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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Die Störungen des Gedächtnisses.
der Einschüchterung des Urtheils durch ein widriges Ereigniss, auch in dem
s. g. Schmollen, theils in der Confusion der Ideen durch Furcht; für die zweite
Reihe in der Schwatzhaftigkeit ohne wahren Gedankeninhalt, in der innerlichen
Verwirrung, die durch copiose, gleichzeitige Aufnahme vieler Ideen dann ent-
stehen kann, wenn noch keine gemeinsame Punkte und leitende Richtungen in
ihnen aufzufinden sind, oder wieder in der Incohärenz der Traumbilder.

§. 38.

Was noch besonders das Gedächtniss betrifft, so findet sich
ein höchst verschiedenes Verhalten desselben bei den Irren. Mitunter
ist es vollständig treu, sowohl für die Ereignisse des früheren Lebens,
als für die während der Krankheit. Eine krankhafte Erhöhung des-
selben ward im vorigen §. erwähnt. Viel häufiger aber ist eine
Schwächung desselben in verschiedenen Modalitäten. Namentlich die
Form des Blödsinns zeichnet sich in der Weise durch Schwäche des
Gedächtnisses aus, dass das eben jetzt Geschehende schnell, oft von
einem Augenblicke zum andern vergessen wird, während es oft an
Erinnerungen aus dem früheren Leben nicht fehlt, die sogar den
Stoff zu einem ziemlich geordneten Gespräche geben können. An-
deremale ist gerade der Inhalt des vergangenen Lebens entweder
(selten) völlig aus der Tafel der Erinnerung weggewischt oder (öfter)
wenigstens in eine solche Ferne gerückt, so undeutlich und dem In-
dividuum so fremd geworden, dass es denselben kaum mehr als sein
Erlebniss anerkennen kann; hier wird dann oft die eigene, wirkliche
Existenz erst von den Tagen der Erkrankung an datirt und das Frühere
entweder einer fremden Persönlichkeit oder wenigstens einem früheren
ganz anderen Zustande (einem Scheinleben) zugeschrieben. Dieser
völlige Abfall vom früheren Ich beruht freilich nicht allein auf Ge-
dächtnissmangel, sondern wird gewöhnlich durch besondere sensitive
Anomalieen (§. 43.) mit hervorgebracht und beharrlich gemacht; aber das
Verschwinden ganzer Massen früherer Vorstellungen begünstigt ausser-
ordentlich die consequente, innere Durchführung eines solchen Wahns. *)

Der vom Irresein Genesene erinnert sich in der Regel der Er-
eignisse während seiner Krankheit und kann oft mit wunderbarer Treue
und Schärfe die kleinsten Vorkommnisse in der Aussenwelt und das
feinere Detail seiner Motive und seiner Stimmung während der Krank-
heit angeben. Er weiss oft noch jeden Blick, jedes Wort, jede
Mienenveränderung seiner Besucher zu schildern -- eine beiläufige
Aufforderung an die Umgebung der Irren zu einer steten, strengen
Achtsamkeit auf sich selbst, zur Gerechtigkeit und Milde, wenn es

*) Beispiele finden sich unten im §. 43. und bei der Verrücktheit.

Die Störungen des Gedächtnisses.
der Einschüchterung des Urtheils durch ein widriges Ereigniss, auch in dem
s. g. Schmollen, theils in der Confusion der Ideen durch Furcht; für die zweite
Reihe in der Schwatzhaftigkeit ohne wahren Gedankeninhalt, in der innerlichen
Verwirrung, die durch copiose, gleichzeitige Aufnahme vieler Ideen dann ent-
stehen kann, wenn noch keine gemeinsame Punkte und leitende Richtungen in
ihnen aufzufinden sind, oder wieder in der Incohärenz der Traumbilder.

§. 38.

Was noch besonders das Gedächtniss betrifft, so findet sich
ein höchst verschiedenes Verhalten desselben bei den Irren. Mitunter
ist es vollständig treu, sowohl für die Ereignisse des früheren Lebens,
als für die während der Krankheit. Eine krankhafte Erhöhung des-
selben ward im vorigen §. erwähnt. Viel häufiger aber ist eine
Schwächung desselben in verschiedenen Modalitäten. Namentlich die
Form des Blödsinns zeichnet sich in der Weise durch Schwäche des
Gedächtnisses aus, dass das eben jetzt Geschehende schnell, oft von
einem Augenblicke zum andern vergessen wird, während es oft an
Erinnerungen aus dem früheren Leben nicht fehlt, die sogar den
Stoff zu einem ziemlich geordneten Gespräche geben können. An-
deremale ist gerade der Inhalt des vergangenen Lebens entweder
(selten) völlig aus der Tafel der Erinnerung weggewischt oder (öfter)
wenigstens in eine solche Ferne gerückt, so undeutlich und dem In-
dividuum so fremd geworden, dass es denselben kaum mehr als sein
Erlebniss anerkennen kann; hier wird dann oft die eigene, wirkliche
Existenz erst von den Tagen der Erkrankung an datirt und das Frühere
entweder einer fremden Persönlichkeit oder wenigstens einem früheren
ganz anderen Zustande (einem Scheinleben) zugeschrieben. Dieser
völlige Abfall vom früheren Ich beruht freilich nicht allein auf Ge-
dächtnissmangel, sondern wird gewöhnlich durch besondere sensitive
Anomalieen (§. 43.) mit hervorgebracht und beharrlich gemacht; aber das
Verschwinden ganzer Massen früherer Vorstellungen begünstigt ausser-
ordentlich die consequente, innere Durchführung eines solchen Wahns. *)

