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Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr.

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Kompliziert wird die Stellungnahme der Parteien zu einander durch die
Flamenfrage, die das ganze Land in zwei Lager zu spalten, aber auch die Parteien
selbst zu zersetzen droht. Wenigstens lassen sich bei den Katholiken bereits deutlich
zwei Flügel unterscheiden: der rechte unter Woeste, der in erster Linie klerikal und
konservativ und der linke, der ebenso entschieden klerikal, aber eben deswegen in
erster Linie flämisch und wiederum diesetwegen demokratisch ist. Die Sozialisten
wiederum sind ihrer Mentalität nach wohl vorzugsweise, wie auch die Liberalen,
französisch orientiert, haben jedoch, um den Klerikalen die Wählerstimmen zu ent¬
ziehen, die Flamenfrage als Vorspann benutzen müssen, was um so leichter ging,
als gerade die Masse der entschiedenen Flamen nicht gerade mit Glücksgütern
gesegnet sind. Es stehen also gegeneinander Bürgerliche gegen Sozialisten;
Wallonen, bürgerliche sowohl wie sozialistische wie der Hauptteil der liberalen, gegen
Flamen, klerikale und sozialistische; Nationalisten und Imperialisten, im wesentlichen
französisch orientierte, gegen Sozialisten, flämische wie wallonische, und Gemäßigte,
klerikale und flämische; Klerikale und Freidenker. Aus all diesen Gegen¬
sätzen ergibt sich wie man sieht, ein sehr labiles Kaleidoskop. Die Flamen
hoffen jetzt, das Stadtregiment von Antwerpen, wo Franz von Cauwelaert durch
den Ministerpräsidenten Carton de Wiart zum Bürgermeister bestätigt werden
mußte, weil sonst der klerikale Minister Van de Vijwere aus der Negierung aus¬
getreten wäre, und Kamiel Huysmans erster Schöffe ist, auf das ganze Land
ausdehnen zu können. Bei den Sozialisten ist nach den Wahlen Vandervelde
zunächst für ein Bündnis der wallonischen Sozialisten mit den Christlich-Sozialen
von der Färbung Cauwelaert eingetreten. Der Sozialist Destree aber hat sich
dagegen ausgesprochen. Auf ihrem Parteitag haben dann aber die Sozialisten
die Teilnahme an der Regierung stritte abgelehnt und folgendes Minimum-
Programm aufgestellt: Verallgemeinerung der sozialen Versicherungen (wozu
250 Millionen erforderlich sind), neue Gesetzgebung für die Bergwerke im Kempen-
lande, Arbeiterkontrolle über die Produktion, sechsmonatige Dienstzeit. Wir werden
nicht in die Regierung eintreten, soll Vandervelde gesagt haben, um sie desto
sicherer stürzen zu können. Die Liberalen aber haben folgende Bedingungen
gestellt: Ausreichende nationale Verteidigung, das Portefeuille für Künste und
Wissenschaften, Sparsamkeit und Gesundung der Finanzen. Ein Programm also,
das weder Sozialisten, noch, wegen der Sprachenfrage, Klerikale annehmen können.
Die Klerikalen allein endlich können keine Negierung bilden, weil sie, wie gesagt,
in Kammer wie Senat in der Minderheit sind. Daß auch ein Geschäfts-
Ministerium harte Tage haben muß, braucht nach all dem nicht weiter ausgeführt zu
werden und es ist schwer abzusehen, wie das Land aus dieser verworrenen Lage
herauskommen will. Theoretisch ließe sich denken, daß man den Wahlmodus wieder
zuungunsten der Minderheiten abändert und die daraus entstehenden Ungesetzlichkeiten
den raktischen Ergebnissen zuliebe als Naturgegebenh-nten der Politik hinnimmt. Aber
es leuchtet ein. daß ein solcher Ausweg bei dem gegenwärtig in Europa
grassierenden Fanatismus für theoretische Gerechtigkeit, der überall zu einem
geradezu kabbalistischen und weltfremden Spielen mit Wählerstimmenzahlen ge¬
führt hat, eben nur denkbar ist. Es sieht wirklich so aus, als ob das Abendland
noch tiefer in eine unheilvolle Anarchie sinken müßte, ehe es die Energie auf¬
bringt, sich vor den großen Notwendigkeiten des Lebens zu beugen, die überall,
wie in der Natur selbst, Ungerechtigkeiten sein müssen und wohl durch elemen¬
tare praktische Menschlichkeit von Individuum zu Individuum aber durch keine
Theorie, die an Stelle geistiger Werte Zahlen setzt, ausgeglichen werden können.

