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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

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Das Problem des praktischen Bolschewismus

Allerdings befand sich der Staat in einer Zwangslage. Er hatte sich in
diese Lage dadurch versetzt, daß er jede Privatinitiative unterband. Aus den
riesigen öffentlichen Arbeiten wurde jeder Individualismus prinzipiell aus¬
geschlossen. Die Verpflegung der Flüchtlinge, der Arbeitslosen, der Soldaten¬
familien übernahm der Staat. Neben der ungeheuren Kriegslast hatte er sich
dadurch, daß er die individualistischen Methoden aufgab, eine Riesenaufgabe
aufgebürdet, zu deren Erledigung er weder die Mittel, noch die geeigneten
Arbeitskräfte hatte. Um die Millionen seiner neuen Pfleglinge vor dem Hunger¬
tode schützen zu können, war er eben gezwungen, aus der Landwirtschaft das
letzte herauszuholen. Die Folgen waren doppelter Art:

1. der Landwirtschaft wurde vom Staate das Raubsystem aufgezwungen,
damit aber jede Schaffensfreudigkeit des Landwirth vernichtet,
2. die Nichtproduzierenden wurden von der Staatsfürsorge immer ab¬
hängiger; die Staatsfunktionen konzentrierter sich immer mehr auf
die Fürsorge für die nichtproduzierenden Klassen.

Damit hatte aber das Zarenregime schon seine bisherigen Grundlagen
verlassen und sich hart an die Grenze des Hungersozialismus begeben. Die
wirtschaftliche Grundlage der Autokratie war der Individualismus. Die Haupt¬
frage des wirtschaftlichen Individualismus heißt: wie steigere ich die Pro¬
duktivität der Arbeit? Daran dachte das Zarenregime nicht mehr. Sein Haupt¬
problem war jetzt: wie erfasse und verleite ich die noch vorhandenen Vorräte?
Das ist aber ein Bestandteil des wichtigsten Problems des Sozialismus. Denn
die Hauptsorge des Sozialismus gilt ja nicht der Steigerung, sondern der Ver¬
teilung des Arbeitsertrages.

Das Zarenregime, von den Folgen der Unterproduktion gezwungen,
hatte also schon die Fragestellung und die Methoden des Sozialismus sich an¬
geeignet. Vom letzteren trennte es nur noch die politische Form: die Gesetz¬
gebung war noch nicht ganz demokratisch. Die politische Form des alten Re¬
gimes mußte aber zerschellen, sobald das Zarentum sich als unfähig erwies,
den neu übernommenen, sozialistisch gearteten Funktionen gerecht zu werden,
d. h. das russische Wirtschaftsleben unter Ausschluß des wirtschaftlichen Indi¬
vidualismus immer mehr zu verstaatlichen. Formell zerbrach das Zarentum
in der Februarrevolution 1917. Tatsächlich aber hatte Nicolaus II. schon damals
sein Szepter der Opposition übergeben, als er den Versuch billigte, die Folgen
der Unterproduktion durch sozialistische Methoden zu überwinden unter Aus¬
schluß der individualistischen Hilfsmittel.

Eigentlich war es ja keine Revolution, an der das Zarentum zugrunde
ging. Es stürzte von selbst, weil es seinen Schwerpunkt weit über seine Grund¬
fläche, den Individualismus, hinausgeschoben hatte. Dabei gab es keine Be¬
völkerungsklasse, die das Zarentum hätte stützen wollen. Die Nichtproduzierenden
waren mit ihm unzufrieden, weil es doch nicht vermocht hatte, die Not von ihnen
fern zu halten. Und die individualistische Landwirtschaft, die einzige tragfähige
Basis einer Regierung Rußlands, war durch den schlechtberatensten aller Kaiser
in dumpfe, unbewußte Opposition getrieben, weil sie die negative und einseitige
Zwangswirtschaft als ihre Knechtung zugunsten der nichtproduzierenden
Klassen empfand.


