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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Schwermuth im Uebergang zur Tobsucht.
jenes äusserlichen Zusammenstellens, wenn dieser Fall eben auch (wieder von
Sc. Pinel, pathol. cerebr. p. 328) unter der "Pyromanie" aufgeführt wird.

XXIV. Schwermuth mit ruhiger Neigung zum Zerstören. Marie
Z., etwa 30 Jahre alt, von einem von Natur eigensinnigen Character, wurde in
Folge von häuslichem Kummer geisteskrank. Sie glaubte sich verloren und zu
Höllenstrafen verdammt. Nachdem sie Selbstmord versucht hatte, kam sie in
unsere Anstalt mit bläulicher Haut am Halse und noch die Spuren des Stricks
an sich tragend, mit dem sie sich hatte hängen wollen. Während ihres Aufent-
haltes im Spital überliess sie sich stets der grössten Verzweiflung; sie sass von
Morgen bis zum Abend an ihrem Bette, den Kopf auf ihre Hand gestützt und
antwortete nur mit einzelnen Sylben. Zuweilen unterhielt sie sich ziemlich lange
über eine fürchterliche Strafe, die ihrer warte. Eines Tags verschaffte sie sich
eine Scheere und durchlöcherte eine Matraze und ihre Haube mit einer Menge
kleiner Einschnitte, und diess ohne die geringste Spur von Verdruss oder Zorn;
sie versicherte mich ganz treuherzig, diese Begierde in ihre Kleider hineinzu-
schneiden, sei ein Trieb, dem sie nicht widerstehen könne. -- Nach zwei Jahren
genas sie vollständig. --

(Guislain, Phrenopathieen. Uebersetzt von Wunderlich. 1838. p. 279.)


Fünftes Capitel.
Schwermuth mit anhaltender Willensaufregung.

In den beiden letzten Abtheilungen sind Zustände erörtert worden,
wo der krankhafte Affect sich in einzelnen Impulsen zu Werken der
Zerstörung äussert. Je allgemeiner, ausgebreiteter und je anhaltender nun
die motorische Seite des Seelenlebens von dem psychischen Schmerze
miterregt wird, je vager und permanenter die krankhafte Willensauf-
regung wird, um so weniger rechnet man diese Zustände mehr zur
Schwermuth -- um so mehr gehören sie der Form der Tobsucht
an. Es ist unnöthig und unmöglich, alle Mittelformen zu schildern,
durch die solcher Uebergang der Schwermuth in die maniacalische Auf-
regung geschieht; die ausgeprägtere Form wird eben in dem nächsten
Abschnitte dargestellt werden.

Wichtig aber ist es zu wissen, dass es solche Zustände von
negativem Affect und anhaltender Willenserregung von mässiger In-
tensität und sehr chronischem Verlaufe gibt, welche als habituelle
Charactereigenthümlichkeiten fortbestehen und sich an die oben (p. 166)
erörterten Zustände milder chronischer Schwermuth als deren active
Form anschliessen. Einzelne dieser Fälle sind als Gemüthswahnsinn,
als Mania sine delirio, als folie raisonnante, moral insanity (Prichard)
von den Schriftstellern aufgeführt. -- Diese Zustände kommen als

Schwermuth im Uebergang zur Tobsucht.
jenes äusserlichen Zusammenstellens, wenn dieser Fall eben auch (wieder von
Sc. Pinel, pathol. cérébr. p. 328) unter der „Pyromanie“ aufgeführt wird.

XXIV. Schwermuth mit ruhiger Neigung zum Zerstören. Marie
Z., etwa 30 Jahre alt, von einem von Natur eigensinnigen Character, wurde in
Folge von häuslichem Kummer geisteskrank. Sie glaubte sich verloren und zu
Höllenstrafen verdammt. Nachdem sie Selbstmord versucht hatte, kam sie in
unsere Anstalt mit bläulicher Haut am Halse und noch die Spuren des Stricks
an sich tragend, mit dem sie sich hatte hängen wollen. Während ihres Aufent-
haltes im Spital überliess sie sich stets der grössten Verzweiflung; sie sass von
Morgen bis zum Abend an ihrem Bette, den Kopf auf ihre Hand gestützt und
antwortete nur mit einzelnen Sylben. Zuweilen unterhielt sie sich ziemlich lange
über eine fürchterliche Strafe, die ihrer warte. Eines Tags verschaffte sie sich
eine Scheere und durchlöcherte eine Matraze und ihre Haube mit einer Menge
kleiner Einschnitte, und diess ohne die geringste Spur von Verdruss oder Zorn;
sie versicherte mich ganz treuherzig, diese Begierde in ihre Kleider hineinzu-
schneiden, sei ein Trieb, dem sie nicht widerstehen könne. — Nach zwei Jahren
genas sie vollständig. —

(Guislain, Phrenopathieen. Uebersetzt von Wunderlich. 1838. p. 279.)


