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Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845.

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der Hallucinationen.
bilder, bald monstruose Spinnen, die nach ihm greifen, um sein Blut zu saugen,
bald Soldaten mit Hellebarden etc. Es wird ein Aderlass am Fuss gemacht; die
Hallucinationen mit hartnäckiger Schlaflosigkeit dauern fort. Man legt eine Binde
über die Augen, sogleich hören sie auf und kehren zurück, sobald die Binde
weggenommen wird, bis sie der Kranke eine Nacht und einen Theil des Tages
ununterbrochen beibehält. Nun sah er die Phantome nur noch in langen Zwi-
schenräumen und nach einigen Tagen verschwanden sie gänzlich; seither blieb
der Mann gesund." (Bulletin de therapeutique. 1842.) Auch Nicoiai's Visionen
verschwanden zuweilen durch Verschliessen der Augen. *)

Man könnte diese Fälle, welche den Hallucinationen bei Blinden widerspre-
chen, als Illusionen auffassen, womit freilich das physiologische Verständniss
derselben nicht viel gefördert ist. Man kann sie als ein central provocirtes Mit-
halluciniren der Retinafläche nach einem von der Phantasie gegebenen Schema
ansehen, was zwar seine Schwierigkeiten hat, aber auch dadurch unterstützt wird,
dass durch die Gesichtsphantasmen hindurch die umgebenden Gegenstände oft wie
durch einen Schleier durchgesehen werden. Dass es Vorstellungen sind,
welche der Sinnesthätigkeit Form und Gestalt geben, zeigt besonders der Um-
stand, dass einzelne Beobachter Hallucinationen willkührlich hervorrufen konnten,
d. h. dass vorher als bewusst vorhandene und lebhaft festgehaltene Vorstellungen
erkennbar erst die Sinnesthätigkeit erregten. (Vgl. Mayer, Physiologie der Ner-
venfaser. Tübing. 1843. p. 237. seqq.). Einzelne Forscher haben die Ansicht
bestritten, dass die Phantasie die Hallucinationen erzeuge, indem sie auf den
Unterschied aufmerksam machten, der zwischen ihnen und den blossen Einbil-
dungen bestehe (Leuret, Hagen); dieser Einwand fällt, indem wir (§. 15.) die
phantastischen Vorgänge als eine, nur verschieden starke Mitthätigkeit der inneren
Sinnesnervenausbreitungen betrachten. Vgl. Müller. l. c. I. 5. -- Auch Lelut
(l. c.) nennt die Hallucinationen ganz mit Recht vollkommene Umgestaltungen
eines Gedankens in meistens äussere Sinneseindrücke, und sehr bezeichnend ist
die Antwort, die ein Melancholischer Esquirol'n gab, der ihm über den Irrthum
bei seinen Gehörshallucinationen Bemerkungen machte: "Mitten in dieser Unter-
redung sagte er zu mir: Denken Sie manchmal? -- Ohne Zweifel. -- Nun
gut, Sie denken ganz leise, und ich, ich denke laut
." **)

Einen interessanten Uebergang jenes dunkeln, blassen Mithallucinirens der
inneren Sinne, welches das Vorstellen im gewöhnlichen Zustande begleitet, zu
den Hallucinationen mit objectiver Deutlickheit haben wir bei einem Kranken
beobachtet, der, ausserordentlich reich an Visionen und sie mit Liebe pflegend,
oft davon sprach, wie manche seiner Erscheinungen nur in Umrissen ohne alle
Farbe, andere in dunklen Schattenbildern, noch andere in lebhaften, den äusser-
lich gegebenen vollständig gleichenden farbigen Bildern bestehen.

§. 48.

