hat. Damals hat Mereschkowski versucht, im
Gegensatz zum Nationalismus die Ideen Bjelinskis als Ideal für das zukünftige
Russentum zu entwickeln. "Der uns jetzt drohende Rationalismus .tierischer
Art', die Bejahung des Völkischen, dieses ungöttliche und unmenschliche, ist nach
Mereschkowski zum großen Teile die Schuld von Dostojewski." Die Lüge
Dostojewskis kann nur durch die Wahrheit Bjelinskis überwunden werden
"Verflucht soll alles Volkstum sein, das die Menschlichkeit aus sich ausschließt! --
diese Wahrheit Bjelinskis ist uns jetzt nötiger als je."

Bjelinski erachtet Mereschkowski als den ersten russischen Intelligenten, als
den Vater der ganzen gegenwärtigen russischen Intelligenz. Noch heute lebt die
russische Intelligenz nach Meinung Mereschkowskis in denselben tragischen Kämpfen,
derselben fiebernden Zerrissenheit, die das Leben Bjelinskis durchglühte und zu
Asche verbrannte. "Derselbe geheime Durst nach Religion, dieselbe Sehnsucht
nach Gott bei äußerer Verleugnung Gottes und äußerer Abkehr von Christus.
Derselbe Kampf für die soziale Idee, für die Freiheit des Menschen mit der
Empfindung der Kälte jener Freiheit ohne die brennende und sonnenhelle Figur
des Heilandes." Der Vortrag hat damals keinen Anklang gefunden. Das
russische Publikum lehnte ihn ab.

Mereschkowski ist einer von den russischen Geistern der Jetztzeit, die gewiß
am meisten über die Bestimmung des Russentums nachgedacht haben. Mit
allen Kräften seiner Seele bemüht auch er sich um eine Synthese des russischen
Lebens, wie es vor ihm die großen russischen Geistesheroen getan haben.

Wir wollen ihn heute selbst sprechen lassen. Sein Aufsatz über Gorki hat
doppeltes Interesse für uns, weil er die letzten Ideen der beiden bedeutendsten


Wohin geht Rußland?

gänge erwähnt, diese kreuzen, decken und widersprechen sich mit den oben
skizzierten Idealen. Je nachdem die panslawistische Idee sich der Fahne des
Nationalismus verschreibt, mehr die messianische Richtung der alten Slawo-
philen und Dostojewskis auf ihr Banner schreibt, oder sich den rein russischen
Ideen des Duldens und Leidens verschreibt, je nachdem kann sie zu ganz ver¬
schiedenen Endpunkten des Denkens gelangen.

So unnatürlich das zu sein scheint, so natürlich ist es für den, der das
russische Denken in der Literatur und in der Wirklichkeit des Lebens verfolgt. Die
beiden Richtungen entsprechen eben durchaus den beiden Grundzügen des Russen-
tums, den beiden Wellen, die wir in ihm vorfinden, dem unbewußten. leidenden,
guten, opferbereiten und auf der anderen Seite dem bewußten, fanatischen,
selbstherrlichen, nihilistischen, doktrinär-demokratischen Rußland, dessen Ideen
am reinsten in der Losung des aggressiven Panslawismus zum Ausdruck kommen,
der die Welt bedroht.

Welche der beiden Ideen wird für die Zukunft in Rußland herrschen?
Es ist eine Schicksalsfrage für Europa, das zu wissen. Vor mir liegt das
Referat eines Vortrages, den Mereschkowski im März vorigen Jahres über das
„Vermächtnis Bjelinskis, über die Religiosität und die soziale Aufgabe der
russischen Intelligenz" gehalten hat. Damals hat Mereschkowski versucht, im
Gegensatz zum Nationalismus die Ideen Bjelinskis als Ideal für das zukünftige
Russentum zu entwickeln. „Der uns jetzt drohende Rationalismus .tierischer
Art', die Bejahung des Völkischen, dieses ungöttliche und unmenschliche, ist nach
Mereschkowski zum großen Teile die Schuld von Dostojewski." Die Lüge
Dostojewskis kann nur durch die Wahrheit Bjelinskis überwunden werden
„Verflucht soll alles Volkstum sein, das die Menschlichkeit aus sich ausschließt! —
diese Wahrheit Bjelinskis ist uns jetzt nötiger als je."

