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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Spinalneurosen.
in ersterer Beziehung z. B. jener merkwürdige Fall von Esquirol (die
Geisteskrankheiten, v. Bernhard. I. p. 153.), wo nach einem starken
Geruchseindrucke die Manie ausbrach; in zweiter Reihe z. B. die
Irritation von den Gedärmen aus durch Tänia und andere Entozoen,
vielleicht der Pruritus chronicus.

§. 83.

Früher bestandene Spinalneurosen können zu wichtigen Ur-
sachen des Irreseins werden, mögen sie in Zuständen ausgebildeter
Hysterie oder nur in beschränkteren Krampf- oder neuralgischen
Leiden bestehen. Geisteskrankheiten scheinen hier ebenso durch all-
mählige Ausbreitung über grössere Parthieen der Nervencentra, -- ein
Fall, in dem sich manche Hysterische befinden -- als durch rasches
Umspringen von einer Stelle zur andern entstehen zu können; im
letztern Falle können Irresein und andere nervöse Beschwerden oft,
sogar periodisch, miteinander wechseln. So erzählt Brodie *) von einer
Dame, die ein Jahr lang an anhaltendem Krampf des M. sternocleido-
mastoideus litt; plötzlich hörte er auf und sie verfiel in Schwermuth;
dieser Zustand dauerte wieder ein Jahr lang; worauf sie sich psychisch
erholte und der Krampf des Muskels zurückkehrte, der nun mehrere
Jahre anhielt; in einem andern Falle von Brodie wechselte ein neural-
gischer Zustand der Wirbelsäule mit wahrem Irresein.

Auch unter denjenigen Fällen, wo die Erkrankung von den Schrift-
stellern der Gicht zugeschrieben wird, mögen nicht wenige sein, die
auf einer Verwechslung der vagen, wandernden Spinalneuralgieen mit
jenem dyscrasischen Leiden beruhten. Die wichtigsten, hierher-
gehörigen Zustände aber, die zu Ursachen von Geisteskrankheit werden
können, sind die Wechselfieber. **). Von Sydenham bis heute wurden
nicht wenige solche Fälle, welche mit dem Processe der Intermittens
zusammenhängen, beobachtet, unter denen jedoch ein verschiedenes
Verhalten zu jenem Processe unterschieden werden kann- In der
einen -- kleinsten -- Reihe von Fällen verhält sich die Sache so,
dass an Orten, wo Wechselfieber endemisch sind, einzelne Individuen

*) Lectures on certain local nervous affections. Lond. 1837. p. 8.
**) Vgl. Sebastian, Bemerkungen über die Melancholie und Manie als Nach-
krankheiten der Wechselfieber. Hufel. Journal 1823. LVI. p. 3 seqq. Mongellaz,
Monographie des irritations intermittentes. Par. 1839. I. p. 638 seqq. Lippich,
Beiträge zur Psychiatrie. Oestr. Jahrbücher. Juni 1842. p. 282. seqq. Baillarger,
sur la Folie a la suite des fievres intermittentes. Annal. med. psychol. 1843. II.
p. 372.

Spinalneurosen.
in ersterer Beziehung z. B. jener merkwürdige Fall von Esquirol (die
Geisteskrankheiten, v. Bernhard. I. p. 153.), wo nach einem starken
Geruchseindrucke die Manie ausbrach; in zweiter Reihe z. B. die
Irritation von den Gedärmen aus durch Tänia und andere Entozoen,
vielleicht der Pruritus chronicus.

§. 83.

Früher bestandene Spinalneurosen können zu wichtigen Ur-
sachen des Irreseins werden, mögen sie in Zuständen ausgebildeter
Hysterie oder nur in beschränkteren Krampf- oder neuralgischen
Leiden bestehen. Geisteskrankheiten scheinen hier ebenso durch all-
mählige Ausbreitung über grössere Parthieen der Nervencentra, — ein
Fall, in dem sich manche Hysterische befinden — als durch rasches
Umspringen von einer Stelle zur andern entstehen zu können; im
letztern Falle können Irresein und andere nervöse Beschwerden oft,
sogar periodisch, miteinander wechseln. So erzählt Brodie *) von einer
Dame, die ein Jahr lang an anhaltendem Krampf des M. sternocleido-
mastoideus litt; plötzlich hörte er auf und sie verfiel in Schwermuth;
dieser Zustand dauerte wieder ein Jahr lang; worauf sie sich psychisch
erholte und der Krampf des Muskels zurückkehrte, der nun mehrere
Jahre anhielt; in einem andern Falle von Brodie wechselte ein neural-
gischer Zustand der Wirbelsäule mit wahrem Irresein.