Auf solchen leichteren Unterschieden in der Stärke und Deut-
lichkeit der falschen Perceptionen, verglichen mit den objectiven
Sinneswahrnehmungen, mag zum Theil das verschiedene Ver-

*) Vgl. auch Leuret l. c. p. 147.
**) l. c. I. p. 6.

der Hallucinationen.
bilder, bald monstruose Spinnen, die nach ihm greifen, um sein Blut zu saugen,
bald Soldaten mit Hellebarden etc. Es wird ein Aderlass am Fuss gemacht; die
Hallucinationen mit hartnäckiger Schlaflosigkeit dauern fort. Man legt eine Binde
über die Augen, sogleich hören sie auf und kehren zurück, sobald die Binde
weggenommen wird, bis sie der Kranke eine Nacht und einen Theil des Tages
ununterbrochen beibehält. Nun sah er die Phantome nur noch in langen Zwi-
schenräumen und nach einigen Tagen verschwanden sie gänzlich; seither blieb
der Mann gesund.“ (Bulletin de thérapeutique. 1842.) Auch Nicoiai’s Visionen
verschwanden zuweilen durch Verschliessen der Augen. *)

Man könnte diese Fälle, welche den Hallucinationen bei Blinden widerspre-
chen, als Illusionen auffassen, womit freilich das physiologische Verständniss
derselben nicht viel gefördert ist. Man kann sie als ein central provocirtes Mit-
halluciniren der Retinafläche nach einem von der Phantasie gegebenen Schema
ansehen, was zwar seine Schwierigkeiten hat, aber auch dadurch unterstützt wird,
dass durch die Gesichtsphantasmen hindurch die umgebenden Gegenstände oft wie
durch einen Schleier durchgesehen werden. Dass es Vorstellungen sind,
welche der Sinnesthätigkeit Form und Gestalt geben, zeigt besonders der Um-
stand, dass einzelne Beobachter Hallucinationen willkührlich hervorrufen konnten,
d. h. dass vorher als bewusst vorhandene und lebhaft festgehaltene Vorstellungen
erkennbar erst die Sinnesthätigkeit erregten. (Vgl. Mayer, Physiologie der Ner-
venfaser. Tübing. 1843. p. 237. seqq.). Einzelne Forscher haben die Ansicht
bestritten, dass die Phantasie die Hallucinationen erzeuge, indem sie auf den
Unterschied aufmerksam machten, der zwischen ihnen und den blossen Einbil-
dungen bestehe (Leuret, Hagen); dieser Einwand fällt, indem wir (§. 15.) die
phantastischen Vorgänge als eine, nur verschieden starke Mitthätigkeit der inneren
Sinnesnervenausbreitungen betrachten. Vgl. Müller. l. c. I. 5. — Auch Lélut
(l. c.) nennt die Hallucinationen ganz mit Recht vollkommene Umgestaltungen
eines Gedankens in meistens äussere Sinneseindrücke, und sehr bezeichnend ist
die Antwort, die ein Melancholischer Esquirol’n gab, der ihm über den Irrthum
bei seinen Gehörshallucinationen Bemerkungen machte: „Mitten in dieser Unter-
redung sagte er zu mir: Denken Sie manchmal? — Ohne Zweifel. — Nun
gut, Sie denken ganz leise, und ich, ich denke laut
.“ **)

Einen interessanten Uebergang jenes dunkeln, blassen Mithallucinirens der
inneren Sinne, welches das Vorstellen im gewöhnlichen Zustande begleitet, zu
den Hallucinationen mit objectiver Deutlickheit haben wir bei einem Kranken
beobachtet, der, ausserordentlich reich an Visionen und sie mit Liebe pflegend,
oft davon sprach, wie manche seiner Erscheinungen nur in Umrissen ohne alle
Farbe, andere in dunklen Schattenbildern, noch andere in lebhaften, den äusser-
lich gegebenen vollständig gleichenden farbigen Bildern bestehen.

§. 48.

