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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr.

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Der Aurs des neuen Aanzlers
von Dr. Friedrich Thinae

rst jetzt, nach dem großen Revirement im Reich und in Preußen
ist es möglich, dem neuen Kanzler das politische, vor allem das
innerpolitische Horoskop zu stellen. Zwar hat der Nachfolger des
Herrn von Bethmann Hollweg seit seiner ersten Reichstagsrede
vom 19. Juli, die so vielfach aus- und umgedeutet wurde,
häufiger Gelegenheit genommen, sich zu äußern, so am 28. Juli bei dem
Empfang der Pressevertreter, so auf der Reise nach München und Dresden zu
den Vertretern der "Münchener Neuesten Nachrichten" und des Dresdener
gleichnamigen Blattes, so in seiner Ansprache bei der Gedenkfeier im Reichstage
4. August, so endlich in mancherlei Begrüßungs- und Antworttelegrammen,
^le sie der Ernennung eines leitenden Staatsmannes zu folgen pflegen. Aber
"u" diese Äußerungen hatten noch keinen klaren Einblick in das politische Wollen
neuen Kanzlers geben können. Sie waren doch durchweg so allgemein
gehalten, daß sie gleich jener ersten Neichstagsrede eine sichere Voraussage über
den Kurs des Herrn Dr. Michaelis nicht gestatteten. Das galt schon hin-
^ehelich der Stellung des sechsten Kanzlers zur Friedensfrage. Wie früher alle
Äußerungen des Herrn von Bethmann Hollweg von sozialdemokratischer Seite
>ur ihre Auffassung von der Friedensfrage in Anspruch genommen wurden,
Zur äußersten Beschwer der alldeutschen und konservativen Kreise, so war es seit
den ersten Tagen des Herrn Dr. Michaelis genau umgekehrt: jetzt wurde jedes
Wort des neuen Kanzlers von altdeutsch-konservativer Seite in entgegengesetzter
Dichtung ausgebeutet, mit dem Erfolge, daß nun die Linke immer dringender
den Ruf nach voller, "kristallheller" Klarheit ertönen ließ. Auch die Dresdener
Äußerungen des Herrn Dr. Michaelis über die Nervosität, mit der die inner¬
politischen Kämpfe in der letzten Amtszeit des Herrn von Bethmann Hollweg
"on den verschiedensten Seiten geführt worden feien, sind von den alldeutsch-
konservativen Blättern ganz einseitig zu ungunsten der Reichstagsmehrheit, ja
ungunsten Herrn von Bethmann Hollwegs selbst, sicherlich gegen die Absicht


