Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die nationale Eigenart der deutschen Verssprache

Wer dem Werden, den Zusammenhängen und dem Zwiespalt der hier an¬
gedeuteten Probleme gefolgt ist, muß diese "Vereinödung" verwerfen. Die
"vertragsmäßigen Elemente" der Reichsverfassung, insbesondere die Reservatrechte
Bayerns, sind nicht nur den Einzelregierungen, sondern vor allem auch den
Stämmen selbst allzu tief in Fleisch und Blut übergegangen, als daß sie mit
einem Federstrich getilgt werden könnten. Die sozialen, wirtschaftlichen und
kulturellen Kräfte des Gesamtvaterlandes, die dem geschichtlich gebundenen Blicke
neue Ziele eröffnen, dürfen und können nur durch vorsichtigste" Neuordnung des
Reichsgebietes und seines verfassungsmäßigen Rechtes zu fruchtbarer Arbeit ent¬
fesselt werden: durch "Verkoppelung", die sich mit Zusammenlegung allzu kleiner
und unzweckmäßiger Parzellen und mit Ausgleichung der Wirtschaftsformen begnügt.




Ale nationale Eigenart der deutschen Verssprache*)
Dr. Richard Müller von

>s ist viel schwerer, als man gewöhnlich annimmt, das wurzelhaft
Deutsche vom nichtdeutschen zu sondern-, denn das Nichtdeutsche ist
I keineswegs bloß eine äußerlich übergeworfene Maskerade, sondern
>es hat, vielfach wenigstens, gewirkt wie gut angegangenes Pfropf-
^ reif, d.h. es hat in inniger Vermählung mit dem wurzelhaften Stamme
l ein Neues geschaffen, das wieder ein Ganzes ist. Die Zweiteilung in
Deutsch und Nichtdeutsch ist daher für eine eindmgende Analyse der Kultur¬
phänomene unzulänglich, man nutz vielmehr an die Stelle jener Zweiteilung eine
Dreiteilung setzen: man muß neben dem unzweifelhaft bodenständig nationalen
und dem unzweifelhaft fremdländischen, nicht assimilierten .Kulturgut ein Drittes
unterscheiden: die übernationalen, aus gegenseitiger Befruchtung der Völker hervor¬
gegangenen Kulturgewinne. Diese sind zwar irgendwo zuerst aufgetreten, haben
sich jedoch so allgemein verbreitet, daß sie ihren nur nationalen Ursprung oft ganz
abstreifen.

Ich betrachte unter diesem prinzipiellen Gesichtspunkt ein Sondergebiet des
geistigen Lebens: die deutsche Verssprache, und ich hoffe dabei, über das besondere
Thema hinaus die Notwendigkeit und Fruchtbarkeit des eingangs gekennzeichneten
Standpunktes erweisen zu können. In großen Zügen versuche ich das ewig
Undeutsche vom Deutschgewordenen zu sondern, hinter beiden jedoch dasjenige
herauszuarbeiten, was sich als bodenständiges Nationalgut erweisen und als echten
Ausdruck spezifisch deutscher seelischer Eigenart begreifen läßt. '




Vielleicht mag es dem oberflächlichen Blicke scheinen, als sei es gerade in
der Sprachkunst leicht, das echt Nationale in Neinkultur darzustellen. Ist doch
das technische Material der Dichtung, die Muttersprache, scheinbar daS eigenste
Gut eines Volkes, so sehr, daß man vielfach das Volkögebiet ohne weiteres durch



*) Vgl. hierzu meine Aufsätze: "Dergerm, Schönheitsbegriff", Grenzboten 1916 Ur. 46
und "Die Eigenart der gern. Weltanschauung", Grenzboten 19t7 Ur. 14. -- Manches Ver¬
wandte bringt auch R. Benz: Bon deutscher Art und Kunst, III.
Die nationale Eigenart der deutschen Verssprache

