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Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr.

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Materialien zur ostdeutschen Frage

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Staates besonders klar, denn wenn auch
die polnischen Teilungen als völkerrechtlich
allgemein gültig nicht anerkannt werden
sollten, so hat doch auf dem Wiener Kongreß
eine völlige territoriale Neuordnung Europas
statigefunden, und in der damals betroffenen
territorialen Regelung liegt eins formelle
völkerrechtliche unbestreitbare Anerkennung
des preußischen und entsprechend öster¬
reichischen und russischen Nechistitels auf die
ehemaligen Gebiete des Königreichs Polen.
Rechtsnachfolger in den in Frage kommen¬
den Gebieten sind also lediglich Preußen,
Österreich und Rußland. Der jetzt neu
entstandene polnische Staat ist eine völlig
neue Schöpfung, die zwar unter nationalen
Aspekten Verbindungen mit der Vergangen¬
heit aufzuweisen hat, die aber rechtlich durch
keine noch so geschickte juristische Rabulistik
in Verbindung mit dem untergegangenen
Königreich Polen des 18. Jahrhunderts ge¬
setzt werden kann.

Der Zusammenschluß
der Ostmark

Am 22. d, M. ist in Berlin eine Konferenz
der ostmärkischen Abgeordneten der National-
und Preußischen Landesversammlung zu¬
sammengetreten, die in der öffentlichen Mei¬
nung als eine Art Parlament des Ostens
bezeichnet wird. In der jetzigen Zeit vvrcms-
setzungsloser Illusionen ist es jedoch ange¬
bt acht, sich darüber klar zu sein, welche
praktische Tragweite der Schaffung des Ost-
Parlaments zukommt. Es scheint fast, als
ob man an den Zusammentritt der Parla¬
mentarier des Ostens Erwartungen knüpft,
die in der Folgezeit wie üblich enttäuscht
werden müßten. Zunächst muß geklärt wer¬
den, welche reale Größe hinter dem Begriff
"Ostmark" steht. Die "Ostmark" bedeutet
in der gegenwärtigen politischen Lage die
beiden am schwersten bedrohten Provinzen
Posen und Westpreußen, dazu ganz Ost¬
preußen, dessen intakt bleiben sollende Teile
gleichfalls von der geplanten Gewaltregelung
unmittelbar getroffen werden, und Over-
sch'chien. Was diese Gebieie zurzeit eint, ist
die drohende Gefahr: eine gemeinsame Or¬
ganisation besitzt die Ostmark als solche noch

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nicht. Desgleichen liegt kein gemeinschaft¬
licher Plan vor, der ihr Verhalten als Ost¬
mark für die kommenden Tage der Ent¬
scheidung etwa regeln sollte. Ein Zusammen¬
schluß ist bis jetzt in keiner Weise erfolgt,
und in die Erscheinung ist die Zusammen¬
gehörigkeit der Ostmark lediglich durch die
in allen Teilen gleichmäßig einseyende
Reaktion gegen das vom Gewaltfrieden an¬
gekündigte Schicksal getreten, bzw. vor Be¬
kanntgabe der Friedensbedingungen durch die
Reaktion gegen die zutage tretenden Polni¬
schen Annektionsabfichien. Die treibende
Kraft, die diese Gegenwirkung auflöste, war
die Volksrntsbewegung. Auch diese Bewegung
muß verstanden werden. Als der November¬
sturm kam, als das öffentliche Interesse sich
in der Schaffung von Räten (Arbeiter- und
Soldatenräten) zersplitterte, als jeder nur
an seine Rechte, an die Rechte und Freiheiten
seiner Klasse dachte und niemand mehr an
die Freiheit des gesamten Volkes, zerfiel --
am folgenschwersten in Posen -- das feste
Gefüge des preußischen Staates, der damit
dem Zugriff des nur um das gesamte Wohl
besorgten Polnischen Nationalismus offen¬
stand. Bei dem anfänglich gänzlichen Ver¬
sagen der Regierung entschwand das Ver¬
trauen der deutschen Bevölkerung zu ihr, die
instinkiiv nach einer anderen Stütze suchte
und sie in dem Vertrauen zu sich selbst auch
fand. Die Pflicht zur Selbsterhaltung und
damit auch die Pflicht gegenüber dem ge-.
fanden deutschen Volkstum bewog die vst-
märkische Bevölkerung -- anfänglich nur die
Teile, die sich von dem Klassen- und Pariei-
taumel unberührt hielten -- aus sich selbst
ein Gegengewicht gegen ihre Vernichtung
durch die polnische Gefahr und als Ersatz
für die verfallende Staatsautorität zu schaffen.
Die Bevölkerung erwählte sich in den Volks-
rä:en eigene Vertretungen und eigene Führer,
die ihre Rechte sowohl gegen die polnische
Gefahr wie gegen die Regierung wahrnehmen
sollten. Die Volksratsbewegung schuf, von
den einzelnen kleinen und kleinsten örtlichen
Kreisen angefangen, das, was im November
in die Brüche zu gehen drohte, nämlich das
Zusammengehörigkeitsgefühl aller Deutschen
als Deutsche ohne Unterschied der Partei
und ohne Berücksichtigung der Parteiinteressen.

