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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr.

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nicht ganz töricht und sinnlos, heut den Blick nach Osten zu wenden; vielleicht
sind besonders Russen, Inder und Ostasiaten in der Tat noch ein Reservoir un¬
verbrauchter Kräfte. Und daß der Mensch schon heut, in einer vielleicht noch
frühen Epoche seiner Gesamtgeschichte, am Ende sei, fällt schwer zu glauben. Gewisse
Grenzen mögen ihm -- schon in der anatomischen Struktur seines Hirns --
gesteckt sein, -- aber in diesen seinen Hirnwänden hat er bisher doch immer noch
produktive Überraschungen hervorgezaubert.

So ist wohl auch für Kunst und Literatur noch nicht aller Tage Abend.
Aber die Situation ist unzweifelhaft kritisch -- und insofern rechtfertigt sie das
Weissagungsbedürfnis. Vor längerer Zeit -- wenn ich nicht irre, vor dem
Kriege -- wurde schon einmal bei Tagesberühmtheiten über die Zukunft der
Literatur "ungefragt". Schon damals lauteten manche Antworten pessimistisch.
Aber schließlich ist die Literatur noch nicht am Ende, wenn die Weisheit der
Literaten und das Angebot der großstädtischen Kunstmärkte am Ende ist. Das
Wunderlichste ist eigentlich, daß die letzte, schon längst für sterbereif erklärte Mode
des Expressionimus noch immer andauert. Aber es ist nichts Anderes, Besseres
da! -- Wenn es übrigens nur echter Expresstonisinus wärel Im Expressionismus
steckt abgesehen von seinem ^s-nov VM°?, dem überspringen der sinnlichen Er"
scheinung, unzweifelhaft ein guter Kern; aber in praxi kreuzt sich sein Wille zur
metaphysischen Innerlichkeit leider mit dem zur knalligsten, plakathaft grellen
Äußerlichkeit. Auch mit seiner billigen, ins Leere verpuffenden Dauerekstase ist es
nicht getan. Das Ganze läuft auf eine bloß witzige Paradoxie hinaus: Die
angeblich "revolutionärste" Literatur ist in Wahrheit menschlich und künstlerisch
reaktionär. Denn der wahre "Fortschritt" in den Künsten liegt in der Richtung
des Seelischen, Persönlichen, der Intimität und der Nuance. (Womit nicht über¬
schätztes Asthetentum gefordert und nicht die Pflege großer nationaler oder
sozialer Allgemeingefühle verschlossen wird.) Vor allem geht eine vorwärts und
aufwärts weisende Entwicklung vom Snobismus jeder Art weg zum Echten,
Tiefmenschlichen. Rückläufige Teilbewegungen können sich mit jeder wahren Fort¬
schrittskurve vertragen: Kompliziertheit löst und erlöst sich oft in Naivetät, und
Überspannung und Verwilderung des Barock mündet zumeist in einen neuen
Klassizismus, wie man zum Beispiel in Frankreich die Wendung von Picaggo
zu Ingres bereits vollzogen hat. Aber letzten Endes entscheidet eben überhaupt
kein -- "ismus", sondern Persönlichkeit, Genie und Tat.




Aus neuen Büchern
Bücher über Indien.

Indien gibt den deutschen Gebildeten gegenwärtig eine
Reihe von Problemen auf. Das Interesse an der indischen Kultur ist seit den
Tagen Goethes und der Romantiker, mehr noch seit Schopenhauer in Deutsch¬
land ein entschiedenes gewesen, ohne daß es bis in die letzte Zeit hinreichende
Nahrung aus zuverlässigen Darstellungen gesunden hätte. Das Aufkommen der
neubuddhistischen und theosophischen Bewegung ist auch in Deutschland mit der
Propaganda für ganz obskure und verzerrte "indische Weisheit" verbunden ge-


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nicht ganz töricht und sinnlos, heut den Blick nach Osten zu wenden; vielleicht
sind besonders Russen, Inder und Ostasiaten in der Tat noch ein Reservoir un¬
verbrauchter Kräfte. Und daß der Mensch schon heut, in einer vielleicht noch
frühen Epoche seiner Gesamtgeschichte, am Ende sei, fällt schwer zu glauben. Gewisse
Grenzen mögen ihm — schon in der anatomischen Struktur seines Hirns —
gesteckt sein, — aber in diesen seinen Hirnwänden hat er bisher doch immer noch
produktive Überraschungen hervorgezaubert.