Bjelinski erachtet Mereschkowski als den ersten russischen Intelligenten, als
den Vater der ganzen gegenwärtigen russischen Intelligenz. Noch heute lebt die
russische Intelligenz nach Meinung Mereschkowskis in denselben tragischen Kämpfen,
derselben fiebernden Zerrissenheit, die das Leben Bjelinskis durchglühte und zu
Asche verbrannte. „Derselbe geheime Durst nach Religion, dieselbe Sehnsucht
nach Gott bei äußerer Verleugnung Gottes und äußerer Abkehr von Christus.
Derselbe Kampf für die soziale Idee, für die Freiheit des Menschen mit der
Empfindung der Kälte jener Freiheit ohne die brennende und sonnenhelle Figur
des Heilandes." Der Vortrag hat damals keinen Anklang gefunden. Das
russische Publikum lehnte ihn ab.

Mereschkowski ist einer von den russischen Geistern der Jetztzeit, die gewiß
am meisten über die Bestimmung des Russentums nachgedacht haben. Mit
allen Kräften seiner Seele bemüht auch er sich um eine Synthese des russischen
Lebens, wie es vor ihm die großen russischen Geistesheroen getan haben.

Wir wollen ihn heute selbst sprechen lassen. Sein Aufsatz über Gorki hat
doppeltes Interesse für uns, weil er die letzten Ideen der beiden bedeutendsten


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[0120] Wohin geht Rußland? gänge erwähnt, diese kreuzen, decken und widersprechen sich mit den oben skizzierten Idealen. Je nachdem die panslawistische Idee sich der Fahne des Nationalismus verschreibt, mehr die messianische Richtung der alten Slawo- philen und Dostojewskis auf ihr Banner schreibt, oder sich den rein russischen Ideen des Duldens und Leidens verschreibt, je nachdem kann sie zu ganz ver¬ schiedenen Endpunkten des Denkens gelangen. So unnatürlich das zu sein scheint, so natürlich ist es für den, der das russische Denken in der Literatur und in der Wirklichkeit des Lebens verfolgt. Die beiden Richtungen entsprechen eben durchaus den beiden Grundzügen des Russen- tums, den beiden Wellen, die wir in ihm vorfinden, dem unbewußten. leidenden, guten, opferbereiten und auf der anderen Seite dem bewußten, fanatischen, selbstherrlichen, nihilistischen, doktrinär-demokratischen Rußland, dessen Ideen am reinsten in der Losung des aggressiven Panslawismus zum Ausdruck kommen, der die Welt bedroht. Welche der beiden Ideen wird für die Zukunft in Rußland herrschen? Es ist eine Schicksalsfrage für Europa, das zu wissen. Vor mir liegt das Referat eines Vortrages, den Mereschkowski im März vorigen Jahres über das „Vermächtnis Bjelinskis, über die Religiosität und die soziale Aufgabe der russischen Intelligenz" gehalten hat. Damals hat Mereschkowski versucht, im Gegensatz zum Nationalismus die Ideen Bjelinskis als Ideal für das zukünftige Russentum zu entwickeln. „Der uns jetzt drohende Rationalismus .tierischer Art', die Bejahung des Völkischen, dieses ungöttliche und unmenschliche, ist nach Mereschkowski zum großen Teile die Schuld von Dostojewski." Die Lüge Dostojewskis kann nur durch die Wahrheit Bjelinskis überwunden werden „Verflucht soll alles Volkstum sein, das die Menschlichkeit aus sich ausschließt! — diese Wahrheit Bjelinskis ist uns jetzt nötiger als je." Bjelinski erachtet Mereschkowski als den ersten russischen Intelligenten, als den Vater der ganzen gegenwärtigen russischen Intelligenz. Noch heute lebt die russische Intelligenz nach Meinung Mereschkowskis in denselben tragischen Kämpfen, derselben fiebernden Zerrissenheit, die das Leben Bjelinskis durchglühte und zu Asche verbrannte. „Derselbe geheime Durst nach Religion, dieselbe Sehnsucht nach Gott bei äußerer Verleugnung Gottes und äußerer Abkehr von Christus. Derselbe Kampf für die soziale Idee, für die Freiheit des Menschen mit der Empfindung der Kälte jener Freiheit ohne die brennende und sonnenhelle Figur des Heilandes." Der Vortrag hat damals keinen Anklang gefunden. Das russische Publikum lehnte ihn ab. Mereschkowski ist einer von den russischen Geistern der Jetztzeit, die gewiß am meisten über die Bestimmung des Russentums nachgedacht haben. Mit allen Kräften seiner Seele bemüht auch er sich um eine Synthese des russischen Lebens, wie es vor ihm die großen russischen Geistesheroen getan haben. Wir wollen ihn heute selbst sprechen lassen. Sein Aufsatz über Gorki hat doppeltes Interesse für uns, weil er die letzten Ideen der beiden bedeutendsten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/120>, abgerufen am 12.05.2024.