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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr.

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Weltspiegel

Belgien. Die belgischen Wahlen vom 20. November bieten einen äußeren
Anlaß, die inneren Probleme des Landes zu erörtern. Die Kammerwahlen
brachten den Katholiken 81 (Gewinn gegen 19 l9: 8 Sitze), den Sozialisten 66
(Verlust 4), den Liberalen 83 (Verlust 1), der Frontpartei 4 (weder Gewinn noch
Verlust), den Christlichen Demokraten 1 (Verlust 1), den Kriegsteilnehmern 1
(Verlust 1) Sitz. Da der Wahlkampf sich hauptsächlich um die von den Sozialisten
geforderte sechsmonatige Dienstzeit gedreht hat, und die Wahlen von 1918 ein
starkes Anwachsen der Sozialisten, eine Niederlage der Katholiken und starke Ver¬
luste der Liberalen ergeben hatten, sieht es nach diesen Wahlen aus, als häkeln
die Sozialisten die Wahlschlacht verloren. Das Verhältnis verschiebt sich jedoch
sofort, wenn man das Ergebnis der Senatswahlen betrachtet. Hier haben
erhalten die Katholiken 72, die Liberalen 28, die Sozialisten 34 Sitze. Immerhin
muß auch dies Ergebnis sehr vorsichtig bewertet werden, denn in erster
Linie ist dieser Erfolg der Sozialisten zurückzuführen auf die gegen 1919 durch
die Verfassungsreform eingetretene Änderung des passiven Wahlrechts. Ähnlich
wie 1919 durch die Einführung des wirklichen allgemeinen und gleichen Wahl¬
rechts die Sozialisten ihren starken Einfluß in der Kammer gewannen (die Kammer
von 1914 zählte 99 Katholiken, 4S Liberale, 40 Sozialisten) hat ihnen auch im
Senat die Änderung des Wahlmodus einen latent bereits vorhandenen Zuwachs
gebracht, von dem erst die nächsten Zahlen zeigen werden, in welchem Matze er
als Dauererfolg anzusprechen ist.

Wie ein einfaches Rechenexempel ergibt, haben auf Grund der jetzigen Wahlen
die Katholiken, die vor dem Kriege lange Jahrzehnte die Geschicke des Landes
als nahezu unbeschränkte Herrscher lenken konnten, die Mehrheit nicht nur in der
Kammer, sondern auch im Senat verloren. Ferner ergibt sich, daß eine Koalitions¬
regierung zweier Parteien gegen die dritte auf die Dauer gleichfalls praktisch un¬
möglich ist. Es bleibt sonach übrig nur ein Konzentrationskabinett aus allen drei
Parteien, also eine Beibehaltung des bisherigen Zustandes. Nun aber haben gerade
die Vorgänge vor den Wahlen gezeigt, daß auch dieser unhaltbar ist. Es darf nur an
die Kabinettskrise im Oktober erinnert werden. Im Anschluß nämlich an einen
in La Luviere gehaltenen Vortrag des Sozialdemokraten Sassenbach über den
gegenwärtigen Stand der sozialistischen Bewegung in Deutschland kam es zwischen
Patrioten und Sozialisten zu einem Tumult, bei dem eine belgische Trikolore
zerbrochen wurde. Daraufhin veranstalteten die Patrioten eine Sühnemanifestation,
die von den Sozialisten natürlich mit einer Gegenmanifcstation antimilitaristischen
Charakters beantwortet wurde. Bei dieser nun wurde unter andern: vom Verein
ehemaliger sozialistischer Kriegsteilnehmer ein Banner geweiht, auf welchem die
Figur eines belgisch uniformierten Soldaten, der ein Gewehr zerbricht, den
Pazifismus darstellen sollte. Da an dieser Feier auch der sozialistische Minister
Auseele teilgenommen hatte, ergriff der liberale Wehrminister Devöze, der seit
Monaten vergeblich gegen die Mehrheit der Kammer für die anderthalbjährige
Dienstzeit kämpfte, diese Gelegenheit, um seine Demission einzureichen. Daraufhin
traten auch, um für den Wahlkampf frei zu sein, die vier sozialistischen Minister
Vanderoelde, Anseele, Wauters und Destree aus. Die Gegensätze innerhalb der
Regierung waren also so groß, daß sie in allen wichtigen Fragen aktionsunfähig
war. Jeder entscheidende Beschluß mußte zum Austritt einer Partei, zur Ver¬
stärkung der Opposition, aber auch zur Verstärkung der nun ohne Vermittlung
aneinanderprallenden Gegensätze beider in der Regierung verbleibenden Pmteien
führen. Man mußte sich daher von Kompromiß zu Kompromiß weiterschleppen,
was um so schwieriger war, als die brennendsten Fragen sich gerade nicht zu
Kompromissen eigneten und allen Parteien daran gelegen sein mutzte, die
intransigenten Wähler durch Ablehnung aller Kompromisse bei ihrer Siange zu
halten. Man kann nicht sagen, und die Schwierigkeit der Kabinettsbildung beweist
dies, daß die Lage sich durch die Wahlen irgendwie verbessert hätte.


