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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Wiener Brief

Kramarsch erhoben wurden. Die ungarischen Forderungen wirkten nach Oster¬
reich herüber: jene aristokratischen Kreise nahmen ihre Tätigkeit wieder auf,
diesmal mit mehr Energie und nicht mit so völligem Ausschluß der Öffent¬
lichkeit, wie ihn das erstemal die Zensur erzwungen hatte. Es kam zu Ent¬
schließungen aller drei Gruppen des Herrenhauses, der Konservativen, der
Verfassungsmäßigen und der Mittelpartei, die einmütig die Einberufung der
Delegationen verlangten. Für die Mitglieder des Herrenhauses war der Be¬
weggrund das Bestreben, gegen die Vorherrschaft Ungarns in der Vertretung
der Monarchie nach außen und im inneren Verfassungsleben ein Gegengewicht
zu schaffen.

Die Abgeordneten des Reichsrates forderten ebenso Einberufung ihrer
Körperschaf!, freilich nicht einheitlich. Im deutschen Nationalverband ergab sich
eine knappe Mehrheit für die Einberufung. Die neugebildete Deutsche Arbeits¬
gemeinschaft, dit eine Reihe von Abgeordneten aus dem Nationalverband mit
einigen außerhalb dieser Vereinigung zusammengeschlossen hat, trat entschieden
für die Einberufung ein. scharfen Widerspruch erhoben dagegen die Deutsch-
Radikalen unter der Führung von Wolf und Pander, die geheimnisvoll von
der Möglichkeit sprachen, die Wünsche der Deutschen in Österreich, wie sie im
sogenannten Osterprogramm zusammengefaßt sind, durch ein Oktroi zu verwirk¬
lichen. Ihre Haltung entsprach ihrer bisherigen Stellung zum Grafen Stürgkh,
den sie trotz seiner offenbar tschechenfreundlichen Haltung noch immer stützten.
Eine schwankende Haltung nahmen die Christlich-Sozialen ein: sie wollten der
Einberufung nicht widersprechen, schon um nicht unvolkstümlich zu werden,
verlangten aber Bürgschaften für die Arbeitsfähigkeit des Parlaments, namentlich
eine Änderung der Geschäftsordnung, und stellten damit von vornherein die
Verwirklichung ihrer theoretischen Forderung in Frage. Ganz eindeutig und
entschlossen forderten den Neichsrat außer der Deutschen Arbeitsgemeinschaft
nur die Sozialdemokraten. Außerdem von den nichtdeutschen die Polen, die
zugleich ankündigten, daß sie die polnische Frage in den Vordergrund rücken
würden, und die Ukrainer.

Eine besondere Stellung behaupteten die Tschechen, die tschechische Sozial-
demokratie gemeinsam mit den bürgerlichen Parteien. Die Gründe, die sie
gegen Neichsrat wie Delegationen anführten, waren leicht zu beschaffen und
sind im einzelnen ohne größere Bedeutung. Die Schwierigkeiten lagen ja vor
aller Augen. Um ihre demokratischen Überlieferungen zu wahren, erklärten
freilich die freisinnigen Jungtschechen wie die Sozialdemokraten, sie seien
natürlich für die Einberufung des Reichsrates an sich, aber nur dann, wenn
Freiheit der Tribüne, volle Immunität und Freiheit der Berichterstattung
gewährleistet sei: welche Bedingungen, das wußten sie selber am besten, unter
den gegenwärtigen Umständen von der Regierung abgelehnt werden mußten.
Tiefer noch ließ ihre Forderung blicken: Es müßten an der neuen Tagung
alle gewählten Vertreter teilnehmen. Das bezog sich auf die ziemlich zahl-


Wiener Brief

Kramarsch erhoben wurden. Die ungarischen Forderungen wirkten nach Oster¬
reich herüber: jene aristokratischen Kreise nahmen ihre Tätigkeit wieder auf,
diesmal mit mehr Energie und nicht mit so völligem Ausschluß der Öffent¬
lichkeit, wie ihn das erstemal die Zensur erzwungen hatte. Es kam zu Ent¬
schließungen aller drei Gruppen des Herrenhauses, der Konservativen, der
Verfassungsmäßigen und der Mittelpartei, die einmütig die Einberufung der
Delegationen verlangten. Für die Mitglieder des Herrenhauses war der Be¬
weggrund das Bestreben, gegen die Vorherrschaft Ungarns in der Vertretung
der Monarchie nach außen und im inneren Verfassungsleben ein Gegengewicht
zu schaffen.

Die Abgeordneten des Reichsrates forderten ebenso Einberufung ihrer
Körperschaf!, freilich nicht einheitlich. Im deutschen Nationalverband ergab sich
eine knappe Mehrheit für die Einberufung. Die neugebildete Deutsche Arbeits¬
gemeinschaft, dit eine Reihe von Abgeordneten aus dem Nationalverband mit
einigen außerhalb dieser Vereinigung zusammengeschlossen hat, trat entschieden
für die Einberufung ein. scharfen Widerspruch erhoben dagegen die Deutsch-
Radikalen unter der Führung von Wolf und Pander, die geheimnisvoll von
der Möglichkeit sprachen, die Wünsche der Deutschen in Österreich, wie sie im
sogenannten Osterprogramm zusammengefaßt sind, durch ein Oktroi zu verwirk¬
lichen. Ihre Haltung entsprach ihrer bisherigen Stellung zum Grafen Stürgkh,
den sie trotz seiner offenbar tschechenfreundlichen Haltung noch immer stützten.
Eine schwankende Haltung nahmen die Christlich-Sozialen ein: sie wollten der
Einberufung nicht widersprechen, schon um nicht unvolkstümlich zu werden,
verlangten aber Bürgschaften für die Arbeitsfähigkeit des Parlaments, namentlich
eine Änderung der Geschäftsordnung, und stellten damit von vornherein die
Verwirklichung ihrer theoretischen Forderung in Frage. Ganz eindeutig und
entschlossen forderten den Neichsrat außer der Deutschen Arbeitsgemeinschaft
nur die Sozialdemokraten. Außerdem von den nichtdeutschen die Polen, die
zugleich ankündigten, daß sie die polnische Frage in den Vordergrund rücken
würden, und die Ukrainer.