Das Problem des praktischen Bolschewismus

Allerdings befand sich der Staat in einer Zwangslage. Er hatte sich in
diese Lage dadurch versetzt, daß er jede Privatinitiative unterband. Aus den
riesigen öffentlichen Arbeiten wurde jeder Individualismus prinzipiell aus¬
geschlossen. Die Verpflegung der Flüchtlinge, der Arbeitslosen, der Soldaten¬
familien übernahm der Staat. Neben der ungeheuren Kriegslast hatte er sich
dadurch, daß er die individualistischen Methoden aufgab, eine Riesenaufgabe
aufgebürdet, zu deren Erledigung er weder die Mittel, noch die geeigneten
Arbeitskräfte hatte. Um die Millionen seiner neuen Pfleglinge vor dem Hunger¬
tode schützen zu können, war er eben gezwungen, aus der Landwirtschaft das
letzte herauszuholen. Die Folgen waren doppelter Art:

1. der Landwirtschaft wurde vom Staate das Raubsystem aufgezwungen,
damit aber jede Schaffensfreudigkeit des Landwirth vernichtet,
2. die Nichtproduzierenden wurden von der Staatsfürsorge immer ab¬
hängiger; die Staatsfunktionen konzentrierter sich immer mehr auf
die Fürsorge für die nichtproduzierenden Klassen.

Damit hatte aber das Zarenregime schon seine bisherigen Grundlagen
verlassen und sich hart an die Grenze des Hungersozialismus begeben. Die
wirtschaftliche Grundlage der Autokratie war der Individualismus. Die Haupt¬
frage des wirtschaftlichen Individualismus heißt: wie steigere ich die Pro¬
duktivität der Arbeit? Daran dachte das Zarenregime nicht mehr. Sein Haupt¬
problem war jetzt: wie erfasse und verleite ich die noch vorhandenen Vorräte?
Das ist aber ein Bestandteil des wichtigsten Problems des Sozialismus. Denn
die Hauptsorge des Sozialismus gilt ja nicht der Steigerung, sondern der Ver¬
teilung des Arbeitsertrages.

Das Zarenregime, von den Folgen der Unterproduktion gezwungen,
hatte also schon die Fragestellung und die Methoden des Sozialismus sich an¬
geeignet. Vom letzteren trennte es nur noch die politische Form: die Gesetz¬
gebung war noch nicht ganz demokratisch. Die politische Form des alten Re¬
gimes mußte aber zerschellen, sobald das Zarentum sich als unfähig erwies,
den neu übernommenen, sozialistisch gearteten Funktionen gerecht zu werden,
d. h. das russische Wirtschaftsleben unter Ausschluß des wirtschaftlichen Indi¬
vidualismus immer mehr zu verstaatlichen. Formell zerbrach das Zarentum
in der Februarrevolution 1917. Tatsächlich aber hatte Nicolaus II. schon damals
sein Szepter der Opposition übergeben, als er den Versuch billigte, die Folgen
der Unterproduktion durch sozialistische Methoden zu überwinden unter Aus¬
schluß der individualistischen Hilfsmittel.

Eigentlich war es ja keine Revolution, an der das Zarentum zugrunde
ging. Es stürzte von selbst, weil es seinen Schwerpunkt weit über seine Grund¬
fläche, den Individualismus, hinausgeschoben hatte. Dabei gab es keine Be¬
völkerungsklasse, die das Zarentum hätte stützen wollen. Die Nichtproduzierenden
waren mit ihm unzufrieden, weil es doch nicht vermocht hatte, die Not von ihnen
fern zu halten. Und die individualistische Landwirtschaft, die einzige tragfähige
Basis einer Regierung Rußlands, war durch den schlechtberatensten aller Kaiser
in dumpfe, unbewußte Opposition getrieben, weil sie die negative und einseitige
Zwangswirtschaft als ihre Knechtung zugunsten der nichtproduzierenden
Klassen empfand.