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Belgien. Die belgischen Wahlen vom 20. November bieten einen äußeren
Anlaß, die inneren Probleme des Landes zu erörtern. Die Kammerwahlen
brachten den Katholiken 81 (Gewinn gegen 19 l9: 8 Sitze), den Sozialisten 66
(Verlust 4), den Liberalen 83 (Verlust 1), der Frontpartei 4 (weder Gewinn noch
Verlust), den Christlichen Demokraten 1 (Verlust 1), den Kriegsteilnehmern 1
(Verlust 1) Sitz. Da der Wahlkampf sich hauptsächlich um die von den Sozialisten
geforderte sechsmonatige Dienstzeit gedreht hat, und die Wahlen von 1918 ein
starkes Anwachsen der Sozialisten, eine Niederlage der Katholiken und starke Ver¬
luste der Liberalen ergeben hatten, sieht es nach diesen Wahlen aus, als häkeln
die Sozialisten die Wahlschlacht verloren. Das Verhältnis verschiebt sich jedoch
sofort, wenn man das Ergebnis der Senatswahlen betrachtet. Hier haben
erhalten die Katholiken 72, die Liberalen 28, die Sozialisten 34 Sitze. Immerhin
muß auch dies Ergebnis sehr vorsichtig bewertet werden, denn in erster
Linie ist dieser Erfolg der Sozialisten zurückzuführen auf die gegen 1919 durch
die Verfassungsreform eingetretene Änderung des passiven Wahlrechts. Ähnlich
wie 1919 durch die Einführung des wirklichen allgemeinen und gleichen Wahl¬
rechts die Sozialisten ihren starken Einfluß in der Kammer gewannen (die Kammer
von 1914 zählte 99 Katholiken, 4S Liberale, 40 Sozialisten) hat ihnen auch im
Senat die Änderung des Wahlmodus einen latent bereits vorhandenen Zuwachs
gebracht, von dem erst die nächsten Zahlen zeigen werden, in welchem Matze er
als Dauererfolg anzusprechen ist.

Wie ein einfaches Rechenexempel ergibt, haben auf Grund der jetzigen Wahlen
die Katholiken, die vor dem Kriege lange Jahrzehnte die Geschicke des Landes
als nahezu unbeschränkte Herrscher lenken konnten, die Mehrheit nicht nur in der
Kammer, sondern auch im Senat verloren. Ferner ergibt sich, daß eine Koalitions¬
regierung zweier Parteien gegen die dritte auf die Dauer gleichfalls praktisch un¬
möglich ist. Es bleibt sonach übrig nur ein Konzentrationskabinett aus allen drei
Parteien, also eine Beibehaltung des bisherigen Zustandes. Nun aber haben gerade
die Vorgänge vor den Wahlen gezeigt, daß auch dieser unhaltbar ist. Es darf nur an
die Kabinettskrise im Oktober erinnert werden. Im Anschluß nämlich an einen
in La Luviere gehaltenen Vortrag des Sozialdemokraten Sassenbach über den
gegenwärtigen Stand der sozialistischen Bewegung in Deutschland kam es zwischen
Patrioten und Sozialisten zu einem Tumult, bei dem eine belgische Trikolore
zerbrochen wurde. Daraufhin veranstalteten die Patrioten eine Sühnemanifestation,
die von den Sozialisten natürlich mit einer Gegenmanifcstation antimilitaristischen
Charakters beantwortet wurde. Bei dieser nun wurde unter andern: vom Verein
ehemaliger sozialistischer Kriegsteilnehmer ein Banner geweiht, auf welchem die
Figur eines belgisch uniformierten Soldaten, der ein Gewehr zerbricht, den
Pazifismus darstellen sollte. Da an dieser Feier auch der sozialistische Minister
Auseele teilgenommen hatte, ergriff der liberale Wehrminister Devöze, der seit
Monaten vergeblich gegen die Mehrheit der Kammer für die anderthalbjährige
Dienstzeit kämpfte, diese Gelegenheit, um seine Demission einzureichen. Daraufhin
traten auch, um für den Wahlkampf frei zu sein, die vier sozialistischen Minister
Vanderoelde, Anseele, Wauters und Destree aus. Die Gegensätze innerhalb der
Regierung waren also so groß, daß sie in allen wichtigen Fragen aktionsunfähig
war. Jeder entscheidende Beschluß mußte zum Austritt einer Partei, zur Ver¬
stärkung der Opposition, aber auch zur Verstärkung der nun ohne Vermittlung
aneinanderprallenden Gegensätze beider in der Regierung verbleibenden Pmteien
führen. Man mußte sich daher von Kompromiß zu Kompromiß weiterschleppen,
was um so schwieriger war, als die brennendsten Fragen sich gerade nicht zu
Kompromissen eigneten und allen Parteien daran gelegen sein mutzte, die
intransigenten Wähler durch Ablehnung aller Kompromisse bei ihrer Siange zu
halten. Man kann nicht sagen, und die Schwierigkeit der Kabinettsbildung beweist
dies, daß die Lage sich durch die Wahlen irgendwie verbessert hätte.


