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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr.

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Offenherzigkeiten

nur noch die Sprößlinge politisch zuverlässiger Leute lesen lernen. Für die
Einheitlichkeit der politischen Überzeugung wäre es allerdings besser, wenn über¬
haupt niemand mehr lesen und Gift aus den lebensgefährlichen Zeitungen ziehen
könnte; da aber die Setzer ihr Brot nicht verlieren wollen, ist, zum mindesten für
die ersten Jahrzehnte der bevorstehenden Diktatur, ein gewisses Entgegenkommen
nötig. Man kann dafür den Schreibunterricht abschaffen: sobald keine Schriftsteller
mehr gezüchtet werden (weder rechts- noch linksgerichtete, denn bedenklich sind sie
alle), verschwinden die Zeitungen von selbst. Die Journalisten ihrerseits werden mit
einem solchen Gesetze einverstanden sein: es befreit sie von einem immer lästigeren
Wettbewerb, der einzig und allein daraus entstanden ist, daß jeder Mensch schreiben
lernt und nun natürlich auch schreiben will.

Die Tat der Setzer von Graz ist eine fruchtbringende Tat, unübersehbar in
ihren gesegneten Auswirkungen. (Das modische Wort "Auswirkungen" paßt hier
einmal ausnahmsweise gut her. Wirken wir noch lange so weiter, dann hat die
Demokratie bald ausgewirkt.)


Die Schaubühne als moralische Anstalt

Zwischen den, Theaterdirektor Robert-Kovacs aus Ungarland und dem Präsi¬
denten Rickelt von der Schauspielergenossenschaft hat sich ein heftiger, ins Gerichtliche
ausartender Streit entsponnen, über dessen Eindruck auf die Geruchsnerven man im
Rabbi- und Mönchgedicht des Sachverständigen Heinrich Heine nachlesen kann.
Kovacs hat, und das werfen ihm -- selbstverständlich nur aus überirdisch streng
moralischen, nicht etwa aus unterirdischeren Gründen -- seine Moabiter Kritiker
vor, u. a. Wedekind dadurch geadelt und künstlerisch durchleuchtet, daß er in der
"Franziska" die Schauspielerin Wojan ungemein fortgeschritten entschleiert auftreten
ließ. Aber für die künstlerische Notwendigkeit des Verzichts auf Kleidung sind
Fachmänner wie der andere Heine, die Exzellenz a. D., und Herr Theodor Wolff
eingetreten. Und der liberal denkende Kovacs hat den kleinbürgerlich sozialistischen
Cato Rickelt niedergerungen. Jede Kultur war verfault, sobald Weiber nackt die
Bühne betraten, und wenn Kovacs der Verfaultheit unserer Kultur hiermit den
Spiegel vorhält, so tut er nur seine literarische Pflicht. Daß ihm dafür höhere Ein¬
trittspreise bezahlt werden, ist eine nicht unerfreuliche, das Zeitbild wertvoll
ergänzende Nebenerscheinung.

Gleich ihm bemühen sich strebend, das soll ehrlich anerkannt werden, die übrigen
Bühnenleiter der Reichshauptstadt. Beispiel: "Eine stark liebebedürftige Herzogin
entdeckt, daß die Geliebte eines Landjunkers, der ihr nicht gleichgültig ist, eine
verblüffende Ähnlichkeit mit ihr besitzt. Um ihn auf die Probe zu stellen und zugleich
die Wonnen eines Stelldicheins mit ihm zu kosten, spielt sie auf eine Nacht die
Tänzerin. Und da er seine Sache so gut macht, avanciert er zum Schluß zum
Leutnant der "Leib"garde, was so viel bedeutet, wie -- na, Sie wissen
ja schon." Garstig um das Augenzwinkern des Kritikers! Die Grimasse
verdirbt den Text. Die beiden Bühnen, um die es sich hier handelt,
Tribüne und Thaliatheater, beides Monumente von unserer Zeiten seelischer Größe,
beides Pioniere der vielerwähnten inneren Erneuerung, sträuben sich mit Fug
dagegen, durch die Lustbarkeitssteuer zu bloßen Vergnügungsstätten herabgedrückt
zu werden. Ihnen geht es gewiß nicht ums Geld. Der bankerotten Gemeinde, der
wir alle ausschweifend zinsen, und die die Tausendmarkscheine hernehmen
muß, wo sie sie bekommt, werden auch die Theaterdirektoren ihre Hilfe nicht ver¬
weigern. Aber sie sträuben sich dagegen, ihre Anstalten auf eine Stufe mit Kinos,
Varietes, Lunaparks und Tanzdielen gestellt zu sehen, sie, in deren Hand der
modernen Menschheit Würde gegeben ist und die das Diagramm der heutigen
deutschen Weltseele aufnehmen. Das Theater gehört, auch wenn man von Rein¬
hardts großem Schauspielhause absieht, ganz und gar nicht zu den Lustbarkeiten. Es
sollte dem Institut für Psychologie an der Berliner Universität unterstehen,- weit
wichtiger und lehrreicher als für uns sind seine Leistungen für zukünftige Sitten-
Philosophen.




