Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Wandel unserer Weltanschauung
Oaul sinket von

aß sich in unseren Tagen ein Umschwung in Lebensordnung und
Weltanschauung vollzieht, darüber sind sich alle einig, die sich in
Gedanken über Not und Drang des Alltagslebens erheben können.
Schwer aber ist es, zu sagen, wohin die Bewegung, die uns selbst
mit fortreißt, zielt. Immerhin gibt es zwei Anhaltspunkte, die
wenigstens Vermutungen zulassen. Einmal nämlich bemerken wir in unserem
heutigen Leben Zustände, Gewohnheiten und Sitten, die wir als unecht, lebens¬
fremd oder sogar als absterbend erkennen. Und ferner sehen wir, wenn auch nicht
mit voller Klarheit, daß allenthalben neue Bestrebungen, Ziele und Wertungen
auftauchen, die wir als eine Erlösung von den uns bedrückenden Mißständen be¬
grüßen, und von denen wir daher annehmen müssen, daß sich in ihnen die her¬
aufdämmernde Zukunft schon andeutet. Bei der Vielseitigkeit des Problems soll
hier nur ein Gesichtspunkt herausgegriffen werden, um von ihm aus nach den"
verschiedensten Seiten Ausblick zu halten.

Wenn man die Entwicklung der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Politik
seit Beginn der Neuzeit mit einem Gedanken zu umspannen sucht, so zeigt sich,
daß auf all diesen Gebieten das Zahlen in äßige, Berechenbare eine be¬
sondere Rolle spielt. In der Tat kennzeichnet sich die neuzeitliche Periode durch
die allmähliche Unterwerfung des Lebe n s unter die Zab l. In tausendfacher
Variation kehrt das mathematische Grundthema wieder: Nur durch Rechnen,
Messen, Konstruieren, durch die Formel gewinnen wir Macht über das Leben,
theoretisch wie praktisch. Seitdem Galilei erklärte, daß das Buch der Natur in
mathematischer Sprache geschrieben sei, und Spinoza seine Ethik "nach geometri¬
scher Methode" verfaßte, hat man versucht, die mathematische Behandlung nach
und nach in alle Wissenschaften einzuführen. Ja, man verstieg sich zu der Be¬
hauptung, daß in jeder Wissenschaft nur soviel wirkliche Erkenntnis vorhanden-
sei, wie sie Mathematik enthalte. Auch das Seelenleben sollte gemessen und in
Formeln gebracht werden. Und wo man nicht rechnen und messen konnte, wie
in der Geschichte, da sollte wenigstens nach dem Muster der Geometrie konstruiert
werden. Aus gegebenen Komponenten wie Milieu, Rasse, Zeitpunkt glaubte
man bestimmte Persönlichkeiten und Ereignisse mit Notwendigkeit ableiten zu
können. Die hohe Bewertung der Zahlen zeigt sich auch in der übertriebenen
Erwartung, die man auf die Statistik baute, wenn man etwa den moralischen.
Zustand eines Landes rein zahlenmäßig zu ergründen dachte. Kurz, in all diesen
Erscheinungen gibt sich eine Richtung zu erkennen, die man als Quantifi -
?, icrung bezeichnen kann.

Diese Richtung hat nun auch das gesamte Leben ergriffen; das Zahlen¬
mäßige ist zu einem Lebenselement geworden, das uns wie etwas Selbstverständ¬
liches gar nicht mehr zum Bewußtsein kommt. Am deutlichsten ist das auf dem
Gebiete der Wirtschaft, nämlich in der Geldwirtschaft und ihrem letzten Ergebnis,


Grenzboten IV 1921 20

Der Wandel unserer Weltanschauung
Oaul sinket von

aß sich in unseren Tagen ein Umschwung in Lebensordnung und
Weltanschauung vollzieht, darüber sind sich alle einig, die sich in
Gedanken über Not und Drang des Alltagslebens erheben können.
Schwer aber ist es, zu sagen, wohin die Bewegung, die uns selbst
mit fortreißt, zielt. Immerhin gibt es zwei Anhaltspunkte, die
wenigstens Vermutungen zulassen. Einmal nämlich bemerken wir in unserem
heutigen Leben Zustände, Gewohnheiten und Sitten, die wir als unecht, lebens¬
fremd oder sogar als absterbend erkennen. Und ferner sehen wir, wenn auch nicht
mit voller Klarheit, daß allenthalben neue Bestrebungen, Ziele und Wertungen
auftauchen, die wir als eine Erlösung von den uns bedrückenden Mißständen be¬
grüßen, und von denen wir daher annehmen müssen, daß sich in ihnen die her¬
aufdämmernde Zukunft schon andeutet. Bei der Vielseitigkeit des Problems soll
hier nur ein Gesichtspunkt herausgegriffen werden, um von ihm aus nach den»
verschiedensten Seiten Ausblick zu halten.

