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Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr.

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Zur ideologischen Deutung der Gegenwart

nahmsweise und eingeschränkt geübt werden, jedenfalls in Kriegen, die mit solcher
Erbitterung, mit solcher Anspannung aller Kräfte geführt werden, wie der
heutige, bei denen die Auffassung Englands von Treue, Ehre und Recht ma߬
gebend ist.

Man mag es bedauern, daß die Zeit dieser alten ritterlichen, menschen¬
freundlichen Kriegsbrauche, die den Sieger ehrten und den Gefangenen vor der
äußersten Härte seines Loses bewahrten, vorüber ist. Aber wenn auch deutsche
Sitte und Gesittung immer ein Hort dieser milden Kriegsbrauche gewesen ist,
heute, wo die Behandlung deutscher Kriegsgefangener durch Baralongtaten,
durch das Vorgehen gegen die Schiffbrüchigen von U 41 und durch die Leiden
unserer Landsleute in Rußland bezeichnet wird, müssen auch wir endlich lernen,
daß germanische Ritterlichkeit und Treue unangebracht sind Feinden gegenüber,
deren Worte zwar von Zivilisation, Humanität, Kultur und ewigem Völker¬
frieden überfließen, deren Taten aber die schönen Worte Lügen strafen und
voller unerhörter Grausamkeit und Verbrechen gegen das Völkerrecht sind.
Möge eine spätere Zeit, die mehr Verständnis für deutsches Wesen, für deutsche
Ehre und Treue hat, die alten Bräuche durch erneute Übung ehren.




Zur ideologischen Deutung der Gegenwart
von Dr. Max Hildebert Bochen
I.

röße und Grenze der Leistung der jüngst verflossenen Jahrzehnte
sind bestimmt durch ihren Positivismus. Die nüchterne und ent¬
sagende Beschränkung auf die greifbaren Wirklichkeiten des äuße¬
ren Daseins, diese entschlossene Konzentration des Geistes auf ein
bisher nur unzulänglich beackertes Feld hatte jenen gewaltigen
Aufschwung des modernen Technizismus zur Folge, den wir im Augenblick
um so weniger mißachten dürfen, wo er unser wirksamster Bundesgenosse in
diesem großen Erhaltungskampfe ist.

Dies Zeitalter des Positivismus, an dessen Grenze wir stehen, meisterte
die Welt, indem es sie auf Gesetze zog und damit das Kommende der Berech¬
nung erschloß. Praktisch anwendbare Seinerforschung stand im Vordergrund
des Interesses, nutzfreie Erforschung anderer (so historischer) Seinssphären ließ
man gelten, ein Hinabsteigen unter die Schicht des Gegebenen, eine Deutung
des Sinnes, ein Aufgraben der Ideen mißachtete man. So heftete sich an


Zur ideologischen Deutung der Gegenwart

nahmsweise und eingeschränkt geübt werden, jedenfalls in Kriegen, die mit solcher
Erbitterung, mit solcher Anspannung aller Kräfte geführt werden, wie der
heutige, bei denen die Auffassung Englands von Treue, Ehre und Recht ma߬
gebend ist.

Man mag es bedauern, daß die Zeit dieser alten ritterlichen, menschen¬
freundlichen Kriegsbrauche, die den Sieger ehrten und den Gefangenen vor der
äußersten Härte seines Loses bewahrten, vorüber ist. Aber wenn auch deutsche
Sitte und Gesittung immer ein Hort dieser milden Kriegsbrauche gewesen ist,
heute, wo die Behandlung deutscher Kriegsgefangener durch Baralongtaten,
durch das Vorgehen gegen die Schiffbrüchigen von U 41 und durch die Leiden
unserer Landsleute in Rußland bezeichnet wird, müssen auch wir endlich lernen,
daß germanische Ritterlichkeit und Treue unangebracht sind Feinden gegenüber,
deren Worte zwar von Zivilisation, Humanität, Kultur und ewigem Völker¬
frieden überfließen, deren Taten aber die schönen Worte Lügen strafen und
voller unerhörter Grausamkeit und Verbrechen gegen das Völkerrecht sind.
Möge eine spätere Zeit, die mehr Verständnis für deutsches Wesen, für deutsche
Ehre und Treue hat, die alten Bräuche durch erneute Übung ehren.




