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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Nationalitätsxrinzip und ^taatenvergesellschaftung
Dr. Karl Mehrmann von

s ist der Fehler Wilsons, und es war der aller Weltbeglücker vor
ihm, daß sie glaubten, sie könnten einen politischen Zustand von
ewiger Dauer schaffen. So vom grünen Tisch her. Wir hören das
Lied vom ewigen Frieden ja nicht zum ersten Mal aus dem
diplomatischen Instrument, das Wilson seine Völkerbundsakte nennt.
_ Dieselbe Melodie klingt ebenso aus dem Friedensvertrag, der in
Münster und Osnabrück geschlossen wurde. Sie tönt aus der Urkunde, die
Alexander der Erste die "heilige Allianz" nennen ließ. Fragt man aber, wie lange die
Ewigkeit solcher heilig gesprochener Verträge und Bündnisse dauert, so erstreckt sie
sich meist noch nicht über ein Menschenalter. Der westfälische Friede fing schon
Nach 20 Jahren in Aachen an zu zerbröckeln und setzte seinen Auflösungsprozeß
ur zehnjährigen Perioden zu Nimwegen und Rijswyk fort, bis er in Utrecht und
-nastatt gänzlich in die Brüche ging und einem neuen Zustand in der West- und
mitteleuropäischen Staatengesellschaft Platz machte. Auch dieser Stand der Dinge
hu'le keine 40 Jahre und zerrieb sich in den friderizianischen Kriegen, bis sich die
gesamteuropäische Welt mit dem Hubertusburger Vertrage wiederum auf die
Hoffnung auf einen ewigen Frieden einrichtete; eine Hoffnung, die in -Kants
Schrift ihren klassischen Ausdruck fand zu einer Zeit, als schon die politische
Ordnung unseres Erdteils unter den Schlägen der französischen Revolution
erzitterte. Unter den Stößen der napoleonischen Siege ging diese Ordnung völlig
Ul die Brüche, um erst auf dem Wiener Kongreß notdürftig wieder zusammen¬
geflickt zu werden. Die Flickarbeit hielt rund 40 bis 60 Jahre; aber schon um
°le zwanziger Jahre rüttelten die Aufstände in Spanien, in Italien und in
Griechenland an ihrem Bestand. Schlimmer noch zerrten an ihr die Juli- und
die März-Revolutionen und stellten ihre Dauerhaftigkeit auf die Probe, bis dann
i"e außenpolitischen Revolutionäre Cavour und Bismarck in mächtigen Hieben
das Wiener Kongreßwerk in Trümmer schlugen und auf diesen ihren National¬
staaten den Raum zur Entfaltung gaben. Die nationale Idee, der sie für Mittel-
Europa die Form durch die Errichtung des italienischen Einheitsstaates und des
putschen Reiches gegeben hatten, setzte ihre Bewegung nach dem Osten fort und
flackerte hier in den Aufständen und Kriegen am Balkan auf, ohne zu einer end¬
gültigen Lösung der slawischen Frage zu führen. Der Berliner Kongreß schuf
H^ar aufs neue eine europäische Staatengesellschaft, aber er schob die endgültige
Antwort auf die nationale Problemstellung im Orient beiseite. Die europäische
^ete hat seit ihrer Neuordnung in Berlin sast 30 Jahre Frieden gehabt, aber
nur einen Frieden, der von fortwährenden Unruhen und Kleinkriegen am
Balkan durchzittert war. Der Slciwismus vermochte den in Berlin geschaffenen


