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Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr.

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übersprachliches, wo die Sprache nicht ausreicht, um nach einer langen Kette
nichtsprachlicher Vorgänge das Ergebnis eindeutig festzulegen -- namentlich im
sogenannten intuitiver Denken.

Unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkte bedeuten Erkennen und Denken
nicht Abbilden einer äußeren Dingwelt, sondern ein Stellungnehmen zu ihr. Die
Empfindungen vermitteln keine Erkenntnis von Beziehungs- und Bedingungslosem.
Die aus jenen sich aufbauende Erkenntnis kann nur der Orientierung in der
Außenwelt und ihrer Beherrschung dienen. Das Wesen unseres Geistes liegt nicht
im rein intellektuellen Erkennen, sondern in seiner biologischen Funktion als Mittel
zur Erhaltung des Lebens.

Wir haben auf beschränktem Raume nur ein sehr verkürztes Bild des
reichen Inhaltes des Müller-Freienfelsschen Werkes geben können; die methodo¬
logischen Bemerkungen, die mannigfachen Ausblicke des Verfassers auf Psycho-
pathologie, die bedeutungsvollen kritischen Auseinandersetzungen mit namhaften
Psychologen der Vergangenheit und Gegenwart haben wir völlig unbeachtet lassen
müssen. Trotzdem hoffen wir, manchen Leser der "Grenzboten" genügend angeregt
zu haben, um sich mit dem durch klaren Ausdruck und eine gewisse Breite der
Darstellung leicht verständlichen Werk näher zu beschäftigen.




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Die "Freiheit der Meere" hat man mit Recht als eine der volkstümlichsten
Forderungen unter den Kriegszielen des deutschen Volkes bezeichnet. Aber sie wird
nicht nur von uns gegenüber der englischen Seetyrannei gefordert. Sie ist auch eine
Forderung der Neutralen, und am meisten haben die Vereinigten Staaten dieses Schlag¬
wort im Munde geführt, indessen nicht England, sondern uns gegenüber. Und die
englische Regierung selbst hat sich, wie es in der Denkschrift der deutschen Reichs¬
regierung vom 7. November 1914 heißt, "als Vorkämpferin des feststehenden und
allgemein angenommenen Grundsatzes der Freiheit der Meere für den friedlichen
Handel aufgeworfen". Freilich -- fügt die Denkschrift hinzu -- "ein friedlicher
Handel ist augenscheinlich für das im Kriege befindliche England nur derjenige
neutrale Handel, der Waren nach England bringt, nicht aber derjenige, der Waren
seinen Gegnern zuführt oder möglicherweise zuführen könnte".

Schon dieser Umstand, daß jede der Kriegsparteien und ebenso die Neu¬
tralen für die Freiheit der Meere sich ins Zeug legen, zeigt die Unklarheit und


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übersprachliches, wo die Sprache nicht ausreicht, um nach einer langen Kette
nichtsprachlicher Vorgänge das Ergebnis eindeutig festzulegen — namentlich im
sogenannten intuitiver Denken.

Unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkte bedeuten Erkennen und Denken
nicht Abbilden einer äußeren Dingwelt, sondern ein Stellungnehmen zu ihr. Die
Empfindungen vermitteln keine Erkenntnis von Beziehungs- und Bedingungslosem.
Die aus jenen sich aufbauende Erkenntnis kann nur der Orientierung in der
Außenwelt und ihrer Beherrschung dienen. Das Wesen unseres Geistes liegt nicht
im rein intellektuellen Erkennen, sondern in seiner biologischen Funktion als Mittel
zur Erhaltung des Lebens.

Wir haben auf beschränktem Raume nur ein sehr verkürztes Bild des
reichen Inhaltes des Müller-Freienfelsschen Werkes geben können; die methodo¬
logischen Bemerkungen, die mannigfachen Ausblicke des Verfassers auf Psycho-
pathologie, die bedeutungsvollen kritischen Auseinandersetzungen mit namhaften
Psychologen der Vergangenheit und Gegenwart haben wir völlig unbeachtet lassen
müssen. Trotzdem hoffen wir, manchen Leser der „Grenzboten" genügend angeregt
zu haben, um sich mit dem durch klaren Ausdruck und eine gewisse Breite der
Darstellung leicht verständlichen Werk näher zu beschäftigen.




