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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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Willensstörungen.
lichkeit geworden ist, bald eher mit dem Herrschen gewisser Leidenschaften,
z. B. der Liebe, der Eifersucht, dem Stolz, der Genussucht, dem Geiz etc., die in
ihren höheren Graden, wenn sie Alles Andere aus der Seele verdrängen, ebenso
das geistige Leben veröden, von denen mehrere auch in ihrem Ausdrucke z. B.
äusserliche Zerstreutheit bei innerlicher Concentration, Ziererei und Lust an äusserem
Prunk, mannigfache Aehnlichkeit mit den entsprechenden Formen des Irreseins haben.

C. Anomalieen des Wollens.
§. 41.

Auch die motorische Seite des Seelenlebens zeigt bei den Gei-
steskranken schwere und mannigfaltige Abweichungen vom mittleren
Zustande der Gesundheit, sowohl auf demjenigen innerlichen Gebiete,
wo deutliches Vorstellen zum bewussten Wollen wird, als auf dem,
wo ein undeutlicheres, aber deshalb nicht unkräftigeres Streben (Trieb)
durch sensitive Eindrücke und dunkle Gemüthsbewegungen erregt wird.

In ersterer Beziehung stehen sich als Extreme die Willenlosig-
keit
und das erhöhte, bis zum Schrankenlosen gesteigerte Wollen
entgegen. -- Die Willensschwäche kann aus der Unmöglichkeit, sich
zu entschliessen, hervorgehen und diese in Trägheit des Vorstellens
oder dem Mangel eines gehörig kräftigen Ich, das mit seinen Vor-
stellungsmassen eine schwebende Vorstellung zum Streben determi-
nirte, ihren Grund haben. Diese Zustände äussern sich als höchste
Bedenklichkeit, Unentschlossenheit, Unfähigkeit, die gewohnten Willens-
impulse, z. B. zu den habituellen Geschäften, aufzubringen und sind
in den ersten, melancholischen Stadien des Irreseins sehr häufig.
Andrerseits entsteht Willenlosigkeit (im Blödsinn) aus der Abwesen-
heit klarer Vorstellungen überhaupt; mit dem Denken nimmt auch
das Wollen ein Ende.

Die Willenssteigerung äussert sich als grosse Begehrlichkeit, als
Thatenlust, als Sucht, Plane zu machen, alle Vorstellungen in Be-
strebungen zu realisiren, auch als herrischer Eigensinn und gewalt-
thätiges, heftiges Begehren in bestimmten Richtungen, ähnlich den
consequenten, starken Willensrichtungen der Leidenschaft. Sie er-
scheint -- in ersterer Beziehung -- entweder als häufige Aeusserung
schwächlicher Velleitäten, oder sie ist wirklich begründet auf ein
Gefühl erhöhter körperlicher und psychischer Kraft, grösserer Rüstig-
keit und auf ein krankhaft erhöhtes Selbstgefühl. Das letztere ist
ganz besonders in der Form des sog. Wahnsinns der Fall.

Ueberhaupt aber bringen jedesmal die krankhaften Gemüths-
bewegungen den ihnen entsprechenden Zustand des Strebens mit
sich, und dieses ist um so klarer und bestimmter, um so mehr

Willensstörungen.
lichkeit geworden ist, bald eher mit dem Herrschen gewisser Leidenschaften,
z. B. der Liebe, der Eifersucht, dem Stolz, der Genussucht, dem Geiz etc., die in
ihren höheren Graden, wenn sie Alles Andere aus der Seele verdrängen, ebenso
das geistige Leben veröden, von denen mehrere auch in ihrem Ausdrucke z. B.
äusserliche Zerstreutheit bei innerlicher Concentration, Ziererei und Lust an äusserem
Prunk, mannigfache Aehnlichkeit mit den entsprechenden Formen des Irreseins haben.

C. Anomalieen des Wollens.
§. 41.

Auch die motorische Seite des Seelenlebens zeigt bei den Gei-
steskranken schwere und mannigfaltige Abweichungen vom mittleren
Zustande der Gesundheit, sowohl auf demjenigen innerlichen Gebiete,
wo deutliches Vorstellen zum bewussten Wollen wird, als auf dem,
wo ein undeutlicheres, aber deshalb nicht unkräftigeres Streben (Trieb)
durch sensitive Eindrücke und dunkle Gemüthsbewegungen erregt wird.

