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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

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Weltspiegel

deutlicher werden, je mehr man sich ihnen, d. h. den eigenen Gemütszuständen
zuwendet, und da diese, wenn sie nicht in einem Objekt zu liegen scheinen, einen
Teil der Wirklichkeit bilden, so ist man naturgemäß geneigt, sie in Wirklichkeits¬
zusammenhänge hineinzustellen, aus ihnen heraus zu wünschen, ja zu wollen
und zu handeln, während sie in Wahrheit doch nicht als die wesentliche Be¬
schaffenheit des betreffenden Menschen, sondern nur als eine durch ein Musik¬
stück erzeugte zufällige Beschaffenheit gelten können. Denken wir beispielsweise
an eine sinnliche, wollüstige Musik. Für den mit wahrem Verständnis Aus¬
gerüsteten liegt dieser Affekt in ihr selbst, und er wird daher kaum in die Lage
kommen, ihn zur Wirklichkeit, etwa zu seinen eigenen Wünschen, in Beziehung
zu setzen. Dagegen findet der Hörer des anderen Typus den Affekt in sich selbst
vor, und auftauchende Bilder und Gedanken werden ihn verstärken. Während
der wahrhaft Verstehende eine sehnsuchtsvolle, süß schmachtende Musik hört,
wird in jenem das Sehnen und Schmachten zu seinem eigenen Zustand. Wünsche
werden in ihm rege, und vielleicht kommt er dazu, unter der unmittelbaren
oder dauernden Wirkung solcher Musik nach dem Prinzip zu handeln: "Erlaubt
ist, was gefällt," während ihm eine solche Handlungsweise nach seinem innersten,
eigentlichen Wollen ferngelegen hatte. Auf diese Art der Gefahr hat mit größter
Entschiedenheit Leo Tolstoj hingewiesen, vor allem in der "Kreutzersonate".
Nur wußte er nicht, daß er dem nur mit scheinbarem Musikverständnis begabten
Typus angehörte, und machte daher die Musik als solche für die verderblichen
Wirkungen verantwortlich, die er zweifellos an sich selbst erlebt hatte. Für seinen
Typus hat er nur zu sehr Recht.

Der, welchem ein geringes Matz des wirklichen Musikverständnisses ver¬
liehen ist, vermag dasselbe durch zweckentsprechende Schulung seiner Auffassungs¬
fähigkeit wesentlich zu erhöhen. Aber jeder, der sich mit Musik beschäftigt, sollte
um semel- und um anderer willen ernstlich prüfen, wie es um diese seine Auf-
kassungsfähigkeit bestellt ist, und von allerMusik, die ihm nicht wie eine Persönlich¬
feit gegenübertritt, die nicht als ein beseeltes Wesen in verständlicher Sprache zu
ihm redet, sollte er sich hörend und ausübend fernhalten.




Weltspiegel

Bon Spa bis Warschau. Über die Konferenz von Spa sind Ströme von
Tinte verschrieben worden. Gebräche hat sie in der Hauptsache: der Wiedergut¬
machung und der Festsetzung der deutschen Entschädigungssumme, nichts,
in der Entwaffnungsfrage ein Diktat, in der Kohlenfrage neue Stimulationen,
die man, da sie eine Art Kompromiß darstellen, weder in Deutschland noch in
Frankreich ohne schwerwiegende Bedenken aufgenommen hat. Es ist mir jedoch
unverständlich, wie man deutscherseits mehr erwarten konnte. Es rächt sich jetzt
eben, daß man den Versailler Vertrag unterschrieben hat. Auch die verhärtetsten
Ideologen müssen anfangen einzusehen, daß Unterschriften, wenn sie überhaupt
irgendeinen Sinn haben sollen, rechtsverbindlich sind, auch wenn! sie unter


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deutlicher werden, je mehr man sich ihnen, d. h. den eigenen Gemütszuständen
zuwendet, und da diese, wenn sie nicht in einem Objekt zu liegen scheinen, einen
Teil der Wirklichkeit bilden, so ist man naturgemäß geneigt, sie in Wirklichkeits¬
zusammenhänge hineinzustellen, aus ihnen heraus zu wünschen, ja zu wollen
und zu handeln, während sie in Wahrheit doch nicht als die wesentliche Be¬
schaffenheit des betreffenden Menschen, sondern nur als eine durch ein Musik¬
stück erzeugte zufällige Beschaffenheit gelten können. Denken wir beispielsweise
an eine sinnliche, wollüstige Musik. Für den mit wahrem Verständnis Aus¬
gerüsteten liegt dieser Affekt in ihr selbst, und er wird daher kaum in die Lage
kommen, ihn zur Wirklichkeit, etwa zu seinen eigenen Wünschen, in Beziehung
zu setzen. Dagegen findet der Hörer des anderen Typus den Affekt in sich selbst
vor, und auftauchende Bilder und Gedanken werden ihn verstärken. Während
der wahrhaft Verstehende eine sehnsuchtsvolle, süß schmachtende Musik hört,
wird in jenem das Sehnen und Schmachten zu seinem eigenen Zustand. Wünsche
werden in ihm rege, und vielleicht kommt er dazu, unter der unmittelbaren
oder dauernden Wirkung solcher Musik nach dem Prinzip zu handeln: „Erlaubt
ist, was gefällt," während ihm eine solche Handlungsweise nach seinem innersten,
eigentlichen Wollen ferngelegen hatte. Auf diese Art der Gefahr hat mit größter
Entschiedenheit Leo Tolstoj hingewiesen, vor allem in der „Kreutzersonate".
Nur wußte er nicht, daß er dem nur mit scheinbarem Musikverständnis begabten
Typus angehörte, und machte daher die Musik als solche für die verderblichen
Wirkungen verantwortlich, die er zweifellos an sich selbst erlebt hatte. Für seinen
Typus hat er nur zu sehr Recht.