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Staates besonders klar, denn wenn auch
die polnischen Teilungen als völkerrechtlich
allgemein gültig nicht anerkannt werden
sollten, so hat doch auf dem Wiener Kongreß
eine völlige territoriale Neuordnung Europas
statigefunden, und in der damals betroffenen
territorialen Regelung liegt eins formelle
völkerrechtliche unbestreitbare Anerkennung
des preußischen und entsprechend öster¬
reichischen und russischen Nechistitels auf die
ehemaligen Gebiete des Königreichs Polen.
Rechtsnachfolger in den in Frage kommen¬
den Gebieten sind also lediglich Preußen,
Österreich und Rußland. Der jetzt neu
entstandene polnische Staat ist eine völlig
neue Schöpfung, die zwar unter nationalen
Aspekten Verbindungen mit der Vergangen¬
heit aufzuweisen hat, die aber rechtlich durch
keine noch so geschickte juristische Rabulistik
in Verbindung mit dem untergegangenen
Königreich Polen des 18. Jahrhunderts ge¬
setzt werden kann.

Der Zusammenschluß
der Ostmark

Am 22. d, M. ist in Berlin eine Konferenz
der ostmärkischen Abgeordneten der National-
und Preußischen Landesversammlung zu¬
sammengetreten, die in der öffentlichen Mei¬
nung als eine Art Parlament des Ostens
bezeichnet wird. In der jetzigen Zeit vvrcms-
setzungsloser Illusionen ist es jedoch ange¬
bt acht, sich darüber klar zu sein, welche
praktische Tragweite der Schaffung des Ost-
Parlaments zukommt. Es scheint fast, als
ob man an den Zusammentritt der Parla¬
mentarier des Ostens Erwartungen knüpft,
die in der Folgezeit wie üblich enttäuscht
werden müßten. Zunächst muß geklärt wer¬
den, welche reale Größe hinter dem Begriff
„Ostmark" steht. Die „Ostmark" bedeutet
in der gegenwärtigen politischen Lage die
beiden am schwersten bedrohten Provinzen
Posen und Westpreußen, dazu ganz Ost¬
preußen, dessen intakt bleiben sollende Teile
gleichfalls von der geplanten Gewaltregelung
unmittelbar getroffen werden, und Over-
sch'chien. Was diese Gebieie zurzeit eint, ist
die drohende Gefahr: eine gemeinsame Or¬
ganisation besitzt die Ostmark als solche noch