Auf solchen leichteren Unterschieden in der Stärke und Deut-
lichkeit der falschen Perceptionen, verglichen mit den objectiven
Sinneswahrnehmungen, mag zum Theil das verschiedene Ver-

*) Vgl. auch Leuret l. c. p. 147.
**) l. c. I. p. 6.
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[73/0087] der Hallucinationen. bilder, bald monstruose Spinnen, die nach ihm greifen, um sein Blut zu saugen, bald Soldaten mit Hellebarden etc. Es wird ein Aderlass am Fuss gemacht; die Hallucinationen mit hartnäckiger Schlaflosigkeit dauern fort. Man legt eine Binde über die Augen, sogleich hören sie auf und kehren zurück, sobald die Binde weggenommen wird, bis sie der Kranke eine Nacht und einen Theil des Tages ununterbrochen beibehält. Nun sah er die Phantome nur noch in langen Zwi- schenräumen und nach einigen Tagen verschwanden sie gänzlich; seither blieb der Mann gesund.“ (Bulletin de thérapeutique. 1842.) Auch Nicoiai’s Visionen verschwanden zuweilen durch Verschliessen der Augen. *) Man könnte diese Fälle, welche den Hallucinationen bei Blinden widerspre- chen, als Illusionen auffassen, womit freilich das physiologische Verständniss derselben nicht viel gefördert ist. Man kann sie als ein central provocirtes Mit- halluciniren der Retinafläche nach einem von der Phantasie gegebenen Schema ansehen, was zwar seine Schwierigkeiten hat, aber auch dadurch unterstützt wird, dass durch die Gesichtsphantasmen hindurch die umgebenden Gegenstände oft wie durch einen Schleier durchgesehen werden. Dass es Vorstellungen sind, welche der Sinnesthätigkeit Form und Gestalt geben, zeigt besonders der Um- stand, dass einzelne Beobachter Hallucinationen willkührlich hervorrufen konnten, d. h. dass vorher als bewusst vorhandene und lebhaft festgehaltene Vorstellungen erkennbar erst die Sinnesthätigkeit erregten. (Vgl. Mayer, Physiologie der Ner- venfaser. Tübing. 1843. p. 237. seqq.). Einzelne Forscher haben die Ansicht bestritten, dass die Phantasie die Hallucinationen erzeuge, indem sie auf den Unterschied aufmerksam machten, der zwischen ihnen und den blossen Einbil- dungen bestehe (Leuret, Hagen); dieser Einwand fällt, indem wir (§. 15.) die phantastischen Vorgänge als eine, nur verschieden starke Mitthätigkeit der inneren Sinnesnervenausbreitungen betrachten. Vgl. Müller. l. c. I. 5. — Auch Lélut (l. c.) nennt die Hallucinationen ganz mit Recht vollkommene Umgestaltungen eines Gedankens in meistens äussere Sinneseindrücke, und sehr bezeichnend ist die Antwort, die ein Melancholischer Esquirol’n gab, der ihm über den Irrthum bei seinen Gehörshallucinationen Bemerkungen machte: „Mitten in dieser Unter- redung sagte er zu mir: Denken Sie manchmal? — Ohne Zweifel. — Nun gut, Sie denken ganz leise, und ich, ich denke laut.“ **) Einen interessanten Uebergang jenes dunkeln, blassen Mithallucinirens der inneren Sinne, welches das Vorstellen im gewöhnlichen Zustande begleitet, zu den Hallucinationen mit objectiver Deutlickheit haben wir bei einem Kranken beobachtet, der, ausserordentlich reich an Visionen und sie mit Liebe pflegend, oft davon sprach, wie manche seiner Erscheinungen nur in Umrissen ohne alle Farbe, andere in dunklen Schattenbildern, noch andere in lebhaften, den äusser- lich gegebenen vollständig gleichenden farbigen Bildern bestehen. §. 48. Auf solchen leichteren Unterschieden in der Stärke und Deut- lichkeit der falschen Perceptionen, verglichen mit den objectiven Sinneswahrnehmungen, mag zum Theil das verschiedene Ver- *) Vgl. auch Leuret l. c. p. 147. **) l. c. I. p. 6.

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Zitationshilfe: Griesinger, Wilhelm: Die Pathologie und Therapie der psychischen Krankheiten, für Ärzte und Studierende. Stuttgart, 1845, S. 73. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/griesinger_psychische_1845/87>, abgerufen am 26.04.2024.