Eine ganz ähnliche Verworrenheit hat ein stark theoretisierendes und die
Minderheiten praktisch über Gebühr begünstigendes Wahlgesetz in Italien gezeitigt.
Hinzugekommen ist hier infolge des sür Italien trotz allem ungünsttgen außen¬
politischen Ergebnisses des Krieges der Gegensatz zwischen Fascisten und Sozia¬
lisier,, der deutlich und warnend zeigt, wie zersetzend und die Staatsgewalt als
solche erschütternd, nationale Forderungen wirken können, die nicht wirklich in
einer überwältigenden Mehrheit der Nation verwurzelt sind. Gerade dies macht


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Kompliziert wird die Stellungnahme der Parteien zu einander durch die
Flamenfrage, die das ganze Land in zwei Lager zu spalten, aber auch die Parteien
selbst zu zersetzen droht. Wenigstens lassen sich bei den Katholiken bereits deutlich
zwei Flügel unterscheiden: der rechte unter Woeste, der in erster Linie klerikal und
konservativ und der linke, der ebenso entschieden klerikal, aber eben deswegen in
erster Linie flämisch und wiederum diesetwegen demokratisch ist. Die Sozialisten
wiederum sind ihrer Mentalität nach wohl vorzugsweise, wie auch die Liberalen,
französisch orientiert, haben jedoch, um den Klerikalen die Wählerstimmen zu ent¬
ziehen, die Flamenfrage als Vorspann benutzen müssen, was um so leichter ging,
als gerade die Masse der entschiedenen Flamen nicht gerade mit Glücksgütern
gesegnet sind. Es stehen also gegeneinander Bürgerliche gegen Sozialisten;
Wallonen, bürgerliche sowohl wie sozialistische wie der Hauptteil der liberalen, gegen
Flamen, klerikale und sozialistische; Nationalisten und Imperialisten, im wesentlichen
französisch orientierte, gegen Sozialisten, flämische wie wallonische, und Gemäßigte,
klerikale und flämische; Klerikale und Freidenker. Aus all diesen Gegen¬
sätzen ergibt sich wie man sieht, ein sehr labiles Kaleidoskop. Die Flamen
hoffen jetzt, das Stadtregiment von Antwerpen, wo Franz von Cauwelaert durch
den Ministerpräsidenten Carton de Wiart zum Bürgermeister bestätigt werden
mußte, weil sonst der klerikale Minister Van de Vijwere aus der Negierung aus¬
getreten wäre, und Kamiel Huysmans erster Schöffe ist, auf das ganze Land
ausdehnen zu können. Bei den Sozialisten ist nach den Wahlen Vandervelde
zunächst für ein Bündnis der wallonischen Sozialisten mit den Christlich-Sozialen
von der Färbung Cauwelaert eingetreten. Der Sozialist Destree aber hat sich
dagegen ausgesprochen. Auf ihrem Parteitag haben dann aber die Sozialisten
die Teilnahme an der Regierung stritte abgelehnt und folgendes Minimum-
Programm aufgestellt: Verallgemeinerung der sozialen Versicherungen (wozu
250 Millionen erforderlich sind), neue Gesetzgebung für die Bergwerke im Kempen-
lande, Arbeiterkontrolle über die Produktion, sechsmonatige Dienstzeit. Wir werden
nicht in die Regierung eintreten, soll Vandervelde gesagt haben, um sie desto
sicherer stürzen zu können. Die Liberalen aber haben folgende Bedingungen
gestellt: Ausreichende nationale Verteidigung, das Portefeuille für Künste und
Wissenschaften, Sparsamkeit und Gesundung der Finanzen. Ein Programm also,
das weder Sozialisten, noch, wegen der Sprachenfrage, Klerikale annehmen können.
