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Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr.

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flussenden "Sphären" nicht mehr aristokratisch, sondern proletarisch sind, macht das
Gesamtbild in seiner gesteigerten Roheit noch abstoßender, ändert aber am Wesen der
Sache nichts. Halten kann sich der rote Terror auf die Dauer ebensowenig wie
alle übrigen sozialistischen Experimente. Wenn wir eines Tages aus diesem Fieber¬
traum erwachen, dann werden Staat und Gesellschaft vor der Aufgabe stehen, die
individualistische Wirtschaftsform, als die einzige, in der die Menschheit auf ihrer
heutigen Entwicklungsstufe arbeiten und produzieren kann, auf einem Trümmerfeld"
wieder aufzubauen. Dann wird sich vielleicht von neuem die Gelegenheit bieten,
durch organische Beeinflussung der Entwicklung die Übermacht des Kapitals ein¬
zudämmen. Gebe der Himmel, daß dann nachgeholt wird, was in den letzten
hundert Jahren versäumt wurde!




Blicke in das GeseNschaftsleben zur Zeit der
französischen konsularregierung
Dr. Willy Müller von(Schluß.)

Bezeichnend für das gesellschaftliche Leben der Jahre vor der Errichtung
des Kaiserthrones ist aber auch das allmähliche Entstehen und die weitere Aus¬
bildung einer bonaparteschen Hofhaltung. November 1799 siedelte der Haushalt
des Ersten Konsuls aus der bisherigen bescheidenen Privatwohnung in das Petit-
Luxembourg über, und hier tauchte im Salon Josephinens das so lange verpönt
gewesene Wort "Madame" wieder auf, die "Citoyenne" verschwand -- allerdings
erst nach und nach --- von der Bildfläche. Und schon im Februar des folgenden
Jahres vertauschte man das Luxembourg mit den Tuilerien. Bonaparte hatte
nun, wo repräsentiert werden sollte, nichts Eiligeres zu tun, als den Zutritt zum
Salon seiner Gattin allen Vertreterinnen einer laxen Moral zu untersagen, was
Josephine, die mit dieser unstäten Welt einigermaßen verwachsen war, viele Tränen
kostete/ selbst Frau Tallien, mit der sie jahrelang das gleiche Interesse intensivsten
Lebensgenusses verbunden hatte, wurde veranlaßt zu weichen, um so mehr, als
steh ihren früheren Sünden neuerdings das Verhältnis zu Herrn Ouvrard gesellte.
Eine einzige Ausnahme mußte der Konsul bei diesem Reinigungsprozesse aller¬
dings machen: Josephine selbst blieb. Dann aber galt es, eine neue Hofgesellschaft
M konstituieren. Die Guillotine hatte glücklicherweise einen Tanzmeister von Ruf,
Herrn Despr6aux, verschont, dem, da er als lebendiger Anstandskodex galt, sich
anvertraute, was in aller Eile ein formvollendeter Kavalier oder eine große
Dame werden wollte/ und neben ihm spielte die Rolle der Pythia in allen
Fragen des guten Tones Frau Campan, einst erste Kammerfrau Marie Antoinettes.
Sie kramte eifrig in dem Schatze ihrer Erinnerungen, um die alte Höfordnung
der Königszeit möglichst vollständig zu reproduzieren/ und auch durch Frau
von Montesson, die sich den neuen Verhältnissen gegenüber bald nicht mehr völlig
ablehnend verhielt, ließ Bonaparte sich gern belehren. Im März 1802 wurden
die ersten, die neue Etikette regelnden Vorschriften erlassen, die Dienerschaft erhielt


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flussenden „Sphären" nicht mehr aristokratisch, sondern proletarisch sind, macht das
Gesamtbild in seiner gesteigerten Roheit noch abstoßender, ändert aber am Wesen der
Sache nichts. Halten kann sich der rote Terror auf die Dauer ebensowenig wie
alle übrigen sozialistischen Experimente. Wenn wir eines Tages aus diesem Fieber¬
traum erwachen, dann werden Staat und Gesellschaft vor der Aufgabe stehen, die
individualistische Wirtschaftsform, als die einzige, in der die Menschheit auf ihrer
heutigen Entwicklungsstufe arbeiten und produzieren kann, auf einem Trümmerfeld«
wieder aufzubauen. Dann wird sich vielleicht von neuem die Gelegenheit bieten,
durch organische Beeinflussung der Entwicklung die Übermacht des Kapitals ein¬
zudämmen. Gebe der Himmel, daß dann nachgeholt wird, was in den letzten
hundert Jahren versäumt wurde!




Blicke in das GeseNschaftsleben zur Zeit der
französischen konsularregierung
Dr. Willy Müller von(Schluß.)

Bezeichnend für das gesellschaftliche Leben der Jahre vor der Errichtung
des Kaiserthrones ist aber auch das allmähliche Entstehen und die weitere Aus¬
bildung einer bonaparteschen Hofhaltung. November 1799 siedelte der Haushalt
des Ersten Konsuls aus der bisherigen bescheidenen Privatwohnung in das Petit-
Luxembourg über, und hier tauchte im Salon Josephinens das so lange verpönt
gewesene Wort „Madame" wieder auf, die „Citoyenne" verschwand — allerdings
erst nach und nach -— von der Bildfläche. Und schon im Februar des folgenden
Jahres vertauschte man das Luxembourg mit den Tuilerien. Bonaparte hatte
nun, wo repräsentiert werden sollte, nichts Eiligeres zu tun, als den Zutritt zum
Salon seiner Gattin allen Vertreterinnen einer laxen Moral zu untersagen, was
Josephine, die mit dieser unstäten Welt einigermaßen verwachsen war, viele Tränen
kostete/ selbst Frau Tallien, mit der sie jahrelang das gleiche Interesse intensivsten
Lebensgenusses verbunden hatte, wurde veranlaßt zu weichen, um so mehr, als
steh ihren früheren Sünden neuerdings das Verhältnis zu Herrn Ouvrard gesellte.
Eine einzige Ausnahme mußte der Konsul bei diesem Reinigungsprozesse aller¬
dings machen: Josephine selbst blieb. Dann aber galt es, eine neue Hofgesellschaft
M konstituieren. Die Guillotine hatte glücklicherweise einen Tanzmeister von Ruf,
Herrn Despr6aux, verschont, dem, da er als lebendiger Anstandskodex galt, sich
anvertraute, was in aller Eile ein formvollendeter Kavalier oder eine große
Dame werden wollte/ und neben ihm spielte die Rolle der Pythia in allen
Fragen des guten Tones Frau Campan, einst erste Kammerfrau Marie Antoinettes.
Sie kramte eifrig in dem Schatze ihrer Erinnerungen, um die alte Höfordnung
der Königszeit möglichst vollständig zu reproduzieren/ und auch durch Frau
von Montesson, die sich den neuen Verhältnissen gegenüber bald nicht mehr völlig
ablehnend verhielt, ließ Bonaparte sich gern belehren. Im März 1802 wurden
die ersten, die neue Etikette regelnden Vorschriften erlassen, die Dienerschaft erhielt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 79, 1920, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341911_338022/299>, abgerufen am 01.05.2024.