Grenzvvten II 1019 10


Nationalitätsxrinzip und ^taatenvergesellschaftung
Dr. Karl Mehrmann von

s ist der Fehler Wilsons, und es war der aller Weltbeglücker vor
ihm, daß sie glaubten, sie könnten einen politischen Zustand von
ewiger Dauer schaffen. So vom grünen Tisch her. Wir hören das
Lied vom ewigen Frieden ja nicht zum ersten Mal aus dem
diplomatischen Instrument, das Wilson seine Völkerbundsakte nennt.
_ Dieselbe Melodie klingt ebenso aus dem Friedensvertrag, der in
Münster und Osnabrück geschlossen wurde. Sie tönt aus der Urkunde, die
Alexander der Erste die „heilige Allianz" nennen ließ. Fragt man aber, wie lange die
Ewigkeit solcher heilig gesprochener Verträge und Bündnisse dauert, so erstreckt sie
sich meist noch nicht über ein Menschenalter. Der westfälische Friede fing schon
Nach 20 Jahren in Aachen an zu zerbröckeln und setzte seinen Auflösungsprozeß
ur zehnjährigen Perioden zu Nimwegen und Rijswyk fort, bis er in Utrecht und
-nastatt gänzlich in die Brüche ging und einem neuen Zustand in der West- und
mitteleuropäischen Staatengesellschaft Platz machte. Auch dieser Stand der Dinge
hu'le keine 40 Jahre und zerrieb sich in den friderizianischen Kriegen, bis sich die
gesamteuropäische Welt mit dem Hubertusburger Vertrage wiederum auf die
Hoffnung auf einen ewigen Frieden einrichtete; eine Hoffnung, die in -Kants
Schrift ihren klassischen Ausdruck fand zu einer Zeit, als schon die politische
Ordnung unseres Erdteils unter den Schlägen der französischen Revolution
erzitterte. Unter den Stößen der napoleonischen Siege ging diese Ordnung völlig
Ul die Brüche, um erst auf dem Wiener Kongreß notdürftig wieder zusammen¬
geflickt zu werden. Die Flickarbeit hielt rund 40 bis 60 Jahre; aber schon um
°le zwanziger Jahre rüttelten die Aufstände in Spanien, in Italien und in
Griechenland an ihrem Bestand. Schlimmer noch zerrten an ihr die Juli- und
die März-Revolutionen und stellten ihre Dauerhaftigkeit auf die Probe, bis dann
i"e außenpolitischen Revolutionäre Cavour und Bismarck in mächtigen Hieben
das Wiener Kongreßwerk in Trümmer schlugen und auf diesen ihren National¬
staaten den Raum zur Entfaltung gaben. Die nationale Idee, der sie für Mittel-
Europa die Form durch die Errichtung des italienischen Einheitsstaates und des
putschen Reiches gegeben hatten, setzte ihre Bewegung nach dem Osten fort und
flackerte hier in den Aufständen und Kriegen am Balkan auf, ohne zu einer end¬
gültigen Lösung der slawischen Frage zu führen. Der Berliner Kongreß schuf
H^ar aufs neue eine europäische Staatengesellschaft, aber er schob die endgültige
Antwort auf die nationale Problemstellung im Orient beiseite. Die europäische
^ete hat seit ihrer Neuordnung in Berlin sast 30 Jahre Frieden gehabt, aber
nur einen Frieden, der von fortwährenden Unruhen und Kleinkriegen am
Balkan durchzittert war. Der Slciwismus vermochte den in Berlin geschaffenen


Grenzvvten II 1019 10
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[0229] [Abbildung] Nationalitätsxrinzip und ^taatenvergesellschaftung Dr. Karl Mehrmann von s ist der Fehler Wilsons, und es war der aller Weltbeglücker vor ihm, daß sie glaubten, sie könnten einen politischen Zustand von ewiger Dauer schaffen. So vom grünen Tisch her. Wir hören das Lied vom ewigen Frieden ja nicht zum ersten Mal aus dem diplomatischen Instrument, das Wilson seine Völkerbundsakte nennt. _ Dieselbe Melodie klingt ebenso aus dem Friedensvertrag, der in Münster und Osnabrück geschlossen wurde. Sie tönt aus der Urkunde, die Alexander der Erste die „heilige Allianz" nennen ließ. Fragt man aber, wie lange die Ewigkeit solcher heilig gesprochener Verträge und Bündnisse dauert, so erstreckt sie sich meist noch nicht über ein Menschenalter. Der westfälische Friede fing schon Nach 20 Jahren in Aachen an zu zerbröckeln und setzte seinen Auflösungsprozeß ur zehnjährigen Perioden zu Nimwegen und Rijswyk fort, bis er in Utrecht und -nastatt gänzlich in die Brüche ging und einem neuen Zustand in der West- und mitteleuropäischen Staatengesellschaft Platz machte. Auch dieser Stand der Dinge hu'le keine 40 Jahre und zerrieb sich in den friderizianischen Kriegen, bis sich die gesamteuropäische Welt mit dem Hubertusburger Vertrage wiederum auf die Hoffnung auf einen ewigen Frieden einrichtete; eine Hoffnung, die in -Kants Schrift ihren klassischen Ausdruck fand zu einer Zeit, als schon die politische Ordnung unseres Erdteils unter den Schlägen der französischen Revolution erzitterte. Unter den Stößen der napoleonischen Siege ging diese Ordnung völlig Ul die Brüche, um erst auf dem Wiener Kongreß notdürftig wieder zusammen¬ geflickt zu werden. Die Flickarbeit hielt rund 40 bis 60 Jahre; aber schon um °le zwanziger Jahre rüttelten die Aufstände in Spanien, in Italien und in Griechenland an ihrem Bestand. Schlimmer noch zerrten an ihr die Juli- und die März-Revolutionen und stellten ihre Dauerhaftigkeit auf die Probe, bis dann i"e außenpolitischen Revolutionäre Cavour und Bismarck in mächtigen Hieben das Wiener Kongreßwerk in Trümmer schlugen und auf diesen ihren National¬ staaten den Raum zur Entfaltung gaben. Die nationale Idee, der sie für Mittel- Europa die Form durch die Errichtung des italienischen Einheitsstaates und des putschen Reiches gegeben hatten, setzte ihre Bewegung nach dem Osten fort und flackerte hier in den Aufständen und Kriegen am Balkan auf, ohne zu einer end¬ gültigen Lösung der slawischen Frage zu führen. Der Berliner Kongreß schuf H^ar aufs neue eine europäische Staatengesellschaft, aber er schob die endgültige Antwort auf die nationale Problemstellung im Orient beiseite. Die europäische ^ete hat seit ihrer Neuordnung in Berlin sast 30 Jahre Frieden gehabt, aber nur einen Frieden, der von fortwährenden Unruhen und Kleinkriegen am Balkan durchzittert war. Der Slciwismus vermochte den in Berlin geschaffenen Grenzvvten II 1019 10

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/229>, abgerufen am 29.04.2024.