Der, welchem ein geringes Matz des wirklichen Musikverständnisses ver¬
liehen ist, vermag dasselbe durch zweckentsprechende Schulung seiner Auffassungs¬
fähigkeit wesentlich zu erhöhen. Aber jeder, der sich mit Musik beschäftigt, sollte
um semel- und um anderer willen ernstlich prüfen, wie es um diese seine Auf-
kassungsfähigkeit bestellt ist, und von allerMusik, die ihm nicht wie eine Persönlich¬
feit gegenübertritt, die nicht als ein beseeltes Wesen in verständlicher Sprache zu
ihm redet, sollte er sich hörend und ausübend fernhalten.




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Bon Spa bis Warschau. Über die Konferenz von Spa sind Ströme von
Tinte verschrieben worden. Gebräche hat sie in der Hauptsache: der Wiedergut¬
machung und der Festsetzung der deutschen Entschädigungssumme, nichts,
in der Entwaffnungsfrage ein Diktat, in der Kohlenfrage neue Stimulationen,
die man, da sie eine Art Kompromiß darstellen, weder in Deutschland noch in
Frankreich ohne schwerwiegende Bedenken aufgenommen hat. Es ist mir jedoch
unverständlich, wie man deutscherseits mehr erwarten konnte. Es rächt sich jetzt
eben, daß man den Versailler Vertrag unterschrieben hat. Auch die verhärtetsten
Ideologen müssen anfangen einzusehen, daß Unterschriften, wenn sie überhaupt
irgendeinen Sinn haben sollen, rechtsverbindlich sind, auch wenn! sie unter


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[0155] Weltspiegel deutlicher werden, je mehr man sich ihnen, d. h. den eigenen Gemütszuständen zuwendet, und da diese, wenn sie nicht in einem Objekt zu liegen scheinen, einen Teil der Wirklichkeit bilden, so ist man naturgemäß geneigt, sie in Wirklichkeits¬ zusammenhänge hineinzustellen, aus ihnen heraus zu wünschen, ja zu wollen und zu handeln, während sie in Wahrheit doch nicht als die wesentliche Be¬ schaffenheit des betreffenden Menschen, sondern nur als eine durch ein Musik¬ stück erzeugte zufällige Beschaffenheit gelten können. Denken wir beispielsweise an eine sinnliche, wollüstige Musik. Für den mit wahrem Verständnis Aus¬ gerüsteten liegt dieser Affekt in ihr selbst, und er wird daher kaum in die Lage kommen, ihn zur Wirklichkeit, etwa zu seinen eigenen Wünschen, in Beziehung zu setzen. Dagegen findet der Hörer des anderen Typus den Affekt in sich selbst vor, und auftauchende Bilder und Gedanken werden ihn verstärken. Während der wahrhaft Verstehende eine sehnsuchtsvolle, süß schmachtende Musik hört, wird in jenem das Sehnen und Schmachten zu seinem eigenen Zustand. Wünsche werden in ihm rege, und vielleicht kommt er dazu, unter der unmittelbaren oder dauernden Wirkung solcher Musik nach dem Prinzip zu handeln: „Erlaubt ist, was gefällt," während ihm eine solche Handlungsweise nach seinem innersten, eigentlichen Wollen ferngelegen hatte. Auf diese Art der Gefahr hat mit größter Entschiedenheit Leo Tolstoj hingewiesen, vor allem in der „Kreutzersonate". Nur wußte er nicht, daß er dem nur mit scheinbarem Musikverständnis begabten Typus angehörte, und machte daher die Musik als solche für die verderblichen Wirkungen verantwortlich, die er zweifellos an sich selbst erlebt hatte. Für seinen Typus hat er nur zu sehr Recht. Der, welchem ein geringes Matz des wirklichen Musikverständnisses ver¬ liehen ist, vermag dasselbe durch zweckentsprechende Schulung seiner Auffassungs¬ fähigkeit wesentlich zu erhöhen. Aber jeder, der sich mit Musik beschäftigt, sollte um semel- und um anderer willen ernstlich prüfen, wie es um diese seine Auf- kassungsfähigkeit bestellt ist, und von allerMusik, die ihm nicht wie eine Persönlich¬ feit gegenübertritt, die nicht als ein beseeltes Wesen in verständlicher Sprache zu ihm redet, sollte er sich hörend und ausübend fernhalten. Weltspiegel Bon Spa bis Warschau. Über die Konferenz von Spa sind Ströme von Tinte verschrieben worden. Gebräche hat sie in der Hauptsache: der Wiedergut¬ machung und der Festsetzung der deutschen Entschädigungssumme, nichts, in der Entwaffnungsfrage ein Diktat, in der Kohlenfrage neue Stimulationen, die man, da sie eine Art Kompromiß darstellen, weder in Deutschland noch in Frankreich ohne schwerwiegende Bedenken aufgenommen hat. Es ist mir jedoch unverständlich, wie man deutscherseits mehr erwarten konnte. Es rächt sich jetzt eben, daß man den Versailler Vertrag unterschrieben hat. Auch die verhärtetsten Ideologen müssen anfangen einzusehen, daß Unterschriften, wenn sie überhaupt irgendeinen Sinn haben sollen, rechtsverbindlich sind, auch wenn! sie unter

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/155>, abgerufen am 05.05.2024.