Die Klerikalen allein endlich können keine Negierung bilden, weil sie, wie gesagt,
in Kammer wie Senat in der Minderheit sind. Daß auch ein Geschäfts-
Ministerium harte Tage haben muß, braucht nach all dem nicht weiter ausgeführt zu
werden und es ist schwer abzusehen, wie das Land aus dieser verworrenen Lage
herauskommen will. Theoretisch ließe sich denken, daß man den Wahlmodus wieder
zuungunsten der Minderheiten abändert und die daraus entstehenden Ungesetzlichkeiten
den raktischen Ergebnissen zuliebe als Naturgegebenh-nten der Politik hinnimmt. Aber
es leuchtet ein. daß ein solcher Ausweg bei dem gegenwärtig in Europa
grassierenden Fanatismus für theoretische Gerechtigkeit, der überall zu einem
geradezu kabbalistischen und weltfremden Spielen mit Wählerstimmenzahlen ge¬
führt hat, eben nur denkbar ist. Es sieht wirklich so aus, als ob das Abendland
noch tiefer in eine unheilvolle Anarchie sinken müßte, ehe es die Energie auf¬
bringt, sich vor den großen Notwendigkeiten des Lebens zu beugen, die überall,
wie in der Natur selbst, Ungerechtigkeiten sein müssen und wohl durch elemen¬
tare praktische Menschlichkeit von Individuum zu Individuum aber durch keine
Theorie, die an Stelle geistiger Werte Zahlen setzt, ausgeglichen werden können.

Eine ganz ähnliche Verworrenheit hat ein stark theoretisierendes und die
Minderheiten praktisch über Gebühr begünstigendes Wahlgesetz in Italien gezeitigt.
Hinzugekommen ist hier infolge des sür Italien trotz allem ungünsttgen außen¬
politischen Ergebnisses des Krieges der Gegensatz zwischen Fascisten und Sozia¬
lisier,, der deutlich und warnend zeigt, wie zersetzend und die Staatsgewalt als
solche erschütternd, nationale Forderungen wirken können, die nicht wirklich in
einer überwältigenden Mehrheit der Nation verwurzelt sind. Gerade dies macht


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[0395] Weltspiegel Kompliziert wird die Stellungnahme der Parteien zu einander durch die Flamenfrage, die das ganze Land in zwei Lager zu spalten, aber auch die Parteien selbst zu zersetzen droht. Wenigstens lassen sich bei den Katholiken bereits deutlich zwei Flügel unterscheiden: der rechte unter Woeste, der in erster Linie klerikal und konservativ und der linke, der ebenso entschieden klerikal, aber eben deswegen in erster Linie flämisch und wiederum diesetwegen demokratisch ist. Die Sozialisten wiederum sind ihrer Mentalität nach wohl vorzugsweise, wie auch die Liberalen, französisch orientiert, haben jedoch, um den Klerikalen die Wählerstimmen zu ent¬ ziehen, die Flamenfrage als Vorspann benutzen müssen, was um so leichter ging, als gerade die Masse der entschiedenen Flamen nicht gerade mit Glücksgütern gesegnet sind. Es stehen also gegeneinander Bürgerliche gegen Sozialisten; Wallonen, bürgerliche sowohl wie sozialistische wie der Hauptteil der liberalen, gegen Flamen, klerikale und sozialistische; Nationalisten und Imperialisten, im wesentlichen französisch orientierte, gegen Sozialisten, flämische wie wallonische, und Gemäßigte, klerikale und flämische; Klerikale und Freidenker. Aus all diesen Gegen¬ sätzen ergibt sich wie man sieht, ein sehr labiles Kaleidoskop. Die Flamen hoffen jetzt, das Stadtregiment von Antwerpen, wo Franz