In ersterer Beziehung stehen sich als Extreme die Willenlosig-
keit
und das erhöhte, bis zum Schrankenlosen gesteigerte Wollen
entgegen. — Die Willensschwäche kann aus der Unmöglichkeit, sich
zu entschliessen, hervorgehen und diese in Trägheit des Vorstellens
oder dem Mangel eines gehörig kräftigen Ich, das mit seinen Vor-
stellungsmassen eine schwebende Vorstellung zum Streben determi-
nirte, ihren Grund haben. Diese Zustände äussern sich als höchste
Bedenklichkeit, Unentschlossenheit, Unfähigkeit, die gewohnten Willens-
impulse, z. B. zu den habituellen Geschäften, aufzubringen und sind
in den ersten, melancholischen Stadien des Irreseins sehr häufig.
Andrerseits entsteht Willenlosigkeit (im Blödsinn) aus der Abwesen-
heit klarer Vorstellungen überhaupt; mit dem Denken nimmt auch
das Wollen ein Ende.

Die Willenssteigerung äussert sich als grosse Begehrlichkeit, als
Thatenlust, als Sucht, Plane zu machen, alle Vorstellungen in Be-
strebungen zu realisiren, auch als herrischer Eigensinn und gewalt-
thätiges, heftiges Begehren in bestimmten Richtungen, ähnlich den
consequenten, starken Willensrichtungen der Leidenschaft. Sie er-
scheint — in ersterer Beziehung — entweder als häufige Aeusserung
schwächlicher Velléitäten, oder sie ist wirklich begründet auf ein
Gefühl erhöhter körperlicher und psychischer Kraft, grösserer Rüstig-
keit und auf ein krankhaft erhöhtes Selbstgefühl. Das letztere ist
ganz besonders in der Form des sog. Wahnsinns der Fall.

Ueberhaupt aber bringen jedesmal die krankhaften Gemüths-
bewegungen den ihnen entsprechenden Zustand des Strebens mit
sich, und dieses ist um so klarer und bestimmter, um so mehr

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[61/0075] Willensstörungen. lichkeit geworden ist, bald eher mit dem Herrschen gewisser Leidenschaften, z. B. der Liebe, der Eifersucht, dem Stolz, der Genussucht, dem Geiz etc., die in ihren höheren Graden, wenn sie Alles Andere aus der Seele verdrängen, ebenso das geistige Leben veröden, von denen mehrere auch in ihrem Ausdrucke z. B. äusserliche Zerstreutheit bei innerlicher Concentration, Ziererei und Lust an äusserem Prunk, mannigfache Aehnlichkeit mit den entsprechenden Formen des Irreseins haben. C. Anomalieen des Wollens. §. 41. Auch die motorische Seite des Seelenlebens zeigt bei den Gei- steskranken schwere und mannigfaltige Abweichungen vom mittleren Zustande der Gesundheit, sowohl auf demjenigen innerlichen Gebiete, wo deutliches Vorstellen zum bewussten Wollen wird, als auf dem, wo ein undeutlicheres, aber deshalb nicht unkräftigeres Streben (Trieb) durch sensitive Eindrücke und dunkle Gemüthsbewegungen erregt wird. In ersterer Beziehung stehen sich als Extreme die Willenlosig- keit und das erhöhte, bis zum Schrankenlosen gesteigerte Wollen entgegen. — Die Willensschwäche kann aus der Unmöglichkeit, sich zu entschliessen, hervorgehen und diese in Trägheit des Vorstellens oder dem Mangel eines gehörig kräftigen Ich, das mit seinen Vor- stellungsmassen eine schwebende Vorstellung zum Streben determi- nirte, ihren Grund haben. Diese Zustände äussern sich als höchste Bedenklichkeit, Unentschlossenheit, Unfähigkeit, die gewohnten Willens- impulse, z. B. zu den habituellen Geschäften, aufzubringen und sind in den ersten, melancholischen Stadien des Irreseins sehr häufig. Andrerseits entsteht Willenlosigkeit (im Blödsinn) aus der Abwesen- heit klarer Vorstellungen überhaupt; mit dem Denken nimmt auch das Wollen ein Ende. Die Willenssteigerung äussert sich als grosse Begehrlichkeit, als Thatenlust, als Sucht, Plane zu machen, alle Vorstellungen in Be- strebungen zu realisiren, auch als herrischer Eigensinn und gewalt- thätiges, heftiges Begehren in bestimmten Richtungen, ähnlich den consequenten, starken Willensrichtungen der Leidenschaft. Sie er- scheint — in ersterer Beziehung — entweder als häufige Aeusserung schwächlicher Velléitäten, oder sie ist wirklich begründet auf ein Gefühl erhöhter körperlicher und psychischer Kraft, grösserer Rüstig- keit und auf ein krankhaft erhöhtes Selbstgefühl. Das letztere ist ganz besonders in der Form des sog. Wahnsinns der Fall. Ueberhaupt aber bringen jedesmal die krankhaften Gemüths- bewegungen den ihnen entsprechenden Zustand des Strebens mit sich, und dieses ist um so klarer und bestimmter, um so mehr

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/75>, abgerufen am 26.04.2024.