Eine besondere Stellung behaupteten die Tschechen, die tschechische Sozial-
demokratie gemeinsam mit den bürgerlichen Parteien. Die Gründe, die sie
gegen Neichsrat wie Delegationen anführten, waren leicht zu beschaffen und
sind im einzelnen ohne größere Bedeutung. Die Schwierigkeiten lagen ja vor
aller Augen. Um ihre demokratischen Überlieferungen zu wahren, erklärten
freilich die freisinnigen Jungtschechen wie die Sozialdemokraten, sie seien
natürlich für die Einberufung des Reichsrates an sich, aber nur dann, wenn
Freiheit der Tribüne, volle Immunität und Freiheit der Berichterstattung
gewährleistet sei: welche Bedingungen, das wußten sie selber am besten, unter
den gegenwärtigen Umständen von der Regierung abgelehnt werden mußten.
Tiefer noch ließ ihre Forderung blicken: Es müßten an der neuen Tagung
alle gewählten Vertreter teilnehmen. Das bezog sich auf die ziemlich zahl-


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[0165] Wiener Brief Kramarsch erhoben wurden. Die ungarischen Forderungen wirkten nach Oster¬ reich herüber: jene aristokratischen Kreise nahmen ihre Tätigkeit wieder auf, diesmal mit mehr Energie und nicht mit so völligem Ausschluß der Öffent¬ lichkeit, wie ihn das erstemal die Zensur erzwungen hatte. Es kam zu Ent¬ schließungen aller drei Gruppen des Herrenhauses, der Konservativen, der Verfassungsmäßigen und der Mittelpartei, die einmütig die Einberufung der Delegationen verlangten. Für die Mitglieder des Herrenhauses war der Be¬ weggrund das Bestreben, gegen die Vorherrschaft Ungarns in der Vertretung der Monarchie nach außen und im inneren Verfassungsleben ein Gegengewicht zu schaffen. Die Abgeordneten des Reichsrates forderten ebenso Einberufung ihrer Körperschaf!, freilich nicht einheitlich. Im deutschen Nationalverband ergab sich eine knappe Mehrheit für die Einberufung. Die neugebildete Deutsche Arbeits¬ gemeinschaft, dit eine Reihe von Abgeordneten aus dem Nationalverband mit einigen außerhalb dieser Vereinigung zusammengeschlossen hat, trat entschieden für die Einberufung ein. scharfen Widerspruch erhoben dagegen die Deutsch- Radikalen unter der Führung von Wolf und Pander, die geheimnisvoll von der Möglichkeit sprachen, die Wünsche der Deutschen in Österreich, wie sie im sogenannten Osterprogramm zusammengefaßt sind, durch ein Oktroi zu verwirk¬ lichen. Ihre Haltung entsprach ihrer bisherigen Stellung zum Grafen Stürgkh, den sie trotz seiner offenbar tschechenfreundlichen Haltung noch immer stützten. Eine schwankende Haltung nahmen die Christlich-Sozialen ein: sie wollten der Einberufung nicht widersprechen, schon um nicht unvolkstümlich zu werden, verlangten aber Bürgschaften für die Arbeitsfähigkeit des Parlaments, namentlich eine Änderung der Geschäftsordnung, und stellten damit von vornherein die Verwirklichung ihrer theoretischen Forderung in Frage. Ganz eindeutig und entschlossen forderten den Neichsrat außer der Deutschen Arbeitsgemeinschaft nur die Sozialdemokraten. Außerdem von den nichtdeutschen die Polen, die zugleich ankündigten, daß sie die polnische Frage in den Vordergrund rücken würden, und die Ukrainer. Eine besondere Stellung behaupteten die Tschechen, die tschechische Sozial- demokratie gemeinsam mit den bürgerlichen Parteien. Die Gründe, die sie gegen Neichsrat wie Delegationen anführten, waren leicht zu beschaffen und sind im einzelnen ohne größere Bedeutung. Die Schwierigkeiten lagen ja vor aller Augen. Um ihre demokratischen Überlieferungen zu wahren, erklärten freilich die freisinnigen Jungtschechen wie die Sozialdemokraten, sie seien natürlich für die Einberufung des Reichsrates an sich, aber nur dann, wenn Freiheit der Tribüne, volle Immunität und Freiheit der Berichterstattung gewährleistet sei: welche Bedingungen, das wußten sie selber am besten, unter den gegenwärtigen Umständen von der Regierung abgelehnt werden mußten. Tiefer noch ließ ihre Forderung blicken: Es müßten an der neuen Tagung alle gewählten Vertreter teilnehmen. Das bezog sich auf die ziemlich zahl-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/165>, abgerufen am 14.05.2024.