Auch unter denjenigen Fällen, wo die Erkrankung von den Schrift-
stellern der Gicht zugeschrieben wird, mögen nicht wenige sein, die
auf einer Verwechslung der vagen, wandernden Spinalneuralgieen mit
jenem dyscrasischen Leiden beruhten. Die wichtigsten, hierher-
gehörigen Zustände aber, die zu Ursachen von Geisteskrankheit werden
können, sind die Wechselfieber. **). Von Sydenham bis heute wurden
nicht wenige solche Fälle, welche mit dem Processe der Intermittens
zusammenhängen, beobachtet, unter denen jedoch ein verschiedenes
Verhalten zu jenem Processe unterschieden werden kann- In der
einen — kleinsten — Reihe von Fällen verhält sich die Sache so,
dass an Orten, wo Wechselfieber endemisch sind, einzelne Individuen

*) Lectures on certain local nervous affections. Lond. 1837. p. 8.
**) Vgl. Sebastian, Bemerkungen über die Melancholie und Manie als Nach-
krankheiten der Wechselfieber. Hufel. Journal 1823. LVI. p. 3 seqq. Mongellaz,
Monographie des irritations intermittentes. Par. 1839. I. p. 638 seqq. Lippich,
Beiträge zur Psychiatrie. Oestr. Jahrbücher. Juni 1842. p. 282. seqq. Baillarger,
sur la Folie à la suite des fièvres intermittentes. Annal. med. psychol. 1843. II.
p. 372.
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[138/0152] Spinalneurosen. in ersterer Beziehung z. B. jener merkwürdige Fall von Esquirol (die Geisteskrankheiten, v. Bernhard. I. p. 153.), wo nach einem starken Geruchseindrucke die Manie ausbrach; in zweiter Reihe z. B. die Irritation von den Gedärmen aus durch Tänia und andere Entozoen, vielleicht der Pruritus chronicus. §. 83. Früher bestandene Spinalneurosen können zu wichtigen Ur- sachen des Irreseins werden, mögen sie in Zuständen ausgebildeter Hysterie oder nur in beschränkteren Krampf- oder neuralgischen Leiden bestehen. Geisteskrankheiten scheinen hier ebenso durch all- mählige Ausbreitung über grössere Parthieen der Nervencentra, — ein Fall, in dem sich manche Hysterische befinden — als durch rasches Umspringen von einer Stelle zur andern entstehen zu können; im letztern Falle können Irresein und andere nervöse Beschwerden oft, sogar periodisch, miteinander wechseln. So erzählt Brodie *) von einer Dame, die ein Jahr lang an anhaltendem Krampf des M. sternocleido- mastoideus litt; plötzlich hörte er auf und sie verfiel in Schwermuth; dieser Zustand dauerte wieder ein Jahr lang; worauf sie sich psychisch erholte und der Krampf des Muskels zurückkehrte, der nun mehrere Jahre anhielt; in einem andern Falle von Brodie wechselte ein neural- gischer Zustand der Wirbelsäule mit wahrem Irresein. Auch unter denjenigen Fällen, wo die Erkrankung von den Schrift- stellern der Gicht zugeschrieben wird, mögen nicht wenige sein, die auf einer Verwechslung der vagen, wandernden Spinalneuralgieen mit jenem dyscrasischen Leiden beruhten. Die wichtigsten, hierher- gehörigen Zustände aber, die zu Ursachen von Geisteskrankheit werden können, sind die Wechselfieber. **). Von Sydenham bis heute wurden nicht wenige solche Fälle, welche mit dem Processe der Intermittens zusammenhängen, beobachtet, unter denen jedoch ein verschiedenes Verhalten zu jenem Processe unterschieden werden kann- In der einen — kleinsten — Reihe von Fällen verhält sich die Sache so, dass an Orten, wo Wechselfieber endemisch sind, einzelne Individuen *) Lectures on certain local nervous affections. Lond. 1837. p. 8. **) Vgl. Sebastian, Bemerkungen über die Melancholie und Manie als Nach- krankheiten der Wechselfieber. Hufel. Journal 1823. LVI. p. 3 seqq. Mongellaz, Monographie des irritations intermittentes. Par. 1839. I. p. 638 seqq. Lippich, Beiträge zur Psychiatrie. Oestr. Jahrbücher. Juni 1842. p. 282. seqq. Baillarger, sur la Folie à la suite des fièvres intermittentes. Annal. med. psychol. 1843. II. p. 372.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 138. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/152>, abgerufen am 26.04.2024.