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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr.

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Der entwicklungsgeschichtliche Gedanke in der Sprache
Professor Dr. Alfred Götze von

prachwissenschaft im modernen Sinn gibt es erst, seit sich der
entwicklungsgeschichtliche Gedanke in seiner grundlegenden Be¬
deutung durchgesetzt hat. Das gilt sür alle Gebiete sprachlicher
Forschung, wird aber nirgends so deutlich, wie in der deutschen
Sprachwissenschaft, von der der entscheidende Anstoß für die
älteren Philologien ausgegangen ist. An der deutschen Sprache hat Jacob
Grimm die geschichtliche Betrachtung ein erstes Mal und zugleich vorbildlich
durchgeführt, zwischen Gottsched. Adelung und ihm liegt der Schritt zu moderner
Sprachwissenschaft. Damit ist zugleich auch schon ausgesprochen, daß eine ver¬
ständige Beurteilung sprachlicher Fragen auch durch Ungelehrte nur möglich ist.
wenn sie den entwicklungsgeschichüichen Gedanken klar erfaßt und unverrückt im
Auge haben. Der gebildete Deutsche wird gegen diesen Grundsatz nicht so leicht
verstoßen, wenn er französische Worte und Formen von seiner Kenntnis des
Lateins her beurteilt oder wenn er, etwa vom Niederdeutschen einerseits, vom
Französischen anderseits ausgehend, die germanischen und romanischen Bestand¬
teile im Englischen betrachtet -- der Muttersprache gegenüber ist ihm der ent-
wicklungsgeschichtliche Gesichtspunkt nicht so notwendig gegenwärtig. Hier über¬
wiegt ihm die Vorstellung gleichmäßiger Korrektheit, die, zumal auf dem Papier,
den deutschen Ausdruck bindet und beherrscht. Die Schule muß dogmatisch
verfahren, und wer in jungen Tagen mit Schmerzen gelernt hat, daß jede der
Norm widersprechende Bildung und Wortform "falsch" sei, dem wird der Ge¬
danke, daß auch diese Norm gewachsen und geworden ist, daß sie sich weiter
wandeln wird und auch jetzt jeden Augenblick in leiser Umbildung begriffen
ist, nicht so leicht in den Sinn kommen. Und wenn schon, so bedeutet ein
solcher Wandel der Gesichtspunkte eine Emanzipation von ins Blut gejagten
Borstellungen, die nicht jeder vollzieht. Propädeutisch richtig und unvermeid¬
lich, bedeutet die schulmäßige Denkweise eine Gefährdung der späteren reifen
Betrachtung, wenn sie nicht nochmals ebenso autoritativ umgebildet wird, wie sie
ursprünglich eingelernt war. Daran aber scheint es zu fehlen. So kommt es.
daß sich die Erwägungen über die Muttersprache, zu denen der Gebildete ge¬
meinhin neigt, mehr um Sprachrichtigkeit drehen als um Sprachentwick¬
lung. Hier kann zunächst nur durch gemeinverständliche Belehrung der Er¬
wachsenen Wandel geschaffen werden, und dazu sind vier Bücher vor allem
geeignet, die, zufällig zur gleichen Zeit erschienen, in ihrer Gesamtheit die




Der entwicklungsgeschichtliche Gedanke in der Sprache
Professor Dr. Alfred Götze von

prachwissenschaft im modernen Sinn gibt es erst, seit sich der
entwicklungsgeschichtliche Gedanke in seiner grundlegenden Be¬
deutung durchgesetzt hat. Das gilt sür alle Gebiete sprachlicher
Forschung, wird aber nirgends so deutlich, wie in der deutschen
Sprachwissenschaft, von der der entscheidende Anstoß für die
älteren Philologien ausgegangen ist. An der deutschen Sprache hat Jacob
Grimm die geschichtliche Betrachtung ein erstes Mal und zugleich vorbildlich
durchgeführt, zwischen Gottsched. Adelung und ihm liegt der Schritt zu moderner
Sprachwissenschaft. Damit ist zugleich auch schon ausgesprochen, daß eine ver¬
ständige Beurteilung sprachlicher Fragen auch durch Ungelehrte nur möglich ist.
wenn sie den entwicklungsgeschichüichen Gedanken klar erfaßt und unverrückt im
Auge haben. Der gebildete Deutsche wird gegen diesen Grundsatz nicht so leicht
verstoßen, wenn er französische Worte und Formen von seiner Kenntnis des
Lateins her beurteilt oder wenn er, etwa vom Niederdeutschen einerseits, vom
Französischen anderseits ausgehend, die germanischen und romanischen Bestand¬
teile im Englischen betrachtet — der Muttersprache gegenüber ist ihm der ent-
wicklungsgeschichtliche Gesichtspunkt nicht so notwendig gegenwärtig. Hier über¬
wiegt ihm die Vorstellung gleichmäßiger Korrektheit, die, zumal auf dem Papier,
den deutschen Ausdruck bindet und beherrscht. Die Schule muß dogmatisch
verfahren, und wer in jungen Tagen mit Schmerzen gelernt hat, daß jede der
Norm widersprechende Bildung und Wortform „falsch" sei, dem wird der Ge¬
danke, daß auch diese Norm gewachsen und geworden ist, daß sie sich weiter
wandeln wird und auch jetzt jeden Augenblick in leiser Umbildung begriffen
ist, nicht so leicht in den Sinn kommen. Und wenn schon, so bedeutet ein
solcher Wandel der Gesichtspunkte eine Emanzipation von ins Blut gejagten
Borstellungen, die nicht jeder vollzieht. Propädeutisch richtig und unvermeid¬
lich, bedeutet die schulmäßige Denkweise eine Gefährdung der späteren reifen
Betrachtung, wenn sie nicht nochmals ebenso autoritativ umgebildet wird, wie sie
ursprünglich eingelernt war. Daran aber scheint es zu fehlen. So kommt es.
daß sich die Erwägungen über die Muttersprache, zu denen der Gebildete ge¬
meinhin neigt, mehr um Sprachrichtigkeit drehen als um Sprachentwick¬
lung. Hier kann zunächst nur durch gemeinverständliche Belehrung der Er¬
wachsenen Wandel geschaffen werden, und dazu sind vier Bücher vor allem
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_331841/74>, abgerufen am 08.05.2024.