Wer dem Werden, den Zusammenhängen und dem Zwiespalt der hier an¬
gedeuteten Probleme gefolgt ist, muß diese „Vereinödung" verwerfen. Die
„vertragsmäßigen Elemente" der Reichsverfassung, insbesondere die Reservatrechte
Bayerns, sind nicht nur den Einzelregierungen, sondern vor allem auch den
Stämmen selbst allzu tief in Fleisch und Blut übergegangen, als daß sie mit
einem Federstrich getilgt werden könnten. Die sozialen, wirtschaftlichen und
kulturellen Kräfte des Gesamtvaterlandes, die dem geschichtlich gebundenen Blicke
neue Ziele eröffnen, dürfen und können nur durch vorsichtigste" Neuordnung des
Reichsgebietes und seines verfassungsmäßigen Rechtes zu fruchtbarer Arbeit ent¬
fesselt werden: durch „Verkoppelung", die sich mit Zusammenlegung allzu kleiner
und unzweckmäßiger Parzellen und mit Ausgleichung der Wirtschaftsformen begnügt.




Ale nationale Eigenart der deutschen Verssprache*)
Dr. Richard Müller von

>s ist viel schwerer, als man gewöhnlich annimmt, das wurzelhaft
Deutsche vom nichtdeutschen zu sondern-, denn das Nichtdeutsche ist
I keineswegs bloß eine äußerlich übergeworfene Maskerade, sondern
>es hat, vielfach wenigstens, gewirkt wie gut angegangenes Pfropf-
^ reif, d.h. es hat in inniger Vermählung mit dem wurzelhaften Stamme
l ein Neues geschaffen, das wieder ein Ganzes ist. Die Zweiteilung in
Deutsch und Nichtdeutsch ist daher für eine eindmgende Analyse der Kultur¬
phänomene unzulänglich, man nutz vielmehr an die Stelle jener Zweiteilung eine
Dreiteilung setzen: man muß neben dem unzweifelhaft bodenständig nationalen
und dem unzweifelhaft fremdländischen, nicht assimilierten .Kulturgut ein Drittes
unterscheiden: die übernationalen, aus gegenseitiger Befruchtung der Völker hervor¬
gegangenen Kulturgewinne. Diese sind zwar irgendwo zuerst aufgetreten, haben
sich jedoch so allgemein verbreitet, daß sie ihren nur nationalen Ursprung oft ganz
abstreifen.

Ich betrachte unter diesem prinzipiellen Gesichtspunkt ein Sondergebiet des
geistigen Lebens: die deutsche Verssprache, und ich hoffe dabei, über das besondere
Thema hinaus die Notwendigkeit und Fruchtbarkeit des eingangs gekennzeichneten
Standpunktes erweisen zu können. In großen Zügen versuche ich das ewig
Undeutsche vom Deutschgewordenen zu sondern, hinter beiden jedoch dasjenige
herauszuarbeiten, was sich als bodenständiges Nationalgut erweisen und als echten
Ausdruck spezifisch deutscher seelischer Eigenart begreifen läßt. '




Vielleicht mag es dem oberflächlichen Blicke scheinen, als sei es gerade in
der Sprachkunst leicht, das echt Nationale in Neinkultur darzustellen. Ist doch
das technische Material der Dichtung, die Muttersprache, scheinbar daS eigenste
Gut eines Volkes, so sehr, daß man vielfach das Volkögebiet ohne weiteres durch