von Cauwelaert durch den Ministerpräsidenten Carton de Wiart zum Bürgermeister bestätigt werden mußte, weil sonst der klerikale Minister Van de Vijwere aus der Negierung aus¬ getreten wäre, und Kamiel Huysmans erster Schöffe ist, auf das ganze Land ausdehnen zu können. Bei den Sozialisten ist nach den Wahlen Vandervelde zunächst für ein Bündnis der wallonischen Sozialisten mit den Christlich-Sozialen von der Färbung Cauwelaert eingetreten. Der Sozialist Destree aber hat sich dagegen ausgesprochen. Auf ihrem Parteitag haben dann aber die Sozialisten die Teilnahme an der Regierung stritte abgelehnt und folgendes Minimum- Programm aufgestellt: Verallgemeinerung der sozialen Versicherungen (wozu 250 Millionen erforderlich sind), neue Gesetzgebung für die Bergwerke im Kempen- lande, Arbeiterkontrolle über die Produktion, sechsmonatige Dienstzeit. Wir werden nicht in die Regierung eintreten, soll Vandervelde gesagt haben, um sie desto sicherer stürzen zu können. Die Liberalen aber haben folgende Bedingungen gestellt: Ausreichende nationale Verteidigung, das Portefeuille für Künste und Wissenschaften, Sparsamkeit und Gesundung der Finanzen. Ein Programm also, das weder Sozialisten, noch, wegen der Sprachenfrage, Klerikale annehmen können. Die Klerikalen allein endlich können keine Negierung bilden, weil sie, wie gesagt, in Kammer wie Senat in der Minderheit sind. Daß auch ein Geschäfts- Ministerium harte Tage haben muß, braucht nach all dem nicht weiter ausgeführt zu werden und es ist schwer abzusehen, wie das Land aus dieser verworrenen Lage herauskommen will. Theoretisch ließe sich denken, daß man den Wahlmodus wieder zuungunsten der Minderheiten abändert und die daraus entstehenden Ungesetzlichkeiten den raktischen Ergebnissen zuliebe als Naturgegebenh-nten der Politik hinnimmt. Aber es leuchtet ein. daß ein solcher Ausweg bei dem gegenwärtig in Europa grassierenden Fanatismus für theoretische Gerechtigkeit, der überall zu einem geradezu kabbalistischen und weltfremden Spielen mit Wählerstimmenzahlen ge¬ führt hat, eben nur denkbar ist. Es sieht wirklich so aus, als ob das Abendland noch tiefer in eine unheilvolle Anarchie sinken müßte, ehe es die Energie auf¬ bringt, sich vor den großen Notwendigkeiten des Lebens zu beugen, die überall, wie in der Natur selbst, Ungerechtigkeiten sein müssen und wohl durch elemen¬ tare praktische Menschlichkeit von Individuum zu Individuum aber durch keine Theorie, die an Stelle geistiger Werte Zahlen setzt, ausgeglichen werden können. Eine ganz ähnliche Verworrenheit hat ein stark theoretisierendes und die Minderheiten praktisch über Gebühr begünstigendes Wahlgesetz in Italien gezeitigt. Hinzugekommen ist hier infolge des sür Italien trotz allem ungünsttgen außen¬ politischen Ergebnisses des Krieges der Gegensatz zwischen Fascisten und Sozia¬ lisier,, der deutlich und warnend zeigt, wie zersetzend und die Staatsgewalt als solche erschütternd, nationale Forderungen wirken können, die nicht wirklich in einer überwältigenden Mehrheit der Nation verwurzelt sind. Gerade dies macht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 80, 1921, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341913_339548/395>, abgerufen am 14.05.2024.