Zur ideologischen Deutung der Gegenwart
von Dr. Max Hildebert Bochen
I.

röße und Grenze der Leistung der jüngst verflossenen Jahrzehnte
sind bestimmt durch ihren Positivismus. Die nüchterne und ent¬
sagende Beschränkung auf die greifbaren Wirklichkeiten des äuße¬
ren Daseins, diese entschlossene Konzentration des Geistes auf ein
bisher nur unzulänglich beackertes Feld hatte jenen gewaltigen
Aufschwung des modernen Technizismus zur Folge, den wir im Augenblick
um so weniger mißachten dürfen, wo er unser wirksamster Bundesgenosse in
diesem großen Erhaltungskampfe ist.

Dies Zeitalter des Positivismus, an dessen Grenze wir stehen, meisterte
die Welt, indem es sie auf Gesetze zog und damit das Kommende der Berech¬
nung erschloß. Praktisch anwendbare Seinerforschung stand im Vordergrund
des Interesses, nutzfreie Erforschung anderer (so historischer) Seinssphären ließ
man gelten, ein Hinabsteigen unter die Schicht des Gegebenen, eine Deutung
des Sinnes, ein Aufgraben der Ideen mißachtete man. So heftete sich an


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[0256] Zur ideologischen Deutung der Gegenwart nahmsweise und eingeschränkt geübt werden, jedenfalls in Kriegen, die mit solcher Erbitterung, mit solcher Anspannung aller Kräfte geführt werden, wie der heutige, bei denen die Auffassung Englands von Treue, Ehre und Recht ma߬ gebend ist. Man mag es bedauern, daß die Zeit dieser alten ritterlichen, menschen¬ freundlichen Kriegsbrauche, die den Sieger ehrten und den Gefangenen vor der äußersten Härte seines Loses bewahrten, vorüber ist. Aber wenn auch deutsche Sitte und Gesittung immer ein Hort dieser milden Kriegsbrauche gewesen ist, heute, wo die Behandlung deutscher Kriegsgefangener durch Baralongtaten, durch das Vorgehen gegen die Schiffbrüchigen von U 41 und durch die Leiden unserer Landsleute in Rußland bezeichnet wird, müssen auch wir endlich lernen, daß germanische Ritterlichkeit und Treue unangebracht sind Feinden gegenüber, deren Worte zwar von Zivilisation, Humanität, Kultur und ewigem Völker¬ frieden überfließen, deren Taten aber die schönen Worte Lügen strafen und voller unerhörter Grausamkeit und Verbrechen gegen das Völkerrecht sind. Möge eine spätere Zeit, die mehr Verständnis für deutsches Wesen, für deutsche Ehre und Treue hat, die alten Bräuche durch erneute Übung ehren. Zur ideologischen Deutung der Gegenwart von Dr. Max Hildebert Bochen I. röße und Grenze der Leistung der jüngst verflossenen Jahrzehnte sind bestimmt durch ihren Positivismus. Die nüchterne und ent¬ sagende Beschränkung auf die greifbaren Wirklichkeiten des äuße¬ ren Daseins, diese entschlossene Konzentration des Geistes auf ein bisher nur unzulänglich beackertes Feld hatte jenen gewaltigen Aufschwung des modernen Technizismus zur Folge, den wir im Augenblick um so weniger mißachten dürfen, wo er unser wirksamster Bundesgenosse in diesem großen Erhaltungskampfe ist. Dies Zeitalter des Positivismus, an dessen Grenze wir stehen, meisterte die Welt, indem es sie auf Gesetze zog und damit das Kommende der Berech¬ nung erschloß. Praktisch anwendbare Seinerforschung stand im Vordergrund des Interesses, nutzfreie Erforschung anderer (so historischer) Seinssphären ließ man gelten, ein Hinabsteigen unter die Schicht des Gegebenen, eine Deutung des Sinnes, ein Aufgraben der Ideen mißachtete man. So heftete sich an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 75, 1916, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341903_330971/256>, abgerufen am 28.04.2024.