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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

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Das Problem des praktischen Bolschewismus

Die Unterproduktion ist also die materielle Vorbedingung des Bolsche¬
wismus. Die formale Vorbedingung des Bolschewismus bestand aber darin,
daß man versuchte, die Unterproduktion nach sozialistischen Methoden zu be¬
kämpfen. Diese beiden Vorbedingungen hat aber zum großen Teile schon
das Zarenregime geschaffen.


III.

Durch die Unterproduktion und die zwangswirtschaftliche Bekämpfung
ihrer Folgen war das Zarentum schon nahe an den Bolschewismus gerückt.
Sie waren jedoch noch durch eine politische Zwischenwand getrennt: durch das
staatliche Prinzip des Zarentums gegenüber den Klassengegensätzen.

Diese Zwischenwand zertrümmerte die russische Demokratie mit ihrer
Revolution. Mit dem Sturze des Zarentums verschwand in Nußland jede
Macht, die über den Klassengegensätzen stand. Denn eine Macht war das Zaren¬
tum noch immerhin gewesen durch seinen Regierungsapparat, durch die Armee
und durch die Tradition. Zwar hatte die Demokratie gehofft, als Trägerin der
Idee des Kompromisses zwischen Individualismus und Sozialismus, als die
Partei der politischen Mitte, die politische Führung im neuen Rußland über¬
nehmen zu können. Doch da hatte sie die Bedeutung der Idee gegenüber tat¬
sächlicher Macht entschieden überschätzt.

Zwar war auch die russische Demokratie zunächst nicht ganz machtlos.
Das ganze Genossenschaftswesen, die großen Städte- und Landschaftenverbände,
wie auch zum großen Teil die Selbstverwaltungsorganisationen waren meist
demokratisch orientiert. Desgleichen war das Heer durch die erdrückende Ma¬
jorität der Reserveoffiziere schon stark demokratisiert. In der Reichsduma war
der demokratische Gedanke vorherrschend. Das waren immerhin weit verzweigte
einflußreiche Organisationen, die eine gewisse reale Macht darstellten? an diese
Organisationen hätte die staatliche Aufbautätigkeit sich anschließen können.

Doch die russische Demokratie schätzte die organisierende Kraft der poli¬
tischen Idee so hoch ein, daß sie diese schon vorhandenen Organisationen absichtlich
zertrümmerte, um dann den Versuch zu machen, sie auf Grund des demo¬
kratischen Prinzips des allgemeinen Stimmrechts neu zu organisieren. In der
Armee wurden die Offiziere ihrer Autorität entkleidet; die Soldaten sollten
sich unter selbstgewählter Führerschaft organisieren. In allen Selbstverwaltungen
sollten Neuwahlen auf Grund des allgemeinen Stimmrechts erfolgen; an die
Stelle der ernannten Bureaukraten sollte eine gewühlte'Beamtenschaft treten.
Daß mit der Erweiterung der Rechte vieler Bevölkerungskreise auch eine Neu¬
regelung der Pflichten Hand in Hand zu gehen hätte, daß letztere aber längere
Vorbereitung beanspruchte, daran dachte die Demokratie nicht in ihrem Taumel
des allgemeinen Stimmrechts.

Damit war dem Klassenkampfe Tür und Tor geöffnet. Es gab keine
Macht, keine Institution mehr, die über den Klassengegensätzen stände.

Diese absichtlich geschaffene Anarchie nutzten die linksradikalen Elemente
für ihre Zwecke sehr geschickt aus, indem sie neben dem Organisationsprinzip
der politischen Idee das bei weitem praktischere Prinzip der Berufsinteressen
aufstellten. Die Arbeiter eines jeden Betriebes wählten zur Vertretung ihrer
beruflichen Interessen einen Rat von Vertrauensmännern, dessen Beschlüsse


Das Problem des praktischen Bolschewismus

Die Unterproduktion ist also die materielle Vorbedingung des Bolsche¬
wismus. Die formale Vorbedingung des Bolschewismus bestand aber darin,
daß man versuchte, die Unterproduktion nach sozialistischen Methoden zu be¬
kämpfen. Diese beiden Vorbedingungen hat aber zum großen Teile schon
das Zarenregime geschaffen.


III.

Durch die Unterproduktion und die zwangswirtschaftliche Bekämpfung
ihrer Folgen war das Zarentum schon nahe an den Bolschewismus gerückt.
Sie waren jedoch noch durch eine politische Zwischenwand getrennt: durch das
staatliche Prinzip des Zarentums gegenüber den Klassengegensätzen.

Diese Zwischenwand zertrümmerte die russische Demokratie mit ihrer
Revolution. Mit dem Sturze des Zarentums verschwand in Nußland jede
Macht, die über den Klassengegensätzen stand. Denn eine Macht war das Zaren¬
tum noch immerhin gewesen durch seinen Regierungsapparat, durch die Armee
und durch die Tradition. Zwar hatte die Demokratie gehofft, als Trägerin der
Idee des Kompromisses zwischen Individualismus und Sozialismus, als die
Partei der politischen Mitte, die politische Führung im neuen Rußland über¬
nehmen zu können. Doch da hatte sie die Bedeutung der Idee gegenüber tat¬
sächlicher Macht entschieden überschätzt.

Zwar war auch die russische Demokratie zunächst nicht ganz machtlos.
Das ganze Genossenschaftswesen, die großen Städte- und Landschaftenverbände,
wie auch zum großen Teil die Selbstverwaltungsorganisationen waren meist
demokratisch orientiert. Desgleichen war das Heer durch die erdrückende Ma¬
jorität der Reserveoffiziere schon stark demokratisiert. In der Reichsduma war
der demokratische Gedanke vorherrschend. Das waren immerhin weit verzweigte
einflußreiche Organisationen, die eine gewisse reale Macht darstellten? an diese
Organisationen hätte die staatliche Aufbautätigkeit sich anschließen können.