Arenzboten III 1917 Is


Der Aurs des neuen Aanzlers
von Dr. Friedrich Thinae

rst jetzt, nach dem großen Revirement im Reich und in Preußen
ist es möglich, dem neuen Kanzler das politische, vor allem das
innerpolitische Horoskop zu stellen. Zwar hat der Nachfolger des
Herrn von Bethmann Hollweg seit seiner ersten Reichstagsrede
vom 19. Juli, die so vielfach aus- und umgedeutet wurde,
häufiger Gelegenheit genommen, sich zu äußern, so am 28. Juli bei dem
Empfang der Pressevertreter, so auf der Reise nach München und Dresden zu
den Vertretern der „Münchener Neuesten Nachrichten" und des Dresdener
gleichnamigen Blattes, so in seiner Ansprache bei der Gedenkfeier im Reichstage
4. August, so endlich in mancherlei Begrüßungs- und Antworttelegrammen,
^le sie der Ernennung eines leitenden Staatsmannes zu folgen pflegen. Aber
"u" diese Äußerungen hatten noch keinen klaren Einblick in das politische Wollen
neuen Kanzlers geben können. Sie waren doch durchweg so allgemein
gehalten, daß sie gleich jener ersten Neichstagsrede eine sichere Voraussage über
den Kurs des Herrn Dr. Michaelis nicht gestatteten. Das galt schon hin-
^ehelich der Stellung des sechsten Kanzlers zur Friedensfrage. Wie früher alle
Äußerungen des Herrn von Bethmann Hollweg von sozialdemokratischer Seite
>ur ihre Auffassung von der Friedensfrage in Anspruch genommen wurden,
Zur äußersten Beschwer der alldeutschen und konservativen Kreise, so war es seit
den ersten Tagen des Herrn Dr. Michaelis genau umgekehrt: jetzt wurde jedes
Wort des neuen Kanzlers von altdeutsch-konservativer Seite in entgegengesetzter
Dichtung ausgebeutet, mit dem Erfolge, daß nun die Linke immer dringender
den Ruf nach voller, „kristallheller" Klarheit ertönen ließ. Auch die Dresdener
Äußerungen des Herrn Dr. Michaelis über die Nervosität, mit der die inner¬
politischen Kämpfe in der letzten Amtszeit des Herrn von Bethmann Hollweg
"on den verschiedensten Seiten geführt worden feien, sind von den alldeutsch-
konservativen Blättern ganz einseitig zu ungunsten der Reichstagsmehrheit, ja
ungunsten Herrn von Bethmann Hollwegs selbst, sicherlich gegen die Absicht


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[0205] [Abbildung] Der Aurs des neuen Aanzlers von Dr. Friedrich Thinae rst jetzt, nach dem großen Revirement im Reich und in Preußen ist es möglich, dem neuen Kanzler das politische, vor allem das innerpolitische Horoskop zu stellen. Zwar hat der Nachfolger des Herrn von Bethmann Hollweg seit seiner ersten Reichstagsrede vom 19. Juli, die so vielfach aus- und umgedeutet wurde, häufiger Gelegenheit genommen, sich zu äußern, so am 28. Juli bei dem Empfang der Pressevertreter, so auf der Reise nach München und Dresden zu den Vertretern der „Münchener Neuesten Nachrichten" und des Dresdener gleichnamigen Blattes, so in seiner Ansprache bei der Gedenkfeier im Reichstage 4. August, so endlich in mancherlei Begrüßungs- und Antworttelegrammen, ^le sie der Ernennung eines leitenden Staatsmannes zu folgen pflegen. Aber "u" diese Äußerungen hatten noch keinen klaren Einblick in das politische Wollen neuen Kanzlers geben können. Sie waren doch durchweg so allgemein gehalten, daß sie gleich jener ersten Neichstagsrede eine sichere Voraussage über den Kurs des Herrn Dr. Michaelis nicht gestatteten. Das galt schon hin- ^ehelich der Stellung des sechsten Kanzlers zur Friedensfrage. Wie früher alle Äußerungen des Herrn von Bethmann Hollweg von sozialdemokratischer Seite >ur ihre Auffassung von der Friedensfrage in Anspruch genommen wurden, Zur äußersten Beschwer der alldeutschen und konservativen Kreise, so war es seit den ersten Tagen des Herrn Dr. Michaelis genau umgekehrt: jetzt wurde jedes Wort des neuen Kanzlers von altdeutsch-konservativer Seite in entgegengesetzter Dichtung ausgebeutet, mit dem Erfolge, daß nun die Linke immer dringender den Ruf nach voller, „kristallheller" Klarheit ertönen ließ. Auch die Dresdener Äußerungen des Herrn Dr. Michaelis über die Nervosität, mit der die inner¬ politischen Kämpfe in der letzten Amtszeit des Herrn von Bethmann Hollweg "on den verschiedensten Seiten geführt worden feien, sind von den alldeutsch- konservativen Blättern ganz einseitig zu ungunsten der Reichstagsmehrheit, ja ungunsten Herrn von Bethmann Hollwegs selbst, sicherlich gegen die Absicht Arenzboten III 1917 Is

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332278/205>, abgerufen am 04.05.2024.