Der vom Irresein Genesene erinnert sich in der Regel der Er-
eignisse während seiner Krankheit und kann oft mit wunderbarer Treue
und Schärfe die kleinsten Vorkommnisse in der Aussenwelt und das
feinere Detail seiner Motive und seiner Stimmung während der Krank-
heit angeben. Er weiss oft noch jeden Blick, jedes Wort, jede
Mienenveränderung seiner Besucher zu schildern — eine beiläufige
Aufforderung an die Umgebung der Irren zu einer steten, strengen
Achtsamkeit auf sich selbst, zur Gerechtigkeit und Milde, wenn es

*) Beispiele finden sich unten im §. 43. und bei der Verrücktheit.
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[57/0071] Die Störungen des Gedächtnisses. der Einschüchterung des Urtheils durch ein widriges Ereigniss, auch in dem s. g. Schmollen, theils in der Confusion der Ideen durch Furcht; für die zweite Reihe in der Schwatzhaftigkeit ohne wahren Gedankeninhalt, in der innerlichen Verwirrung, die durch copiose, gleichzeitige Aufnahme vieler Ideen dann ent- stehen kann, wenn noch keine gemeinsame Punkte und leitende Richtungen in ihnen aufzufinden sind, oder wieder in der Incohärenz der Traumbilder. §. 38. Was noch besonders das Gedächtniss betrifft, so findet sich ein höchst verschiedenes Verhalten desselben bei den Irren. Mitunter ist es vollständig treu, sowohl für die Ereignisse des früheren Lebens, als für die während der Krankheit. Eine krankhafte Erhöhung des- selben ward im vorigen §. erwähnt. Viel häufiger aber ist eine Schwächung desselben in verschiedenen Modalitäten. Namentlich die Form des Blödsinns zeichnet sich in der Weise durch Schwäche des Gedächtnisses aus, dass das eben jetzt Geschehende schnell, oft von einem Augenblicke zum andern vergessen wird, während es oft an Erinnerungen aus dem früheren Leben nicht fehlt, die sogar den Stoff zu einem ziemlich geordneten Gespräche geben können. An- deremale ist gerade der Inhalt des vergangenen Lebens entweder (selten) völlig aus der Tafel der Erinnerung weggewischt oder (öfter) wenigstens in eine solche Ferne gerückt, so undeutlich und dem In- dividuum so fremd geworden, dass es denselben kaum mehr als sein Erlebniss anerkennen kann; hier wird dann oft die eigene, wirkliche Existenz erst von den Tagen der Erkrankung an datirt und das Frühere entweder einer fremden Persönlichkeit oder wenigstens einem früheren ganz anderen Zustande (einem Scheinleben) zugeschrieben. Dieser völlige Abfall vom früheren Ich beruht freilich nicht allein auf Ge- dächtnissmangel, sondern wird gewöhnlich durch besondere sensitive Anomalieen (§. 43.) mit hervorgebracht und beharrlich gemacht; aber das Verschwinden ganzer Massen früherer Vorstellungen begünstigt ausser- ordentlich die consequente, innere Durchführung eines solchen Wahns. *) Der vom Irresein Genesene erinnert sich in der Regel der Er- eignisse während seiner Krankheit und kann oft mit wunderbarer Treue und Schärfe die kleinsten Vorkommnisse in der Aussenwelt und das feinere Detail seiner Motive und seiner Stimmung während der Krank- heit angeben. Er weiss oft noch jeden Blick, jedes Wort, jede Mienenveränderung seiner Besucher zu schildern — eine beiläufige Aufforderung an die Umgebung der Irren zu einer steten, strengen Achtsamkeit auf sich selbst, zur Gerechtigkeit und Milde, wenn es *) Beispiele finden sich unten im §. 43. und bei der Verrücktheit.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 57. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/71>, abgerufen am 26.04.2024.