*) Vgl. hierzu meine Aufsätze: „Dergerm, Schönheitsbegriff", Grenzboten 1916 Ur. 46
und „Die Eigenart der gern. Weltanschauung", Grenzboten 19t7 Ur. 14. — Manches Ver¬
wandte bringt auch R. Benz: Bon deutscher Art und Kunst, III.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0338" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/333435"/>
          <fw type="header" place="top"> Die nationale Eigenart der deutschen Verssprache</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1250"> Wer dem Werden, den Zusammenhängen und dem Zwiespalt der hier an¬<lb/>
gedeuteten Probleme gefolgt ist, muß diese &#x201E;Vereinödung" verwerfen. Die<lb/>
&#x201E;vertragsmäßigen Elemente" der Reichsverfassung, insbesondere die Reservatrechte<lb/>
Bayerns, sind nicht nur den Einzelregierungen, sondern vor allem auch den<lb/>
Stämmen selbst allzu tief in Fleisch und Blut übergegangen, als daß sie mit<lb/>
einem Federstrich getilgt werden könnten. Die sozialen, wirtschaftlichen und<lb/>
kulturellen Kräfte des Gesamtvaterlandes, die dem geschichtlich gebundenen Blicke<lb/>
neue Ziele eröffnen, dürfen und können nur durch vorsichtigste" Neuordnung des<lb/>
Reichsgebietes und seines verfassungsmäßigen Rechtes zu fruchtbarer Arbeit ent¬<lb/>
fesselt werden: durch &#x201E;Verkoppelung", die sich mit Zusammenlegung allzu kleiner<lb/>
und unzweckmäßiger Parzellen und mit Ausgleichung der Wirtschaftsformen begnügt.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Ale nationale Eigenart der deutschen Verssprache*)<lb/><note type="byline"> Dr. Richard Müller</note> von</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1251"> &gt;s ist viel schwerer, als man gewöhnlich annimmt, das wurzelhaft<lb/>
Deutsche vom nichtdeutschen zu sondern-, denn das Nichtdeutsche ist<lb/>
I keineswegs bloß eine äußerlich übergeworfene Maskerade, sondern<lb/>
&gt;es hat, vielfach wenigstens, gewirkt wie gut angegangenes Pfropf-<lb/>
^ reif, d.h. es hat in inniger Vermählung mit dem wurzelhaften Stamme<lb/>
l ein Neues geschaffen, das wieder ein Ganzes ist. Die Zweiteilung in<lb/>
Deutsch und Nichtdeutsch ist daher für eine eindmgende Analyse der Kultur¬<lb/>
phänomene unzulänglich, man nutz vielmehr an die Stelle jener Zweiteilung eine<lb/>
Dreiteilung setzen: man muß neben dem unzweifelhaft bodenständig nationalen<lb/>
und dem unzweifelhaft fremdländischen, nicht assimilierten .Kulturgut ein Drittes<lb/>
unterscheiden: die übernationalen, aus gegenseitiger Befruchtung der Völker hervor¬<lb/>
gegangenen Kulturgewinne. Diese sind zwar irgendwo zuerst aufgetreten, haben<lb/>
sich jedoch so allgemein verbreitet, daß sie ihren nur nationalen Ursprung oft ganz<lb/>
abstreifen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1252"> Ich betrachte unter diesem prinzipiellen Gesichtspunkt ein Sondergebiet des<lb/>
geistigen Lebens: die deutsche Verssprache, und ich hoffe dabei, über das besondere<lb/>
Thema hinaus die Notwendigkeit und Fruchtbarkeit des eingangs gekennzeichneten<lb/>
Standpunktes erweisen zu können. In großen Zügen versuche ich das ewig<lb/>
Undeutsche vom Deutschgewordenen zu sondern, hinter beiden jedoch dasjenige<lb/>
herauszuarbeiten, was sich als bodenständiges Nationalgut erweisen und als echten<lb/>
Ausdruck spezifisch deutscher seelischer Eigenart begreifen läßt. '</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_1253" next="#ID_1254"> Vielleicht mag es dem oberflächlichen Blicke scheinen, als sei es gerade in<lb/>
der Sprachkunst leicht, das echt Nationale in Neinkultur darzustellen. Ist doch<lb/>
das technische Material der Dichtung, die Muttersprache, scheinbar daS eigenste<lb/>
Gut eines Volkes, so sehr, daß man vielfach das Volkögebiet ohne weiteres durch</p><lb/>