Offenherzigkeiten

nur noch die Sprößlinge politisch zuverlässiger Leute lesen lernen. Für die
Einheitlichkeit der politischen Überzeugung wäre es allerdings besser, wenn über¬
haupt niemand mehr lesen und Gift aus den lebensgefährlichen Zeitungen ziehen
könnte; da aber die Setzer ihr Brot nicht verlieren wollen, ist, zum mindesten für
die ersten Jahrzehnte der bevorstehenden Diktatur, ein gewisses Entgegenkommen
nötig. Man kann dafür den Schreibunterricht abschaffen: sobald keine Schriftsteller
mehr gezüchtet werden (weder rechts- noch linksgerichtete, denn bedenklich sind sie
alle), verschwinden die Zeitungen von selbst. Die Journalisten ihrerseits werden mit
einem solchen Gesetze einverstanden sein: es befreit sie von einem immer lästigeren
Wettbewerb, der einzig und allein daraus entstanden ist, daß jeder Mensch schreiben
lernt und nun natürlich auch schreiben will.

Die Tat der Setzer von Graz ist eine fruchtbringende Tat, unübersehbar in
ihren gesegneten Auswirkungen. (Das modische Wort „Auswirkungen" paßt hier
einmal ausnahmsweise gut her. Wirken wir noch lange so weiter, dann hat die
Demokratie bald ausgewirkt.)


Die Schaubühne als moralische Anstalt

Zwischen den, Theaterdirektor Robert-Kovacs aus Ungarland und dem Präsi¬
denten Rickelt von der Schauspielergenossenschaft hat sich ein heftiger, ins Gerichtliche
ausartender Streit entsponnen, über dessen Eindruck auf die Geruchsnerven man im
Rabbi- und Mönchgedicht des Sachverständigen Heinrich Heine nachlesen kann.
Kovacs hat, und das werfen ihm — selbstverständlich nur aus überirdisch streng
moralischen, nicht etwa aus unterirdischeren Gründen — seine Moabiter Kritiker
vor, u. a. Wedekind dadurch geadelt und künstlerisch durchleuchtet, daß er in der
„Franziska" die Schauspielerin Wojan ungemein fortgeschritten entschleiert auftreten
ließ. Aber für die künstlerische Notwendigkeit des Verzichts auf Kleidung sind
Fachmänner wie der andere Heine, die Exzellenz a. D., und Herr Theodor Wolff
eingetreten. Und der liberal denkende Kovacs hat den kleinbürgerlich sozialistischen
Cato Rickelt niedergerungen. Jede Kultur war verfault, sobald Weiber nackt die
Bühne betraten, und wenn Kovacs der Verfaultheit unserer Kultur hiermit den
Spiegel vorhält, so tut er nur seine literarische Pflicht. Daß ihm dafür höhere Ein¬
trittspreise bezahlt werden, ist eine nicht unerfreuliche, das Zeitbild wertvoll
ergänzende Nebenerscheinung.

Gleich ihm bemühen sich strebend, das soll ehrlich anerkannt werden, die übrigen
Bühnenleiter der Reichshauptstadt. Beispiel: „Eine stark liebebedürftige Herzogin
entdeckt, daß die Geliebte eines Landjunkers, der ihr nicht gleichgültig ist, eine
verblüffende Ähnlichkeit mit ihr besitzt. Um ihn auf die Probe zu stellen und zugleich
die Wonnen eines Stelldicheins mit ihm zu kosten, spielt sie auf eine Nacht die
Tänzerin. Und da er seine Sache so gut macht, avanciert er zum Schluß zum
Leutnant der „Leib"garde, was so viel bedeutet, wie — na, Sie wissen
ja schon." Garstig um das Augenzwinkern des Kritikers! Die Grimasse
verdirbt den Text. Die beiden Bühnen, um die es sich hier handelt,
Tribüne und Thaliatheater, beides Monumente von unserer Zeiten seelischer Größe,
beides Pioniere der vielerwähnten inneren Erneuerung, sträuben sich mit Fug
dagegen, durch die Lustbarkeitssteuer zu bloßen Vergnügungsstätten herabgedrückt
zu werden. Ihnen geht es gewiß nicht ums Geld. Der bankerotten Gemeinde, der
wir alle ausschweifend zinsen, und die die Tausendmarkscheine hernehmen
muß, wo sie sie bekommt, werden auch die Theaterdirektoren ihre Hilfe nicht ver¬
weigern. Aber sie sträuben sich dagegen, ihre Anstalten auf eine Stufe mit Kinos,
Varietes, Lunaparks und Tanzdielen gestellt zu sehen, sie, in deren Hand der
modernen Menschheit Würde gegeben ist und die das Diagramm der heutigen
deutschen Weltseele aufnehmen. Das Theater gehört, auch wenn man von Rein¬
hardts großem Schauspielhause absieht, ganz und gar nicht zu den Lustbarkeiten. Es
sollte dem Institut für Psychologie an der Berliner Universität unterstehen,- weit
wichtiger und lehrreicher als für uns sind seine Leistungen für zukünftige Sitten-
Philosophen.