Doch die russische Demokratie schätzte die organisierende Kraft der poli¬
tischen Idee so hoch ein, daß sie diese schon vorhandenen Organisationen absichtlich
zertrümmerte, um dann den Versuch zu machen, sie auf Grund des demo¬
kratischen Prinzips des allgemeinen Stimmrechts neu zu organisieren. In der
Armee wurden die Offiziere ihrer Autorität entkleidet; die Soldaten sollten
sich unter selbstgewählter Führerschaft organisieren. In allen Selbstverwaltungen
sollten Neuwahlen auf Grund des allgemeinen Stimmrechts erfolgen; an die
Stelle der ernannten Bureaukraten sollte eine gewühlte'Beamtenschaft treten.
Daß mit der Erweiterung der Rechte vieler Bevölkerungskreise auch eine Neu¬
regelung der Pflichten Hand in Hand zu gehen hätte, daß letztere aber längere
Vorbereitung beanspruchte, daran dachte die Demokratie nicht in ihrem Taumel
des allgemeinen Stimmrechts.

Damit war dem Klassenkampfe Tür und Tor geöffnet. Es gab keine
Macht, keine Institution mehr, die über den Klassengegensätzen stände.

Diese absichtlich geschaffene Anarchie nutzten die linksradikalen Elemente
für ihre Zwecke sehr geschickt aus, indem sie neben dem Organisationsprinzip
der politischen Idee das bei weitem praktischere Prinzip der Berufsinteressen
aufstellten. Die Arbeiter eines jeden Betriebes wählten zur Vertretung ihrer
beruflichen Interessen einen Rat von Vertrauensmännern, dessen Beschlüsse


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[0300] Das Problem des praktischen Bolschewismus Die Unterproduktion ist also die materielle Vorbedingung des Bolsche¬ wismus. Die formale Vorbedingung des Bolschewismus bestand aber darin, daß man versuchte, die Unterproduktion nach sozialistischen Methoden zu be¬ kämpfen. Diese beiden Vorbedingungen hat aber zum großen Teile schon das Zarenregime geschaffen. III. Durch die Unterproduktion und die zwangswirtschaftliche Bekämpfung ihrer Folgen war das Zarentum schon nahe an den Bolschewismus gerückt. Sie waren jedoch noch durch eine politische Zwischenwand getrennt: durch das staatliche Prinzip des Zarentums gegenüber den Klassengegensätzen. Diese Zwischenwand zertrümmerte die russische Demokratie mit ihrer Revolution. Mit dem Sturze des Zarentums verschwand in Nußland jede Macht, die über den Klassengegensätzen stand. Denn eine Macht war das Zaren¬ tum noch immerhin gewesen durch seinen Regierungsapparat, durch die Armee und durch die Tradition. Zwar hatte die Demokratie gehofft, als Trägerin der Idee des Kompromisses zwischen Individualismus und Sozialismus, als die Partei der politischen Mitte, die politische Führung im neuen Rußland über¬ nehmen zu können. Doch da hatte sie die Bedeutung der Idee gegenüber tat¬ sächlicher Macht entschieden überschätzt. Zwar war auch die russische Demokratie zunächst nicht ganz machtlos. Das ganze Genossenschaftswesen, die großen Städte- und Landschaftenverbände, wie auch zum großen Teil die Selbstverwaltungsorganisationen waren meist demokratisch orientiert. Desgleichen war das Heer durch die erdrückende Ma¬ jorität der Reserveoffiziere schon stark demokratisiert. In der Reichsduma war der demokratische Gedanke vorherrschend. Das waren immerhin weit verzweigte einflußreiche Organisationen, die eine gewisse reale Macht darstellten? an diese Organisationen hätte die staatliche Aufbautätigkeit sich anschließen können. Doch die russische Demokratie schätzte die organisierende Kraft der poli¬ tischen Idee so hoch ein, daß sie diese schon vorhandenen Organisationen absichtlich zertrümmerte, um dann den Versuch zu machen, sie auf Grund des demo¬ kratischen Prinzips des allgemeinen Stimmrechts neu zu organisieren. In der Armee wurden die Offiziere ihrer Autorität entkleidet; die Soldaten sollten sich unter selbstgewählter Führerschaft organisieren. In allen Selbstverwaltungen sollten Neuwahlen auf Grund des allgemeinen Stimmrechts erfolgen; an die Stelle der ernannten Bureaukraten sollte eine gewühlte'Beamtenschaft treten. Daß mit der Erweiterung der Rechte vieler Bevölkerungskreise auch eine Neu¬ regelung der Pflichten Hand in Hand zu gehen hätte, daß letztere aber längere Vorbereitung beanspruchte, daran dachte die Demokratie nicht in ihrem Taumel des allgemeinen Stimmrechts. Damit war dem Klassenkampfe Tür und Tor geöffnet. Es gab keine Macht, keine Institution mehr, die über den Klassengegensätzen stände. Diese absichtlich geschaffene Anarchie nutzten die linksradikalen Elemente für ihre Zwecke sehr geschickt aus, indem sie neben dem Organisationsprinzip der politischen Idee das bei weitem praktischere Prinzip der Berufsinteressen aufstellten. Die Arbeiter eines jeden Betriebes wählten zur Vertretung ihrer beruflichen Interessen einen Rat von Vertrauensmännern, dessen Beschlüsse

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/300>, abgerufen am 05.05.2024.