          <note xml:id="FID_132" place="foot"> *) Vgl. hierzu meine Aufsätze: &#x201E;Dergerm, Schönheitsbegriff", Grenzboten 1916 Ur. 46<lb/>
und &#x201E;Die Eigenart der gern. Weltanschauung", Grenzboten 19t7 Ur. 14. &#x2014; Manches Ver¬<lb/>
wandte bringt auch R. Benz: Bon deutscher Art und Kunst, III.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0338] Die nationale Eigenart der deutschen Verssprache Wer dem Werden, den Zusammenhängen und dem Zwiespalt der hier an¬ gedeuteten Probleme gefolgt ist, muß diese „Vereinödung" verwerfen. Die „vertragsmäßigen Elemente" der Reichsverfassung, insbesondere die Reservatrechte Bayerns, sind nicht nur den Einzelregierungen, sondern vor allem auch den Stämmen selbst allzu tief in Fleisch und Blut übergegangen, als daß sie mit einem Federstrich getilgt werden könnten. Die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Kräfte des Gesamtvaterlandes, die dem geschichtlich gebundenen Blicke neue Ziele eröffnen, dürfen und können nur durch vorsichtigste" Neuordnung des Reichsgebietes und seines verfassungsmäßigen Rechtes zu fruchtbarer Arbeit ent¬ fesselt werden: durch „Verkoppelung", die sich mit Zusammenlegung allzu kleiner und unzweckmäßiger Parzellen und mit Ausgleichung der Wirtschaftsformen begnügt. Ale nationale Eigenart der deutschen Verssprache*) Dr. Richard Müller von >s ist viel schwerer, als man gewöhnlich annimmt, das wurzelhaft Deutsche vom nichtdeutschen zu sondern-, denn das Nichtdeutsche ist I keineswegs bloß eine äußerlich übergeworfene Maskerade, sondern >es hat, vielfach wenigstens, gewirkt wie gut angegangenes Pfropf- ^ reif, d.h. es hat in inniger Vermählung mit dem wurzelhaften Stamme l ein Neues geschaffen, das wieder ein Ganzes ist. Die Zweiteilung in Deutsch und Nichtdeutsch ist daher für eine eindmgende Analyse der Kultur¬ phänomene unzulänglich, man nutz vielmehr an die Stelle jener Zweiteilung eine Dreiteilung setzen: man muß neben dem unzweifelhaft bodenständig nationalen und dem unzweifelhaft fremdländischen, nicht assimilierten .Kulturgut ein Drittes unterscheiden: die übernationalen, aus gegenseitiger Befruchtung der Völker hervor¬ gegangenen Kulturgewinne. Diese sind zwar irgendwo zuerst aufgetreten, haben sich jedoch so allgemein verbreitet, daß sie ihren nur nationalen Ursprung oft ganz abstreifen. Ich betrachte unter diesem prinzipiellen Gesichtspunkt ein Sondergebiet des geistigen Lebens: die deutsche Verssprache, und ich hoffe dabei, über das besondere Thema hinaus die Notwendigkeit und Fruchtbarkeit des eingangs gekennzeichneten Standpunktes erweisen zu können. In großen Zügen versuche ich das ewig Undeutsche vom Deutschgewordenen zu sondern, hinter beiden jedoch dasjenige herauszuarbeiten, was sich als bodenständiges Nationalgut erweisen und als echten Ausdruck spezifisch deutscher seelischer Eigenart begreifen läßt. ' Vielleicht mag es dem oberflächlichen Blicke scheinen, als sei es gerade in der Sprachkunst leicht, das echt Nationale in Neinkultur darzustellen. Ist doch das technische Material der Dichtung, die Muttersprache, scheinbar daS eigenste Gut eines Volkes, so sehr, daß man vielfach das Volkögebiet ohne weiteres durch *) Vgl. hierzu meine Aufsätze: „Dergerm, Schönheitsbegriff", Grenzboten 1916 Ur. 46 und „Die Eigenart der gern. Weltanschauung", Grenzboten 19t7 Ur. 14. — Manches Ver¬ wandte bringt auch R. Benz: Bon deutscher Art und Kunst, III.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333095
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333095/338
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 77, 1918, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341907_333095/338>, abgerufen am 05.05.2024.