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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Wiener Brief
Zur Ermordung Stürgkhs

as politische Verbrechen eines Neurasthemkers hat die sehr kenn¬
zeichnende jüngste Entwicklung der inneren Zustände in Osterreich,
die auf eine Kraftprobe der verschiedenen Parteien und Natio¬
nalitäten, der verfassungsmäßigen Triebkräfte im Staate gegen¬
über dem Grafen Stürgkh hinauslief, vorzeitig und ohne Ent¬
scheidung abgebrochen. Die Ermordung dieses die politischen Leidenschaften so
wenig erregenden Staatsmannes ist höchstens als Ausdruck der allgemeinen
Ungeduld, die einen kranken Menschen bis zum Herostmtenwahnsinn reizte, von
tieferer Bedeutung: im übrigen ist sie zufällig und über die reinmenschliche
Teilnahme hinaus, die sie erregt, bedeutungslos. Dieser Abschluß paßte so
gar nicht zu der zögernden und trägen Entwicklung, die ihn unmittelbar ver¬
anlaßt hat. Der bis zur Tat erfolgreiche Widerstand Stürgkhs gegen die
Einberufung des Reichsrates war weniger seiner persönlichen Kraft zum"
schreiben, als der Schwäche, Zersplitterung, Halbheit aller gegen ihn und gegen
den bestehenden Zustand gerichteten Bestrebungen. Gerade darum aber, wegen
des widerspruchsvollen Verhaltens der Parteien, der Nationalitäten, der Re¬
gierungen in den beiden Reichshälften ist diese ganze Bewegung für die Ein¬
berufung des Reichsrates so kennzeichnend und näherer Beobachtung wert.

Der Reichsrat ist im Frühjahr 1914 infolge der Obstruktion der Tschechen,
die sich ihrerseits auf die Arbeitsunfähigkeit des böhmischen Landtages beriefen,
nach Hause geschickt worden und hat seitdem als einziges Parlament aller Krieg
führenden Staaten nicht mehr getagt. Im Sommer dieses Jahres haben sich
einige Mitglieder der Hocharistokratis uuter Führung des Grafen Sylva Tarouca
und der Wiederaufrichtung des Verfaffnngslebens beschäftigt, aber ohne ge¬
nügenden Nachdruck. Durch die Debatten des ungarischen Abgeordnetenhauses
war die Frage neu in Fluß gekommen. Die Opposition hatte bekanntlich
parlamentarische Überwachung der äußeren Politik und eine Rechtfertigung
Burians gefordert. Verfassungsmäßig ist diese nur möglich vor den Dele¬
gationen. Die Einberufung dieser beiden Reichshälften gemeinsamen Körperschaft
hätte nach dem genauen Buchstaben der Verfassung den österreichischen Reichsrat
vorausgesetzt. Die ganze Bewegung richtete sich von vornherein nicht nur gegen
Burian und Tisza, sondern ebenso sehr gegen Stürgkh, gegen den die heftigsten
Anklagen wegen seiner Beziehungen zu dem verurteilten Tschechenführer




Wiener Brief
Zur Ermordung Stürgkhs

as politische Verbrechen eines Neurasthemkers hat die sehr kenn¬
zeichnende jüngste Entwicklung der inneren Zustände in Osterreich,
die auf eine Kraftprobe der verschiedenen Parteien und Natio¬
nalitäten, der verfassungsmäßigen Triebkräfte im Staate gegen¬
über dem Grafen Stürgkh hinauslief, vorzeitig und ohne Ent¬
scheidung abgebrochen. Die Ermordung dieses die politischen Leidenschaften so
wenig erregenden Staatsmannes ist höchstens als Ausdruck der allgemeinen
Ungeduld, die einen kranken Menschen bis zum Herostmtenwahnsinn reizte, von
tieferer Bedeutung: im übrigen ist sie zufällig und über die reinmenschliche
Teilnahme hinaus, die sie erregt, bedeutungslos. Dieser Abschluß paßte so
gar nicht zu der zögernden und trägen Entwicklung, die ihn unmittelbar ver¬
anlaßt hat. Der bis zur Tat erfolgreiche Widerstand Stürgkhs gegen die
Einberufung des Reichsrates war weniger seiner persönlichen Kraft zum»
schreiben, als der Schwäche, Zersplitterung, Halbheit aller gegen ihn und gegen
den bestehenden Zustand gerichteten Bestrebungen. Gerade darum aber, wegen
des widerspruchsvollen Verhaltens der Parteien, der Nationalitäten, der Re¬
gierungen in den beiden Reichshälften ist diese ganze Bewegung für die Ein¬
berufung des Reichsrates so kennzeichnend und näherer Beobachtung wert.