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[0299] Das Problem des praktischen Bolschewismus Allerdings befand sich der Staat in einer Zwangslage. Er hatte sich in diese Lage dadurch versetzt, daß er jede Privatinitiative unterband. Aus den riesigen öffentlichen Arbeiten wurde jeder Individualismus prinzipiell aus¬ geschlossen. Die Verpflegung der Flüchtlinge, der Arbeitslosen, der Soldaten¬ familien übernahm der Staat. Neben der ungeheuren Kriegslast hatte er sich dadurch, daß er die individualistischen Methoden aufgab, eine Riesenaufgabe aufgebürdet, zu deren Erledigung er weder die Mittel, noch die geeigneten Arbeitskräfte hatte. Um die Millionen seiner neuen Pfleglinge vor dem Hunger¬ tode schützen zu können, war er eben gezwungen, aus der Landwirtschaft das letzte herauszuholen. Die Folgen waren doppelter Art: 1. der Landwirtschaft wurde vom Staate das Raubsystem aufgezwungen, damit aber jede Schaffensfreudigkeit des Landwirth vernichtet, 2. die Nichtproduzierenden wurden von der Staatsfürsorge immer ab¬ hängiger; die Staatsfunktionen konzentrierter sich immer mehr auf die Fürsorge für die nichtproduzierenden Klassen. Damit hatte aber das Zarenregime schon seine bisherigen Grundlagen verlassen und sich hart an die Grenze des Hungersozialismus begeben. Die wirtschaftliche Grundlage der Autokratie war der Individualismus. Die Haupt¬ frage des wirtschaftlichen Individualismus heißt: wie steigere ich die Pro¬ duktivität der Arbeit? Daran dachte das Zarenregime nicht mehr. Sein Haupt¬ problem war jetzt: wie erfasse und verleite ich die noch vorhandenen Vorräte? Das ist aber ein Bestandteil des wichtigsten Problems des Sozialismus. Denn die Hauptsorge des Sozialismus gilt ja nicht der Steigerung, sondern der Ver¬ teilung des Arbeitsertrages. Das Zarenregime, von den Folgen der Unterproduktion gezwungen, hatte also schon die Fragestellung und die Methoden des Sozialismus sich an¬ geeignet. Vom letzteren trennte es nur noch die politische Form: die Gesetz¬ gebung war noch nicht ganz demokratisch. Die politische Form des alten Re¬ gimes mußte aber zerschellen, sobald das Zarentum sich als unfähig erwies, den neu übernommenen, sozialistisch gearteten Funktionen gerecht zu werden, d. h. das russische Wirtschaftsleben unter Ausschluß des wirtschaftlichen Indi¬ vidualismus immer mehr zu verstaatlichen. Formell zerbrach das Zarentum in der Februarrevolution 1917. Tatsächlich aber hatte Nicolaus II. schon damals sein Szepter der Opposition übergeben, als er den Versuch billigte, die Folgen der Unterproduktion durch sozialistische Methoden zu überwinden unter Aus¬ schluß der individualistischen Hilfsmittel. Eigentlich war es ja keine Revolution, an der das Zarentum zugrunde ging. Es stürzte von selbst, weil es seinen Schwerpunkt weit über seine Grund¬ fläche, den Individualismus, hinausgeschoben hatte. Dabei gab es keine Be¬ völkerungsklasse, die das Zarentum hätte stützen wollen. Die Nichtproduzierenden waren mit ihm unzufrieden, weil es doch nicht vermocht hatte, die Not von ihnen fern zu halten. Und die individualistische Landwirtschaft, die einzige tragfähige Basis einer Regierung Rußlands, war durch den schlechtberatensten aller Kaiser in dumpfe, unbewußte Opposition getrieben, weil sie die negative und einseitige Zwangswirtschaft als ihre Knechtung zugunsten der nichtproduzierenden Klassen empfand.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/299>, abgerufen am 19.05.2024.