Wenn man die Entwicklung der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Politik
seit Beginn der Neuzeit mit einem Gedanken zu umspannen sucht, so zeigt sich,
daß auf all diesen Gebieten das Zahlen in äßige, Berechenbare eine be¬
sondere Rolle spielt. In der Tat kennzeichnet sich die neuzeitliche Periode durch
die allmähliche Unterwerfung des Lebe n s unter die Zab l. In tausendfacher
Variation kehrt das mathematische Grundthema wieder: Nur durch Rechnen,
Messen, Konstruieren, durch die Formel gewinnen wir Macht über das Leben,
theoretisch wie praktisch. Seitdem Galilei erklärte, daß das Buch der Natur in
mathematischer Sprache geschrieben sei, und Spinoza seine Ethik „nach geometri¬
scher Methode" verfaßte, hat man versucht, die mathematische Behandlung nach
und nach in alle Wissenschaften einzuführen. Ja, man verstieg sich zu der Be¬
hauptung, daß in jeder Wissenschaft nur soviel wirkliche Erkenntnis vorhanden-
sei, wie sie Mathematik enthalte. Auch das Seelenleben sollte gemessen und in
Formeln gebracht werden. Und wo man nicht rechnen und messen konnte, wie
in der Geschichte, da sollte wenigstens nach dem Muster der Geometrie konstruiert
werden. Aus gegebenen Komponenten wie Milieu, Rasse, Zeitpunkt glaubte
man bestimmte Persönlichkeiten und Ereignisse mit Notwendigkeit ableiten zu
können. Die hohe Bewertung der Zahlen zeigt sich auch in der übertriebenen
Erwartung, die man auf die Statistik baute, wenn man etwa den moralischen.
Zustand eines Landes rein zahlenmäßig zu ergründen dachte. Kurz, in all diesen
Erscheinungen gibt sich eine Richtung zu erkennen, die man als Quantifi -
?, icrung bezeichnen kann.

Diese Richtung hat nun auch das gesamte Leben ergriffen; das Zahlen¬
mäßige ist zu einem Lebenselement geworden, das uns wie etwas Selbstverständ¬
liches gar nicht mehr zum Bewußtsein kommt. Am deutlichsten ist das auf dem
Gebiete der Wirtschaft, nämlich in der Geldwirtschaft und ihrem letzten Ergebnis,