Der Reichsrat ist im Frühjahr 1914 infolge der Obstruktion der Tschechen,
die sich ihrerseits auf die Arbeitsunfähigkeit des böhmischen Landtages beriefen,
nach Hause geschickt worden und hat seitdem als einziges Parlament aller Krieg
führenden Staaten nicht mehr getagt. Im Sommer dieses Jahres haben sich
einige Mitglieder der Hocharistokratis uuter Führung des Grafen Sylva Tarouca
und der Wiederaufrichtung des Verfaffnngslebens beschäftigt, aber ohne ge¬
nügenden Nachdruck. Durch die Debatten des ungarischen Abgeordnetenhauses
war die Frage neu in Fluß gekommen. Die Opposition hatte bekanntlich
parlamentarische Überwachung der äußeren Politik und eine Rechtfertigung
Burians gefordert. Verfassungsmäßig ist diese nur möglich vor den Dele¬
gationen. Die Einberufung dieser beiden Reichshälften gemeinsamen Körperschaft
hätte nach dem genauen Buchstaben der Verfassung den österreichischen Reichsrat
vorausgesetzt. Die ganze Bewegung richtete sich von vornherein nicht nur gegen
Burian und Tisza, sondern ebenso sehr gegen Stürgkh, gegen den die heftigsten
Anklagen wegen seiner Beziehungen zu dem verurteilten Tschechenführer


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[0164] [Abbildung] Wiener Brief Zur Ermordung Stürgkhs as politische Verbrechen eines Neurasthemkers hat die sehr kenn¬ zeichnende jüngste Entwicklung der inneren Zustände in Osterreich, die auf eine Kraftprobe der verschiedenen Parteien und Natio¬ nalitäten, der verfassungsmäßigen Triebkräfte im Staate gegen¬ über dem Grafen Stürgkh hinauslief, vorzeitig und ohne Ent¬ scheidung abgebrochen. Die Ermordung dieses die politischen Leidenschaften so wenig erregenden Staatsmannes ist höchstens als Ausdruck der allgemeinen Ungeduld, die einen kranken Menschen bis zum Herostmtenwahnsinn reizte, von tieferer Bedeutung: im übrigen ist sie zufällig und über die reinmenschliche Teilnahme hinaus, die sie erregt, bedeutungslos. Dieser Abschluß paßte so gar nicht zu der zögernden und trägen Entwicklung, die ihn unmittelbar ver¬ anlaßt hat. Der bis zur Tat erfolgreiche Widerstand Stürgkhs gegen die Einberufung des Reichsrates war weniger seiner persönlichen Kraft zum» schreiben, als der Schwäche, Zersplitterung, Halbheit aller gegen ihn und gegen den bestehenden Zustand gerichteten Bestrebungen. Gerade darum aber, wegen des widerspruchsvollen Verhaltens der Parteien, der Nationalitäten, der Re¬ gierungen in den beiden Reichshälften ist diese ganze Bewegung für die Ein¬ berufung des Reichsrates so kennzeichnend und näherer Beobachtung wert. Der Reichsrat ist im Frühjahr 1914 infolge der Obstruktion der Tschechen, die sich ihrerseits auf die Arbeitsunfähigkeit des böhmischen Landtages beriefen, nach Hause geschickt worden und hat seitdem als einziges Parlament aller Krieg führenden Staaten nicht mehr getagt. Im Sommer dieses Jahres haben sich einige Mitglieder der Hocharistokratis uuter Führung des Grafen Sylva Tarouca und der Wiederaufrichtung des Verfaffnngslebens beschäftigt, aber ohne ge¬ nügenden Nachdruck. Durch die Debatten des ungarischen Abgeordnetenhauses war die Frage neu in Fluß gekommen. Die Opposition hatte bekanntlich parlamentarische Überwachung der äußeren Politik und eine Rechtfertigung Burians gefordert. Verfassungsmäßig ist diese nur möglich vor den Dele¬ gationen. Die Einberufung dieser beiden Reichshälften gemeinsamen Körperschaft hätte nach dem genauen Buchstaben der Verfassung den österreichischen Reichsrat vorausgesetzt. Die ganze Bewegung richtete sich von vornherein nicht nur gegen Burian und Tisza, sondern ebenso sehr gegen Stürgkh, gegen den die heftigsten Anklagen wegen seiner Beziehungen zu dem verurteilten Tschechenführer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/164>, abgerufen am 28.04.2024.