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Die „Freiheit der Meere" hat man mit Recht als eine der volkstümlichsten
Forderungen unter den Kriegszielen des deutschen Volkes bezeichnet. Aber sie wird
nicht nur von uns gegenüber der englischen Seetyrannei gefordert. Sie ist auch eine
Forderung der Neutralen, und am meisten haben die Vereinigten Staaten dieses Schlag¬
wort im Munde geführt, indessen nicht England, sondern uns gegenüber. Und die
englische Regierung selbst hat sich, wie es in der Denkschrift der deutschen Reichs¬
regierung vom 7. November 1914 heißt, „als Vorkämpferin des feststehenden und
allgemein angenommenen Grundsatzes der Freiheit der Meere für den friedlichen
Handel aufgeworfen". Freilich — fügt die Denkschrift hinzu — „ein friedlicher
Handel ist augenscheinlich für das im Kriege befindliche England nur derjenige
neutrale Handel, der Waren nach England bringt, nicht aber derjenige, der Waren
seinen Gegnern zuführt oder möglicherweise zuführen könnte".

Schon dieser Umstand, daß jede der Kriegsparteien und ebenso die Neu¬
tralen für die Freiheit der Meere sich ins Zeug legen, zeigt die Unklarheit und


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[0134] Neue Bücher übersprachliches, wo die Sprache nicht ausreicht, um nach einer langen Kette nichtsprachlicher Vorgänge das Ergebnis eindeutig festzulegen — namentlich im sogenannten intuitiver Denken. Unter erkenntnistheoretischen Gesichtspunkte bedeuten Erkennen und Denken nicht Abbilden einer äußeren Dingwelt, sondern ein Stellungnehmen zu ihr. Die Empfindungen vermitteln keine Erkenntnis von Beziehungs- und Bedingungslosem. Die aus jenen sich aufbauende Erkenntnis kann nur der Orientierung in der Außenwelt und ihrer Beherrschung dienen. Das Wesen unseres Geistes liegt nicht im rein intellektuellen Erkennen, sondern in seiner biologischen Funktion als Mittel zur Erhaltung des Lebens. Wir haben auf beschränktem Raume nur ein sehr verkürztes Bild des reichen Inhaltes des Müller-Freienfelsschen Werkes geben können; die methodo¬ logischen Bemerkungen, die mannigfachen Ausblicke des Verfassers auf Psycho- pathologie, die bedeutungsvollen kritischen Auseinandersetzungen mit namhaften Psychologen der Vergangenheit und Gegenwart haben wir völlig unbeachtet lassen müssen. Trotzdem hoffen wir, manchen Leser der „Grenzboten" genügend angeregt zu haben, um sich mit dem durch klaren Ausdruck und eine gewisse Breite der Darstellung leicht verständlichen Werk näher zu beschäftigen. Neue Bücher Die „Freiheit der Meere" hat man mit Recht als eine der volkstümlichsten Forderungen unter den Kriegszielen des deutschen Volkes bezeichnet. Aber sie wird nicht nur von uns gegenüber der englischen Seetyrannei gefordert. Sie ist auch eine Forderung der Neutralen, und am meisten haben die Vereinigten Staaten dieses Schlag¬ wort im Munde geführt, indessen nicht England, sondern uns gegenüber. Und die englische Regierung selbst hat sich, wie es in der Denkschrift der deutschen Reichs¬ regierung vom 7. November 1914 heißt, „als Vorkämpferin des feststehenden und allgemein angenommenen Grundsatzes der Freiheit der Meere für den friedlichen Handel aufgeworfen". Freilich — fügt die Denkschrift hinzu — „ein friedlicher Handel ist augenscheinlich für das im Kriege befindliche England nur derjenige neutrale Handel, der Waren nach England bringt, nicht aber derjenige, der Waren seinen Gegnern zuführt oder möglicherweise zuführen könnte". Schon dieser Umstand, daß jede der Kriegsparteien und ebenso die Neu¬ tralen für die Freiheit der Meere sich ins Zeug legen, zeigt die Unklarheit und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 76, 1917, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341905_332712/134>, abgerufen am 06.05.2024.