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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Melancholie mit Stumpfsinn.
Unheil angerichtet zu haben, weiss aber nicht, welches. Alles um sie her ist
verändert. Ohrensausen, Gehörshallucinationen, beim Einschlafen sieht sie
Schatten, Gesichter etc.; plötzliches Aufschrecken; Verstopfung, ziemlich Ap-
petit. Puls 100, Haut nicht heiss. -- Laxanzen, Ermunterung zur Arbeit, Zwang
zum Spaziergang und Gesellschaft, Bäder, Besserung. -- Am 27. Decbr. Wieder-
kehr der Regeln ohne Selbstmordversuch und ohne Verschlimmerung. Nach ihrem
Aufhören schnelle Besserung, freiwilliger Antheil an häuslichen Geschäften, Ge-
sprächigkeit. Am 6. Jan. wird sie ganz verständig gefunden, und gibt Fol-
gendes an: Während der Delirien sah sie Feuer um sich und brannte selbst,
ohne Schmerz zu empfinden, sie roch hässliche Gerüche, die Speisen hatten keinen
Geschmack für sie. Die Nächte schienen ihr doppelt so lang als gewöhnlich.
Sie hörte Stimmen um sich her, ohne die Worte unterscheiden zu können. Zuerst
glaubte sie sich in einem Gefängniss, und hielt die Kranken (Weiber) für ver-
kleidete Männer. Des Morgens sah sie die Gegenstände klarer, als Abends.
Ganz im Anfang glaubte sie, man werde sie in Kessel voll siedenden Wassers
werfen, sie hörte es sieden und glaubte zu hören, wie man Kohlen nachlegte.
Ursache des Selbstmords war die völlige Umkehrung aller Dinge um sie, für
deren Ursache sie sich hielt; sie hielt sich für Schuld an allen Beschwerden
und Klagen der Kranken um sie herum, und hielt es desshalb für das Beste, zu
sterben. (Baillarger, l. c.)


Viertes Capitel.
Die Schwermuth mit Aeusserung von Zerstörungstrieben.
§. 102.

In diesen Zuständen erheben sich aus dem affectartigen Grund-
zustande der Verstimmung, der Angst, überhaupt des psychischen
Schmerzes, gewisse Triebe und Willensrichtungen, welche in äusseren
Handlungen realisirt werden, sämmtlich von negativem, finsterm, feind-
lichem, zerstörendem Character. Die negirenden Vorstellungen und
Gefühle, die hier zu Bestrebungen werden, die Thaten, die aus ihnen
hervorgehen, können theils gegen die eigene Person, theils gegen
andere Menschen, theils gegen leblose Gegenstände gerichtet sein;
je nach der Verschiedenheit der äusseren Handlung hat man diese
Fälle als verschiedene Monomanieen (Mord-, Selbstmord-, Brand-
stiftungs-Monomanie etc.) beschrieben. (Vgl. p. 62.)

A. Der Selbstmord.

Nicht die ganze psychologische und ätiologische Geschichte des
Selbstmords gehört der Psychiatrie an; denn -- was auch einzelne

Melancholie mit Stumpfsinn.
Unheil angerichtet zu haben, weiss aber nicht, welches. Alles um sie her ist
verändert. Ohrensausen, Gehörshallucinationen, beim Einschlafen sieht sie
Schatten, Gesichter etc.; plötzliches Aufschrecken; Verstopfung, ziemlich Ap-
petit. Puls 100, Haut nicht heiss. — Laxanzen, Ermunterung zur Arbeit, Zwang
zum Spaziergang und Gesellschaft, Bäder, Besserung. — Am 27. Decbr. Wieder-
kehr der Regeln ohne Selbstmordversuch und ohne Verschlimmerung. Nach ihrem
Aufhören schnelle Besserung, freiwilliger Antheil an häuslichen Geschäften, Ge-
sprächigkeit. Am 6. Jan. wird sie ganz verständig gefunden, und gibt Fol-
gendes an: Während der Delirien sah sie Feuer um sich und brannte selbst,
ohne Schmerz zu empfinden, sie roch hässliche Gerüche, die Speisen hatten keinen
Geschmack für sie. Die Nächte schienen ihr doppelt so lang als gewöhnlich.
Sie hörte Stimmen um sich her, ohne die Worte unterscheiden zu können. Zuerst
glaubte sie sich in einem Gefängniss, und hielt die Kranken (Weiber) für ver-
kleidete Männer. Des Morgens sah sie die Gegenstände klarer, als Abends.
Ganz im Anfang glaubte sie, man werde sie in Kessel voll siedenden Wassers
werfen, sie hörte es sieden und glaubte zu hören, wie man Kohlen nachlegte.
Ursache des Selbstmords war die völlige Umkehrung aller Dinge um sie, für
deren Ursache sie sich hielt; sie hielt sich für Schuld an allen Beschwerden
und Klagen der Kranken um sie herum, und hielt es desshalb für das Beste, zu
sterben. (Baillarger, l. c.)


