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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr.

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kommen, den Ertrag des Krieges einzuheimsen. Das erschütternde Wort des
Fürsten Bismarck vom 1Z. März 1885 war wahr geworden:

"Der Parteigeist überwuchert uns und verleitet das Volk, daß es das
eigene Vaterland erschlägt, und diesen Parteizwist klage ich vor Gott und der
Geschichte an, wenn daS ganze herrliche Werk unserer Nation von 1866 und 1870
wieder in Verfall geraten wird" - und Ludendorff fügt hinzin "wenn die Herr-
lichen Taten des Weltkrieges uns nicht den Sieg brachten oder unsere Freiheit
sicherstellten."




Die Herbsttagung der Gesellschaft für freie Philosophie
vom 25. bis 30. September
von einem Schüler

in einer zweiten Tagung hatte Graf Keyserling in diesem Jahre
nach Darmstadt geladen. Und sie zeigte nicht nur glänzendere
Bilder und einen regeren Besuch als die erste, auch der Gedanke
der Erziehung zur Weisheit hatte stärkere. Wurzeln geschlagen.
Dieser Einklang der Gedanken ist hier wichtig. Denn zwar sprach
jeweils nur einer und fand keine Diskussion statt; aber in dem einen sprachen
alle. Die Atmosphäre schwang mit und hob die Versammlung auf das für dies
Unternehmen nötige philosophische Niveau.

Mit demi Dreiklang seiner Vorträge "Was wir wollen", "Der Weg" und
"Das Ziel" schlug Graf Keyserling selbst deu Grundakkord der Tagung an und
brachte die geistige Weltenwende, in deren Strudel wir treiben, zum Bewußtsein
seiner Hörer. Diejenige einseitige, "begreifende" Deukroutine, die wir "Wissen¬
schaft" nennen und die während Jahrhunderte langer Alleinherrschaft Gelegen¬
heit hatte, den westlichen Menschen entscheidend' zu beeinflusse", hat schmählich
Fiasko erlitten: sie hat ihn enger, blinder, für das Befühlen und Ertasten des
Nützlichen geschickter, für das Schauen der (immer unnützen) Wahrheit uutaug--
licher, kurz zu dem heutigen Zerrbild gemacht, zu dem animal intellectugle seu
kioma rapisns mit abnorm entwickelten Orieutieruugsorgauen, dessen fossile
Überreste und Tastabdrücke spätere Paläontologen einer staunenden Menschheit
kopfschüttelnd herumreichen werden. Natürlich ist wissenschaftliches Denken un-
entbehrlich, aber wir verstehen sein Wesen heute besser als früher: nicht Erkennt¬
nis verschaffen kann uns der Begriff. Das Seherische in uns muß aus anderen
Quellen gespeist werden. Erkennen ist wesentlich Tieferes, als man bisher so
nannte: ist Blick für den "Sinn", für die Bedeutung, welche unsere Vorstellungen
zum" Ausdruck bringen, sofern sie wahrhaft tief sind. Das begriffliche Denken
kann dabei ganz unoriginell sein; so haben Konfuzius, Buddha, Christus keine!
neue Orientierung, keine neue Lehre im wissenschaftlichen oder im theosophischen
Ginne gebracht (Theosophie ist spiritualisierter Materialismus)., Was sie der
Menschheit brachten, waren nicht neue Kenntnisse, sondern eine neue Einstellung
zu den alten wie zu allen künftigen Kenntnissen der Menschheit bis auf unsere


kommen, den Ertrag des Krieges einzuheimsen. Das erschütternde Wort des
Fürsten Bismarck vom 1Z. März 1885 war wahr geworden:

„Der Parteigeist überwuchert uns und verleitet das Volk, daß es das
eigene Vaterland erschlägt, und diesen Parteizwist klage ich vor Gott und der
Geschichte an, wenn daS ganze herrliche Werk unserer Nation von 1866 und 1870
wieder in Verfall geraten wird" - und Ludendorff fügt hinzin „wenn die Herr-
lichen Taten des Weltkrieges uns nicht den Sieg brachten oder unsere Freiheit
sicherstellten."




Die Herbsttagung der Gesellschaft für freie Philosophie
vom 25. bis 30. September
von einem Schüler

in einer zweiten Tagung hatte Graf Keyserling in diesem Jahre
nach Darmstadt geladen. Und sie zeigte nicht nur glänzendere
Bilder und einen regeren Besuch als die erste, auch der Gedanke
der Erziehung zur Weisheit hatte stärkere. Wurzeln geschlagen.
Dieser Einklang der Gedanken ist hier wichtig. Denn zwar sprach
jeweils nur einer und fand keine Diskussion statt; aber in dem einen sprachen
alle. Die Atmosphäre schwang mit und hob die Versammlung auf das für dies
Unternehmen nötige philosophische Niveau.

Mit demi Dreiklang seiner Vorträge „Was wir wollen", „Der Weg" und
„Das Ziel" schlug Graf Keyserling selbst deu Grundakkord der Tagung an und
brachte die geistige Weltenwende, in deren Strudel wir treiben, zum Bewußtsein
seiner Hörer. Diejenige einseitige, „begreifende" Deukroutine, die wir „Wissen¬
schaft" nennen und die während Jahrhunderte langer Alleinherrschaft Gelegen¬
heit hatte, den westlichen Menschen entscheidend' zu beeinflusse», hat schmählich
Fiasko erlitten: sie hat ihn enger, blinder, für das Befühlen und Ertasten des
Nützlichen geschickter, für das Schauen der (immer unnützen) Wahrheit uutaug--
licher, kurz zu dem heutigen Zerrbild gemacht, zu dem animal intellectugle seu
kioma rapisns mit abnorm entwickelten Orieutieruugsorgauen, dessen fossile
Überreste und Tastabdrücke spätere Paläontologen einer staunenden Menschheit
kopfschüttelnd herumreichen werden. Natürlich ist wissenschaftliches Denken un-
entbehrlich, aber wir verstehen sein Wesen heute besser als früher: nicht Erkennt¬
nis verschaffen kann uns der Begriff. Das Seherische in uns muß aus anderen
Quellen gespeist werden. Erkennen ist wesentlich Tieferes, als man bisher so
nannte: ist Blick für den „Sinn", für die Bedeutung, welche unsere Vorstellungen
zum" Ausdruck bringen, sofern sie wahrhaft tief sind. Das begriffliche Denken
kann dabei ganz unoriginell sein; so haben Konfuzius, Buddha, Christus keine!
neue Orientierung, keine neue Lehre im wissenschaftlichen oder im theosophischen
Ginne gebracht (Theosophie ist spiritualisierter Materialismus)., Was sie der
Menschheit brachten, waren nicht neue Kenntnisse, sondern eine neue Einstellung
zu den alten wie zu allen künftigen Kenntnissen der Menschheit bis auf unsere


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339548/248>, abgerufen am 29.04.2024.