Fünftes Capitel.
Schwermuth mit anhaltender Willensaufregung.

In den beiden letzten Abtheilungen sind Zustände erörtert worden,
wo der krankhafte Affect sich in einzelnen Impulsen zu Werken der
Zerstörung äussert. Je allgemeiner, ausgebreiteter und je anhaltender nun
die motorische Seite des Seelenlebens von dem psychischen Schmerze
miterregt wird, je vager und permanenter die krankhafte Willensauf-
regung wird, um so weniger rechnet man diese Zustände mehr zur
Schwermuth — um so mehr gehören sie der Form der Tobsucht
an. Es ist unnöthig und unmöglich, alle Mittelformen zu schildern,
durch die solcher Uebergang der Schwermuth in die maniacalische Auf-
regung geschieht; die ausgeprägtere Form wird eben in dem nächsten
Abschnitte dargestellt werden.

Wichtig aber ist es zu wissen, dass es solche Zustände von
negativem Affect und anhaltender Willenserregung von mässiger In-
tensität und sehr chronischem Verlaufe gibt, welche als habituelle
Charactereigenthümlichkeiten fortbestehen und sich an die oben (p. 166)
erörterten Zustände milder chronischer Schwermuth als deren active
Form anschliessen. Einzelne dieser Fälle sind als Gemüthswahnsinn,
als Mania sine delirio, als folie raisonnante, moral insanity (Prichard)
von den Schriftstellern aufgeführt. — Diese Zustände kommen als

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[207/0221] Schwermuth im Uebergang zur Tobsucht. jenes äusserlichen Zusammenstellens, wenn dieser Fall eben auch (wieder von Sc. Pinel, pathol. cérébr. p. 328) unter der „Pyromanie“ aufgeführt wird. XXIV. Schwermuth mit ruhiger Neigung zum Zerstören. Marie Z., etwa 30 Jahre alt, von einem von Natur eigensinnigen Character, wurde in Folge von häuslichem Kummer geisteskrank. Sie glaubte sich verloren und zu Höllenstrafen verdammt. Nachdem sie Selbstmord versucht hatte, kam sie in unsere Anstalt mit bläulicher Haut am Halse und noch die Spuren des Stricks an sich tragend, mit dem sie sich hatte hängen wollen. Während ihres Aufent- haltes im Spital überliess sie sich stets der grössten Verzweiflung; sie sass von Morgen bis zum Abend an ihrem Bette, den Kopf auf ihre Hand gestützt und antwortete nur mit einzelnen Sylben. Zuweilen unterhielt sie sich ziemlich lange über eine fürchterliche Strafe, die ihrer warte. Eines Tags verschaffte sie sich eine Scheere und durchlöcherte eine Matraze und ihre Haube mit einer Menge kleiner Einschnitte, und diess ohne die geringste Spur von Verdruss oder Zorn; sie versicherte mich ganz treuherzig, diese Begierde in ihre Kleider hineinzu- schneiden, sei ein Trieb, dem sie nicht widerstehen könne. — Nach zwei Jahren genas sie vollständig. — (Guislain, Phrenopathieen. Uebersetzt von Wunderlich. 1838. p. 279.) Fünftes Capitel. Schwermuth mit anhaltender Willensaufregung. In den beiden letzten Abtheilungen sind Zustände erörtert worden, wo der krankhafte Affect sich in einzelnen Impulsen zu Werken der Zerstörung äussert. Je allgemeiner, ausgebreiteter und je anhaltender nun die motorische Seite des Seelenlebens von dem psychischen Schmerze miterregt wird, je vager und permanenter die krankhafte Willensauf- regung wird, um so weniger rechnet man diese Zustände mehr zur Schwermuth — um so mehr gehören sie der Form der Tobsucht an. Es ist unnöthig und unmöglich, alle Mittelformen zu schildern, durch die solcher Uebergang der Schwermuth in die maniacalische Auf- regung geschieht; die ausgeprägtere Form wird eben in dem nächsten Abschnitte dargestellt werden. Wichtig aber ist es zu wissen, dass es solche Zustände von negativem Affect und anhaltender Willenserregung von mässiger In- tensität und sehr chronischem Verlaufe gibt, welche als habituelle Charactereigenthümlichkeiten fortbestehen und sich an die oben (p. 166) erörterten Zustände milder chronischer Schwermuth als deren active Form anschliessen. Einzelne dieser Fälle sind als Gemüthswahnsinn, als Mania sine delirio, als folie raisonnante, moral insanity (Prichard) von den Schriftstellern aufgeführt. — Diese Zustände kommen als

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 207. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/221>, abgerufen am 27.04.2024.