Viertes Capitel.
Die Schwermuth mit Aeusserung von Zerstörungstrieben.
§. 102.

In diesen Zuständen erheben sich aus dem affectartigen Grund-
zustande der Verstimmung, der Angst, überhaupt des psychischen
Schmerzes, gewisse Triebe und Willensrichtungen, welche in äusseren
Handlungen realisirt werden, sämmtlich von negativem, finsterm, feind-
lichem, zerstörendem Character. Die negirenden Vorstellungen und
Gefühle, die hier zu Bestrebungen werden, die Thaten, die aus ihnen
hervorgehen, können theils gegen die eigene Person, theils gegen
andere Menschen, theils gegen leblose Gegenstände gerichtet sein;
je nach der Verschiedenheit der äusseren Handlung hat man diese
Fälle als verschiedene Monomanieen (Mord-, Selbstmord-, Brand-
stiftungs-Monomanie etc.) beschrieben. (Vgl. p. 62.)

A. Der Selbstmord.

Nicht die ganze psychologische und ätiologische Geschichte des
Selbstmords gehört der Psychiatrie an; denn — was auch einzelne

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[191/0205] Melancholie mit Stumpfsinn. Unheil angerichtet zu haben, weiss aber nicht, welches. Alles um sie her ist verändert. Ohrensausen, Gehörshallucinationen, beim Einschlafen sieht sie Schatten, Gesichter etc.; plötzliches Aufschrecken; Verstopfung, ziemlich Ap- petit. Puls 100, Haut nicht heiss. — Laxanzen, Ermunterung zur Arbeit, Zwang zum Spaziergang und Gesellschaft, Bäder, Besserung. — Am 27. Decbr. Wieder- kehr der Regeln ohne Selbstmordversuch und ohne Verschlimmerung. Nach ihrem Aufhören schnelle Besserung, freiwilliger Antheil an häuslichen Geschäften, Ge- sprächigkeit. Am 6. Jan. wird sie ganz verständig gefunden, und gibt Fol- gendes an: Während der Delirien sah sie Feuer um sich und brannte selbst, ohne Schmerz zu empfinden, sie roch hässliche Gerüche, die Speisen hatten keinen Geschmack für sie. Die Nächte schienen ihr doppelt so lang als gewöhnlich. Sie hörte Stimmen um sich her, ohne die Worte unterscheiden zu können. Zuerst glaubte sie sich in einem Gefängniss, und hielt die Kranken (Weiber) für ver- kleidete Männer. Des Morgens sah sie die Gegenstände klarer, als Abends. Ganz im Anfang glaubte sie, man werde sie in Kessel voll siedenden Wassers werfen, sie hörte es sieden und glaubte zu hören, wie man Kohlen nachlegte. Ursache des Selbstmords war die völlige Umkehrung aller Dinge um sie, für deren Ursache sie sich hielt; sie hielt sich für Schuld an allen Beschwerden und Klagen der Kranken um sie herum, und hielt es desshalb für das Beste, zu sterben. (Baillarger, l. c.) Viertes Capitel. Die Schwermuth mit Aeusserung von Zerstörungstrieben. §. 102. In diesen Zuständen erheben sich aus dem affectartigen Grund- zustande der Verstimmung, der Angst, überhaupt des psychischen Schmerzes, gewisse Triebe und Willensrichtungen, welche in äusseren Handlungen realisirt werden, sämmtlich von negativem, finsterm, feind- lichem, zerstörendem Character. Die negirenden Vorstellungen und Gefühle, die hier zu Bestrebungen werden, die Thaten, die aus ihnen hervorgehen, können theils gegen die eigene Person, theils gegen andere Menschen, theils gegen leblose Gegenstände gerichtet sein; je nach der Verschiedenheit der äusseren Handlung hat man diese Fälle als verschiedene Monomanieen (Mord-, Selbstmord-, Brand- stiftungs-Monomanie etc.) beschrieben. (Vgl. p. 62.) A. Der Selbstmord. Nicht die ganze psychologische und ätiologische Geschichte des Selbstmords gehört der Psychiatrie an; denn — was auch einzelne

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/205>, abgerufen am 26.04.2024.