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nicht. Desgleichen liegt kein gemeinschaft¬
licher Plan vor, der ihr Verhalten als Ost¬
mark für die kommenden Tage der Ent¬
scheidung etwa regeln sollte. Ein Zusammen¬
schluß ist bis jetzt in keiner Weise erfolgt,
und in die Erscheinung ist die Zusammen¬
gehörigkeit der Ostmark lediglich durch die
in allen Teilen gleichmäßig einseyende
Reaktion gegen das vom Gewaltfrieden an¬
gekündigte Schicksal getreten, bzw. vor Be¬
kanntgabe der Friedensbedingungen durch die
Reaktion gegen die zutage tretenden Polni¬
schen Annektionsabfichien. Die treibende
Kraft, die diese Gegenwirkung auflöste, war
die Volksrntsbewegung. Auch diese Bewegung
muß verstanden werden. Als der November¬
sturm kam, als das öffentliche Interesse sich
in der Schaffung von Räten (Arbeiter- und
Soldatenräten) zersplitterte, als jeder nur
an seine Rechte, an die Rechte und Freiheiten
seiner Klasse dachte und niemand mehr an
die Freiheit des gesamten Volkes, zerfiel —
am folgenschwersten in Posen — das feste
Gefüge des preußischen Staates, der damit
dem Zugriff des nur um das gesamte Wohl
besorgten Polnischen Nationalismus offen¬
stand. Bei dem anfänglich gänzlichen Ver¬
sagen der Regierung entschwand das Ver¬
trauen der deutschen Bevölkerung zu ihr, die
instinkiiv nach einer anderen Stütze suchte
und sie in dem Vertrauen zu sich selbst auch
fand. Die Pflicht zur Selbsterhaltung und
damit auch die Pflicht gegenüber dem ge-.
fanden deutschen Volkstum bewog die vst-
märkische Bevölkerung — anfänglich nur die
Teile, die sich von dem Klassen- und Pariei-
taumel unberührt hielten — aus sich selbst
ein Gegengewicht gegen ihre Vernichtung
durch die polnische Gefahr und als Ersatz
für die verfallende Staatsautorität zu schaffen.
Die Bevölkerung erwählte sich in den Volks-
rä:en eigene Vertretungen und eigene Führer,
die ihre Rechte sowohl gegen die polnische
Gefahr wie gegen die Regierung wahrnehmen
sollten. Die Volksratsbewegung schuf, von
den einzelnen kleinen und kleinsten örtlichen
Kreisen angefangen, das, was im November
in die Brüche zu gehen drohte, nämlich das
Zusammengehörigkeitsgefühl aller Deutschen
als Deutsche ohne Unterschied der Partei
und ohne Berücksichtigung der Parteiinteressen.