Grenzboten IV 1921 20
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0313" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/339862"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Der Wandel unserer Weltanschauung<lb/><note type="byline"> Oaul sinket</note> von</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1260"> aß sich in unseren Tagen ein Umschwung in Lebensordnung und<lb/>
Weltanschauung vollzieht, darüber sind sich alle einig, die sich in<lb/>
Gedanken über Not und Drang des Alltagslebens erheben können.<lb/>
Schwer aber ist es, zu sagen, wohin die Bewegung, die uns selbst<lb/>
mit fortreißt, zielt. Immerhin gibt es zwei Anhaltspunkte, die<lb/>
wenigstens Vermutungen zulassen. Einmal nämlich bemerken wir in unserem<lb/>
heutigen Leben Zustände, Gewohnheiten und Sitten, die wir als unecht, lebens¬<lb/>
fremd oder sogar als absterbend erkennen. Und ferner sehen wir, wenn auch nicht<lb/>
mit voller Klarheit, daß allenthalben neue Bestrebungen, Ziele und Wertungen<lb/>
auftauchen, die wir als eine Erlösung von den uns bedrückenden Mißständen be¬<lb/>
grüßen, und von denen wir daher annehmen müssen, daß sich in ihnen die her¬<lb/>
aufdämmernde Zukunft schon andeutet. Bei der Vielseitigkeit des Problems soll<lb/>
hier nur ein Gesichtspunkt herausgegriffen werden, um von ihm aus nach den»<lb/>
verschiedensten Seiten Ausblick zu halten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1261"> Wenn man die Entwicklung der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Politik<lb/>
seit Beginn der Neuzeit mit einem Gedanken zu umspannen sucht, so zeigt sich,<lb/>
daß auf all diesen Gebieten das Zahlen in äßige, Berechenbare eine be¬<lb/>
sondere Rolle spielt. In der Tat kennzeichnet sich die neuzeitliche Periode durch<lb/>
die allmähliche Unterwerfung des Lebe n s unter die Zab l. In tausendfacher<lb/>
Variation kehrt das mathematische Grundthema wieder: Nur durch Rechnen,<lb/>
Messen, Konstruieren, durch die Formel gewinnen wir Macht über das Leben,<lb/>
theoretisch wie praktisch. Seitdem Galilei erklärte, daß das Buch der Natur in<lb/>
mathematischer Sprache geschrieben sei, und Spinoza seine Ethik &#x201E;nach geometri¬<lb/>
scher Methode" verfaßte, hat man versucht, die mathematische Behandlung nach<lb/>
und nach in alle Wissenschaften einzuführen. Ja, man verstieg sich zu der Be¬<lb/>
hauptung, daß in jeder Wissenschaft nur soviel wirkliche Erkenntnis vorhanden-<lb/>
sei, wie sie Mathematik enthalte. Auch das Seelenleben sollte gemessen und in<lb/>
Formeln gebracht werden. Und wo man nicht rechnen und messen konnte, wie<lb/>
in der Geschichte, da sollte wenigstens nach dem Muster der Geometrie konstruiert<lb/>
werden. Aus gegebenen Komponenten wie Milieu, Rasse, Zeitpunkt glaubte<lb/>
man bestimmte Persönlichkeiten und Ereignisse mit Notwendigkeit ableiten zu<lb/>
können. Die hohe Bewertung der Zahlen zeigt sich auch in der übertriebenen<lb/>
Erwartung, die man auf die Statistik baute, wenn man etwa den moralischen.<lb/>
Zustand eines Landes rein zahlenmäßig zu ergründen dachte. Kurz, in all diesen<lb/>
Erscheinungen gibt sich eine Richtung zu erkennen, die man als Quantifi -<lb/>
?, icrung bezeichnen kann.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1262" next="#ID_1263"> Diese Richtung hat nun auch das gesamte Leben ergriffen; das Zahlen¬<lb/>
mäßige ist zu einem Lebenselement geworden, das uns wie etwas Selbstverständ¬<lb/>
liches gar nicht mehr zum Bewußtsein kommt.  Am deutlichsten ist das auf dem<lb/>
Gebiete der Wirtschaft, nämlich in der Geldwirtschaft und ihrem letzten Ergebnis,</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1921 20</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0313] Der Wandel unserer Weltanschauung Oaul sinket von aß sich in unseren Tagen ein Umschwung in Lebensordnung und Weltanschauung vollzieht, darüber sind sich alle einig, die sich in Gedanken über Not und Drang des Alltagslebens erheben können. Schwer aber ist es, zu sagen, wohin die Bewegung, die uns selbst mit fortreißt, zielt. Immerhin gibt es zwei Anhaltspunkte, die wenigstens Vermutungen zulassen. Einmal nämlich bemerken wir in unserem heutigen Leben Zustände, Gewohnheiten und Sitten, die wir als unecht, lebens¬ fremd oder sogar als absterbend erkennen. Und ferner sehen wir, wenn auch nicht mit voller Klarheit, daß allenthalben neue Bestrebungen, Ziele und Wertungen auftauchen, die wir als eine Erlösung von den uns bedrückenden Mißständen be¬ grüßen, und von denen wir daher annehmen müssen, daß sich in ihnen die her¬ aufdämmernde Zukunft schon andeutet. Bei der Vielseitigkeit des Problems soll hier nur ein Gesichtspunkt herausgegriffen werden, um von ihm aus nach den» verschiedensten Seiten Ausblick zu halten. Wenn man die Entwicklung der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Politik seit Beginn der Neuzeit mit einem Gedanken zu umspannen sucht, so zeigt sich, daß auf all diesen Gebieten das Zahlen in äßige, Berechenbare eine be¬ sondere Rolle spielt. In der Tat kennzeichnet sich die neuzeitliche Periode durch die allmähliche Unterwerfung des Lebe n s unter die Zab l. In tausendfacher Variation kehrt das mathematische Grundthema wieder: Nur durch Rechnen, Messen, Konstruieren, durch die Formel gewinnen wir Macht über das Leben, theoretisch wie praktisch. Seitdem Galilei erklärte, daß das Buch der Natur in mathematischer Sprache geschrieben sei, und Spinoza seine Ethik „nach geometri¬ scher Methode" verfaßte, hat man versucht, die mathematische Behandlung nach und nach in alle Wissenschaften einzuführen. Ja, man verstieg sich zu der Be¬ hauptung, daß in jeder Wissenschaft nur soviel wirkliche Erkenntnis vorhanden- sei, wie sie Mathematik enthalte. Auch das Seelenleben sollte gemessen und in Formeln gebracht werden. Und wo man nicht rechnen und messen konnte, wie in der Geschichte, da sollte wenigstens nach dem Muster der Geometrie konstruiert werden. Aus gegebenen Komponenten wie Milieu, Rasse, Zeitpunkt glaubte man bestimmte Persönlichkeiten und Ereignisse mit Notwendigkeit ableiten zu können. Die hohe Bewertung der Zahlen zeigt sich auch in der übertriebenen Erwartung, die man auf die Statistik baute, wenn man etwa den moralischen. Zustand eines Landes rein zahlenmäßig zu ergründen dachte. Kurz, in all diesen Erscheinungen gibt sich eine Richtung zu erkennen, die man als Quantifi - ?, icrung bezeichnen kann. Diese Richtung hat nun auch das gesamte Leben ergriffen; das Zahlen¬ mäßige ist zu einem Lebenselement geworden, das uns wie etwas Selbstverständ¬ liches gar nicht mehr zum Bewußtsein kommt. Am deutlichsten ist das auf dem Gebiete der Wirtschaft, nämlich in der Geldwirtschaft und ihrem letzten Ergebnis, Grenzboten IV 1921 20

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339548
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339548/313
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339548/313>, abgerufen am 28.04.2024.