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[0394] lveltspiegcl Weltspiegel Belgien. Die belgischen Wahlen vom 20. November bieten einen äußeren Anlaß, die inneren Probleme des Landes zu erörtern. Die Kammerwahlen brachten den Katholiken 81 (Gewinn gegen 19 l9: 8 Sitze), den Sozialisten 66 (Verlust 4), den Liberalen 83 (Verlust 1), der Frontpartei 4 (weder Gewinn noch Verlust), den Christlichen Demokraten 1 (Verlust 1), den Kriegsteilnehmern 1 (Verlust 1) Sitz. Da der Wahlkampf sich hauptsächlich um die von den Sozialisten geforderte sechsmonatige Dienstzeit gedreht hat, und die Wahlen von 1918 ein starkes Anwachsen der Sozialisten, eine Niederlage der Katholiken und starke Ver¬ luste der Liberalen ergeben hatten, sieht es nach diesen Wahlen aus, als häkeln die Sozialisten die Wahlschlacht verloren. Das Verhältnis verschiebt sich jedoch sofort, wenn man das Ergebnis der Senatswahlen betrachtet. Hier haben erhalten die Katholiken 72, die Liberalen 28, die Sozialisten 34 Sitze. Immerhin muß auch dies Ergebnis sehr vorsichtig bewertet werden, denn in erster Linie ist dieser Erfolg der Sozialisten zurückzuführen auf die gegen 1919 durch die Verfassungsreform eingetretene Änderung des passiven Wahlrechts. Ähnlich wie 1919 durch die Einführung des wirklichen allgemeinen und gleichen Wahl¬ rechts die Sozialisten ihren starken Einfluß in der Kammer gewannen (die Kammer von 1914 zählte 99 Katholiken, 4S Liberale, 40 Sozialisten) hat ihnen auch im Senat die Änderung des Wahlmodus einen latent bereits vorhandenen Zuwachs gebracht, von dem erst die nächsten Zahlen zeigen werden, in welchem Matze er als Dauererfolg anzusprechen ist. Wie ein einfaches Rechenexempel ergibt, haben auf Grund der jetzigen Wahlen die Katholiken, die vor dem Kriege lange Jahrzehnte die Geschicke des Landes als nahezu unbeschränkte Herrscher lenken konnten, die Mehrheit nicht nur in der Kammer, sondern auch im Senat verloren. Ferner ergibt sich, daß eine Koalitions¬ regierung zweier Parteien gegen die dritte auf die Dauer gleichfalls praktisch un¬ möglich ist. Es bleibt sonach übrig nur ein Konzentrationskabinett aus allen drei Parteien, also eine Beibehaltung des bisherigen Zustandes. Nun aber haben gerade die Vorgänge vor den Wahlen gezeigt, daß auch dieser unhaltbar ist. Es darf nur an die Kabinettskrise im Oktober erinnert werden. Im Anschluß nämlich an einen in La Luviere gehaltenen Vortrag des Sozialdemokraten Sassenbach über den gegenwärtigen Stand der sozialistischen Bewegung in Deutschland kam es zwischen Patrioten und Sozialisten zu einem Tumult, bei dem eine belgische Trikolore zerbrochen wurde. Daraufhin veranstalteten die Patrioten eine Sühnemanifestation, die von den Sozialisten natürlich mit einer Gegenmanifcstation antimilitaristischen Charakters beantwortet wurde. Bei dieser nun wurde unter andern: vom Verein ehemaliger sozialistischer Kriegsteilnehmer ein Banner geweiht, auf welchem die Figur eines belgisch uniformierten Soldaten, der ein Gewehr zerbricht, den Pazifismus darstellen sollte. Da an dieser Feier auch der sozialistische Minister Auseele teilgenommen hatte, ergriff der liberale Wehrminister Devöze, der seit Monaten vergeblich gegen die Mehrheit der Kammer für die anderthalbjährige Dienstzeit kämpfte, diese Gelegenheit, um seine Demission einzureichen. Daraufhin traten auch, um für den Wahlkampf frei zu sein, die vier sozialistischen Minister Vanderoelde, Anseele, Wauters und Destree aus. Die Gegensätze innerhalb der Regierung waren also so groß, daß sie in allen wichtigen Fragen aktionsunfähig war. Jeder entscheidende Beschluß mußte zum Austritt einer Partei, zur Ver¬ stärkung der Opposition, aber auch zur Verstärkung der nun ohne Vermittlung aneinanderprallenden Gegensätze beider in der Regierung verbleibenden Pmteien führen. Man mußte sich daher von Kompromiß zu Kompromiß weiterschleppen, was um so schwieriger war, als die brennendsten Fragen sich gerade nicht zu Kompromissen eigneten und allen Parteien daran gelegen sein mutzte, die intransigenten Wähler durch Ablehnung aller Kompromisse bei ihrer Siange zu halten. Man kann nicht sagen, und die Schwierigkeit der Kabinettsbildung beweist dies, daß die Lage sich durch die Wahlen irgendwie verbessert hätte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339548/394>, abgerufen am 28.04.2024.