So ist wohl auch für Kunst und Literatur noch nicht aller Tage Abend.
Aber die Situation ist unzweifelhaft kritisch — und insofern rechtfertigt sie das
Weissagungsbedürfnis. Vor längerer Zeit — wenn ich nicht irre, vor dem
Kriege — wurde schon einmal bei Tagesberühmtheiten über die Zukunft der
Literatur „ungefragt". Schon damals lauteten manche Antworten pessimistisch.
Aber schließlich ist die Literatur noch nicht am Ende, wenn die Weisheit der
Literaten und das Angebot der großstädtischen Kunstmärkte am Ende ist. Das
Wunderlichste ist eigentlich, daß die letzte, schon längst für sterbereif erklärte Mode
des Expressionimus noch immer andauert. Aber es ist nichts Anderes, Besseres
da! — Wenn es übrigens nur echter Expresstonisinus wärel Im Expressionismus
steckt abgesehen von seinem ^s-nov VM°?, dem überspringen der sinnlichen Er»
scheinung, unzweifelhaft ein guter Kern; aber in praxi kreuzt sich sein Wille zur
metaphysischen Innerlichkeit leider mit dem zur knalligsten, plakathaft grellen
Äußerlichkeit. Auch mit seiner billigen, ins Leere verpuffenden Dauerekstase ist es
nicht getan. Das Ganze läuft auf eine bloß witzige Paradoxie hinaus: Die
angeblich „revolutionärste" Literatur ist in Wahrheit menschlich und künstlerisch
reaktionär. Denn der wahre „Fortschritt" in den Künsten liegt in der Richtung
des Seelischen, Persönlichen, der Intimität und der Nuance. (Womit nicht über¬
schätztes Asthetentum gefordert und nicht die Pflege großer nationaler oder
sozialer Allgemeingefühle verschlossen wird.) Vor allem geht eine vorwärts und
aufwärts weisende Entwicklung vom Snobismus jeder Art weg zum Echten,
Tiefmenschlichen. Rückläufige Teilbewegungen können sich mit jeder wahren Fort¬
schrittskurve vertragen: Kompliziertheit löst und erlöst sich oft in Naivetät, und
Überspannung und Verwilderung des Barock mündet zumeist in einen neuen
Klassizismus, wie man zum Beispiel in Frankreich die Wendung von Picaggo
zu Ingres bereits vollzogen hat. Aber letzten Endes entscheidet eben überhaupt
kein — „ismus", sondern Persönlichkeit, Genie und Tat.




Aus neuen Büchern
Bücher über Indien.

Indien gibt den deutschen Gebildeten gegenwärtig eine
Reihe von Problemen auf. Das Interesse an der indischen Kultur ist seit den
Tagen Goethes und der Romantiker, mehr noch seit Schopenhauer in Deutsch¬
land ein entschiedenes gewesen, ohne daß es bis in die letzte Zeit hinreichende
Nahrung aus zuverlässigen Darstellungen gesunden hätte. Das Aufkommen der
neubuddhistischen und theosophischen Bewegung ist auch in Deutschland mit der
Propaganda für ganz obskure und verzerrte „indische Weisheit" verbunden ge-


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[0330] Aus neuen Büchern nicht ganz töricht und sinnlos, heut den Blick nach Osten zu wenden; vielleicht sind besonders Russen, Inder und Ostasiaten in der Tat noch ein Reservoir un¬ verbrauchter Kräfte. Und daß der Mensch schon heut, in einer vielleicht noch frühen Epoche seiner Gesamtgeschichte, am Ende sei, fällt schwer zu glauben. Gewisse Grenzen mögen ihm — schon in der anatomischen Struktur seines Hirns — gesteckt sein, — aber in diesen seinen Hirnwänden hat er bisher doch immer noch produktive Überraschungen hervorgezaubert. So ist wohl auch für Kunst und Literatur noch nicht aller Tage Abend. Aber die Situation ist unzweifelhaft kritisch — und insofern rechtfertigt sie das Weissagungsbedürfnis. Vor längerer Zeit — wenn ich nicht irre, vor dem Kriege — wurde schon einmal bei Tagesberühmtheiten über die Zukunft der Literatur „ungefragt". Schon damals lauteten manche Antworten pessimistisch. Aber schließlich ist die Literatur noch nicht am Ende, wenn die Weisheit der Literaten und das Angebot der großstädtischen Kunstmärkte am Ende ist. Das Wunderlichste ist eigentlich, daß die letzte, schon längst für sterbereif erklärte Mode des Expressionimus noch immer andauert. Aber es ist nichts Anderes, Besseres da! — Wenn es übrigens nur echter Expresstonisinus wärel Im Expressionismus steckt abgesehen von seinem ^s-nov VM°?, dem überspringen der sinnlichen Er» scheinung, unzweifelhaft ein guter Kern; aber in praxi kreuzt sich sein Wille zur metaphysischen Innerlichkeit leider mit dem zur knalligsten, plakathaft grellen Äußerlichkeit. Auch mit seiner billigen, ins Leere verpuffenden Dauerekstase ist es nicht getan. Das Ganze läuft auf eine bloß witzige Paradoxie hinaus: Die angeblich „revolutionärste" Literatur ist in Wahrheit menschlich und künstlerisch reaktionär. Denn der wahre „Fortschritt" in den Künsten liegt in der Richtung des Seelischen, Persönlichen, der Intimität und der Nuance. (Womit nicht über¬ schätztes Asthetentum gefordert und nicht die Pflege großer nationaler oder sozialer Allgemeingefühle verschlossen wird.) Vor allem geht eine vorwärts und aufwärts weisende Entwicklung vom Snobismus jeder Art weg zum Echten, Tiefmenschlichen. Rückläufige Teilbewegungen können sich mit jeder wahren Fort¬ schrittskurve vertragen: Kompliziertheit löst und erlöst sich oft in Naivetät, und Überspannung und Verwilderung des Barock mündet zumeist in einen neuen Klassizismus, wie man zum Beispiel in Frankreich die Wendung von Picaggo zu Ingres bereits vollzogen hat. Aber letzten Endes entscheidet eben überhaupt kein — „ismus", sondern Persönlichkeit, Genie und Tat. Aus neuen Büchern Bücher über Indien. Indien gibt den deutschen Gebildeten gegenwärtig eine Reihe von Problemen auf. Das Interesse an der indischen Kultur ist seit den Tagen Goethes und der Romantiker, mehr noch seit Schopenhauer in Deutsch¬ land ein entschiedenes gewesen, ohne daß es bis in die letzte Zeit hinreichende Nahrung aus zuverlässigen Darstellungen gesunden hätte. Das Aufkommen der neubuddhistischen und theosophischen Bewegung ist auch in Deutschland mit der Propaganda für ganz obskure und verzerrte „indische Weisheit" verbunden ge-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_338800/330>, abgerufen am 28.04.2024.