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[0518] Materialien zur ostdeutschen Frage Staates besonders klar, denn wenn auch die polnischen Teilungen als völkerrechtlich allgemein gültig nicht anerkannt werden sollten, so hat doch auf dem Wiener Kongreß eine völlige territoriale Neuordnung Europas statigefunden, und in der damals betroffenen territorialen Regelung liegt eins formelle völkerrechtliche unbestreitbare Anerkennung des preußischen und entsprechend öster¬ reichischen und russischen Nechistitels auf die ehemaligen Gebiete des Königreichs Polen. Rechtsnachfolger in den in Frage kommen¬ den Gebieten sind also lediglich Preußen, Österreich und Rußland. Der jetzt neu entstandene polnische Staat ist eine völlig neue Schöpfung, die zwar unter nationalen Aspekten Verbindungen mit der Vergangen¬ heit aufzuweisen hat, die aber rechtlich durch keine noch so geschickte juristische Rabulistik in Verbindung mit dem untergegangenen Königreich Polen des 18. Jahrhunderts ge¬ setzt werden kann. Der Zusammenschluß der Ostmark Am 22. d, M. ist in Berlin eine Konferenz der ostmärkischen Abgeordneten der National- und Preußischen Landesversammlung zu¬ sammengetreten, die in der öffentlichen Mei¬ nung als eine Art Parlament des Ostens bezeichnet wird. In der jetzigen Zeit vvrcms- setzungsloser Illusionen ist es jedoch ange¬ bt acht, sich darüber klar zu sein, welche praktische Tragweite der Schaffung des Ost- Parlaments zukommt. Es scheint fast, als ob man an den Zusammentritt der Parla¬ mentarier des Ostens Erwartungen knüpft, die in der Folgezeit wie üblich enttäuscht werden müßten. Zunächst muß geklärt wer¬ den, welche reale Größe hinter dem Begriff „Ostmark" steht. Die „Ostmark" bedeutet in der gegenwärtigen politischen Lage die beiden am schwersten bedrohten Provinzen Posen und Westpreußen, dazu ganz Ost¬ preußen, dessen intakt bleiben sollende Teile gleichfalls von der geplanten Gewaltregelung unmittelbar getroffen werden, und Over- sch'chien. Was diese Gebieie zurzeit eint, ist die drohende Gefahr: eine gemeinsame Or¬ ganisation besitzt die Ostmark als solche noch nicht. Desgleichen liegt kein gemeinschaft¬ licher Plan vor, der ihr Verhalten als Ost¬ mark für die kommenden Tage der Ent¬ scheidung etwa regeln sollte. Ein Zusammen¬ schluß ist bis jetzt in keiner Weise erfolgt, und in die Erscheinung ist die Zusammen¬ gehörigkeit der Ostmark lediglich durch die in allen Teilen gleichmäßig einseyende Reaktion gegen das vom Gewaltfrieden an¬ gekündigte Schicksal getreten, bzw. vor Be¬ kanntgabe der Friedensbedingungen durch die Reaktion gegen die zutage tretenden Polni¬ schen Annektionsabfichien. Die treibende Kraft, die diese Gegenwirkung auflöste, war die Volksrntsbewegung. Auch diese Bewegung muß verstanden werden. Als der November¬ sturm kam, als das öffentliche Interesse sich in der Schaffung von Räten (Arbeiter- und Soldatenräten) zersplitterte, als jeder nur an seine Rechte, an die Rechte und Freiheiten seiner Klasse dachte und niemand mehr an die Freiheit des gesamten Volkes, zerfiel — am folgenschwersten in Posen — das feste Gefüge des preußischen Staates, der damit dem Zugriff des nur um das gesamte Wohl besorgten Polnischen Nationalismus offen¬ stand. Bei dem anfänglich gänzlichen Ver¬ sagen der Regierung entschwand das Ver¬ trauen der deutschen Bevölkerung zu ihr, die instinkiiv nach einer anderen Stütze suchte und sie in dem Vertrauen zu sich selbst auch fand. Die Pflicht zur Selbsterhaltung und damit auch die Pflicht gegenüber dem ge-. fanden deutschen Volkstum bewog die vst- märkische Bevölkerung — anfänglich nur die Teile, die sich von dem Klassen- und Pariei- taumel unberührt hielten — aus sich selbst ein Gegengewicht gegen ihre Vernichtung durch die polnische Gefahr und als Ersatz für die verfallende Staatsautorität zu schaffen. Die Bevölkerung erwählte sich in den Volks- rä:en eigene Vertretungen und eigene Führer, die ihre Rechte sowohl gegen die polnische Gefahr wie gegen die Regierung wahrnehmen sollten. Die Volksratsbewegung schuf, von den einzelnen kleinen und kleinsten örtlichen Kreisen angefangen, das, was im November in die Brüche zu gehen drohte, nämlich das Zusammengehörigkeitsgefühl aller Deutschen als Deutsche ohne Unterschied der Partei und ohne Berücksichtigung der Parteiinteressen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 78, 1919, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341909_335407/518>, abgerufen am 29.04.2024.