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[0038] Offenherzigkeiten nur noch die Sprößlinge politisch zuverlässiger Leute lesen lernen. Für die Einheitlichkeit der politischen Überzeugung wäre es allerdings besser, wenn über¬ haupt niemand mehr lesen und Gift aus den lebensgefährlichen Zeitungen ziehen könnte; da aber die Setzer ihr Brot nicht verlieren wollen, ist, zum mindesten für die ersten Jahrzehnte der bevorstehenden Diktatur, ein gewisses Entgegenkommen nötig. Man kann dafür den Schreibunterricht abschaffen: sobald keine Schriftsteller mehr gezüchtet werden (weder rechts- noch linksgerichtete, denn bedenklich sind sie alle), verschwinden die Zeitungen von selbst. Die Journalisten ihrerseits werden mit einem solchen Gesetze einverstanden sein: es befreit sie von einem immer lästigeren Wettbewerb, der einzig und allein daraus entstanden ist, daß jeder Mensch schreiben lernt und nun natürlich auch schreiben will. Die Tat der Setzer von Graz ist eine fruchtbringende Tat, unübersehbar in ihren gesegneten Auswirkungen. (Das modische Wort „Auswirkungen" paßt hier einmal ausnahmsweise gut her. Wirken wir noch lange so weiter, dann hat die Demokratie bald ausgewirkt.) Die Schaubühne als moralische Anstalt Zwischen den, Theaterdirektor Robert-Kovacs aus Ungarland und dem Präsi¬ denten Rickelt von der Schauspielergenossenschaft hat sich ein heftiger, ins Gerichtliche ausartender Streit entsponnen, über dessen Eindruck auf die Geruchsnerven man im Rabbi- und Mönchgedicht des Sachverständigen Heinrich Heine nachlesen kann. Kovacs hat, und das werfen ihm — selbstverständlich nur aus überirdisch streng moralischen, nicht etwa aus unterirdischeren Gründen — seine Moabiter Kritiker vor, u. a. Wedekind dadurch geadelt und künstlerisch durchleuchtet, daß er in der „Franziska" die Schauspielerin Wojan ungemein fortgeschritten entschleiert auftreten ließ. Aber für die künstlerische Notwendigkeit des Verzichts auf Kleidung sind Fachmänner wie der andere Heine, die Exzellenz a. D., und Herr Theodor Wolff eingetreten. Und der liberal denkende Kovacs hat den kleinbürgerlich sozialistischen Cato Rickelt niedergerungen. Jede Kultur war verfault, sobald Weiber nackt die Bühne betraten, und wenn Kovacs der Verfaultheit unserer Kultur hiermit den Spiegel vorhält, so tut er nur seine literarische Pflicht. Daß ihm dafür höhere Ein¬ trittspreise bezahlt werden, ist eine nicht unerfreuliche, das Zeitbild wertvoll ergänzende Nebenerscheinung. Gleich ihm bemühen sich strebend, das soll ehrlich anerkannt werden, die übrigen Bühnenleiter der Reichshauptstadt. Beispiel: „Eine stark liebebedürftige Herzogin entdeckt, daß die Geliebte eines Landjunkers, der ihr nicht gleichgültig ist, eine verblüffende Ähnlichkeit mit ihr besitzt. Um ihn auf die Probe zu stellen und zugleich die Wonnen eines Stelldicheins mit ihm zu kosten, spielt sie auf eine Nacht die Tänzerin. Und da er seine Sache so gut macht, avanciert er zum Schluß zum Leutnant der „Leib"garde, was so viel bedeutet, wie — na, Sie wissen ja schon." Garstig um das Augenzwinkern des Kritikers! Die Grimasse verdirbt den Text. Die beiden Bühnen, um die es sich hier handelt, Tribüne und Thaliatheater, beides Monumente von unserer Zeiten seelischer Größe, beides Pioniere der vielerwähnten inneren Erneuerung, sträuben sich mit Fug dagegen, durch die Lustbarkeitssteuer zu bloßen Vergnügungsstätten herabgedrückt zu werden. Ihnen geht es gewiß nicht ums Geld. Der bankerotten Gemeinde, der wir alle ausschweifend zinsen, und die die Tausendmarkscheine hernehmen muß, wo sie sie bekommt, werden auch die Theaterdirektoren ihre Hilfe nicht ver¬ weigern. Aber sie sträuben sich dagegen, ihre Anstalten auf eine Stufe mit Kinos, Varietes, Lunaparks und Tanzdielen gestellt zu sehen, sie, in deren Hand der modernen Menschheit Würde gegeben ist und die das Diagramm der heutigen deutschen Weltseele aufnehmen. Das Theater gehört, auch wenn man von Rein¬ hardts großem Schauspielhause absieht, ganz und gar nicht zu den Lustbarkeiten. Es sollte dem Institut für Psychologie an der Berliner Universität unterstehen,- weit wichtiger und lehrreicher als für uns sind seine Leistungen für zukünftige Sitten- Philosophen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_337640/38>, abgerufen am 05.05.2024.